Zweiter Zwischenbericht
über Recherchen in den Fragmenten des Hellmut Wolfram]
(Das folgende Fragment, auf das ich bei den Vorarbeiten für meine Abschlußarbeit zum Erwerb der Würde einer literarisch-erotischen Diplom Haushaltshilfe stieß, bezieht sich zwar nicht auf die Themenkomplexe Dienstmädchen”, “Schürzen” oder “Tanten” – dürfte aber vermutlich gerade für Freundin Jula von Interesse sein, weil es etwas Licht auf den “Kipp-Zeitpunkt” bzw. dessen Ereignis-Vorfeld wirft, den sie in ihren Bemerkungen vom 8. November anspricht.
Margot Trugmaid, Diplomkandidatin

Wenn man aus den Fragmenten Biographisches entnehmen will, stößt man immer wieder auf das gleiche Problem: wenn der Mann doch bloß nicht so creativ wäre! Erst mal stellt er alles jedesmal in einen – zwar ihm, aber keineswegs stets dem bedauernswerten Leser, klaren – größeren Handlungsrahmen, den er meist aber gar nicht zuende führt, weil er das Fragment schon vorher abbricht
(das ist in diesem Fall, wie sich allmählich abzeichnet, offenbar die durchaus originelle Idee, den Sohn eines Vaters, der wegen transvestitischer Neigungen von der ganzen Familie als “sozusagen für sie gestorben” erklärt wurde, Schritt für Schritt die Wahrheit (und seine eigene analoge Veranlagung) entdecken zu lassen – vermutlich mit einem grandiosen Finale, das Sohn und Vater als “Mutter und Tochter” vereinen wird?und andererseits kann er, wo er auf irgendein Erinnerungs-Detail stößt, selten der Versuchung widerstehen, nun “zum Knopf den ganzen Anzug zu schneidern”, indem er das nach allen denkbar-möglichen Entwicklungsrichtungen ausweitet: so daß man selten weiß, was “wirklich passiert” ist – und was nur “hätte passieren können”!

Glücklicherweise kann man – da der Autor ja noch zu Interviews zur Verfügung steht – versuchen, von ihm zu erfahren, was denn nun was sei:
ich gebe aber erst einmal den unkommentierten Text – um die Resultate meiner Nachfragen später in einem “Nachwort” zusammenzufassen.
Der Titel der ganzen Story, deren Beginn dies Fragment werden sollte, war:

Der Gürtel der Aphrodite

1.Kapitel: Das Album

In den Schriften der Uneingeweihten wird oft großes Aufheben darum gemacht, ob wir als Kind lieber mit Puppen oder mit Soldaten gespielt, öfter in der Küche oder in der Werkstatt geholfen oder eher Jungen oder Mädchen als Spielgefährten gesucht hätten.

Darüber kann ich heute nur lächeln: das ist nicht die Art, wie die Große Göttin uns auserwählt…

Für mich zum Beispiel war bis zu meinem sechsten Lebensjahr die Welt ebenso einfach und wohlgefügt, wie sie – etwa mit den Augen einer unserer modernen Emanzipations-Predigerinnen gesehen – „typisch männlich“ war: ich war zwar – das sah ich schon ein – noch klein; aber wenn ich groß war, würde ich einen ebenso aufregenden wie schmutzigen Beruf ergreifen – Traktorfahrer oder Lokomotivführer oder Schleppkahnschiffer – und meine Nanna heiraten. Die würde dann zwar meist allein zuhause sitzen, während ich in der Welt herumfuhr und Geld verdiente – aber ein oder mehrere Kinder kriegen, damit sie sich nicht langweilte, und mir jedenfalls gutes Essen kochen und die Strümpfe stopfen, wenn ich zwischendurch mal nach Hause kam.

Bis das allerdings so weit war, mußte ich mich den für kleine Jungen geltenden Regeln auf der Welt fügen, wie: sich vor dem Essen die Hände waschen, früh genug zu Bett gehen, Spinat essen, der .mir zwar nicht schmeckte, einen aber groß und stark machte und so weiter – was sich aber alles, angesichts so klarer und erfreulicher Zukunftsaussichten, ertragen ließ: zumal der erste konkrete Schritt auf diesem Wege – nämlich: in die Schule zu kommen – immer näher rückte.

Mädchen und ihre Angelegenheiten – insbesondere „kleine“ Mädchen, also solche etwa meines Alters — interessierten mich zu dieser Zeit außerordentlich wenig. Erstens einmal hatte ich ja meine Nanna, die sehr viel größer, hübscher und vernünftiger war als all diese – mir sowieso nur ziemlich selten auf Spielplätzen oder im Zoo begegnenden – etwas gezierten, aufgeputzten und meinem Gefühl nach ziemlich albernen Wesen; andererseits muß ich damals noch unter dem Eindruck einer Erklärung des Unterschieds zwischen Mädchen und Jungen gestanden haben, die mir „Oma“ entweder sehr ungeschickt gegeben – oder die ich bemerkenswert falsch verstanden hatte:

Jedenfalls kamen, soweit ich das heute noch rekonstruieren kann, meiner damaligen Meinung nach Kinder in einer einheitlichen Standardausführung auf die Welt – wurden dann in den ersten Lebensmonaten von ihren Eltern nach körperlichen Merkmalen, wie Größe, Kraft und unter anderem auch Ausbildung ihres „Spätzchens“, begutachtet – und danach entweder in Mädchenkleidern als Mädchen oder in Hosen als Jungen aufgezogen.

Danach war es verständlich, daß ich es fast als peinlich empfand, mich mit solchen – offensichtlich von ihren eigenen Eltern als unvollkommen eingestuften – Geschöpfen näher einlassen zu müssen: so starrte ich etwa, als ich einmal statt mit meiner Nanna mit einem fremden kleinen Mädchen in eine Karussellkutsche steigen mußte, die ganze Fahrt über gequält und kühl aus deren Fenster, ohne es eines Wortes zu würdigen. Ebenso peinlich – wenn nicht noch schlimmer – wäre es für mich gewesen, mich etwa öffentlich in einem Kleidungsstück zu zeigen, das etwa auch nur entfernt dem Eindruck hätte erwecken können, ich sei kein Junge: als uns einmal in der Stadt ein Gewitter überraschte und man auf die naheliegende Idee kam, mir rasch ein buntes Regencape zu kaufen, lehnte ich dies mit eisiger Würde ab – in einem solchen Cape, meinte ich, könne man mich ja für ein Mädchen halten!

Völlig anders – und wer diesen „doppelten Standard“ für unfaßbar hält, beweist nur, daß er seine eigenen Vorurteile noch nie nüchtern logisch überprüft hat! – war natürlich meine Einstellung zu meiner Nanna und zu großen, „richtigen“ Frauen überhaupt: das nun waren Wesen, die alles Hübsche, Zärtliche, Angenehme und Weiche in der Welt – das ja offenbar von Traktorfahrern oder Schleppkahnschiffern nicht gepflegt werden konnte – zu bieten und darzustellen hatten; die bunte, zarte und komplizierte Kleidungsstücke zu tragen hatten, die für Männer viel zu empfindlich gewesen wären – sich Lippen, Augenlider und Fingernägel bemalen durften (wiederum etwas, das naheliegenderweise für einen öligen, rußigen Lokomotivführer nicht in Frage kam) – gut nach Blumen oder Marzipan rochen und an Brust und Hüften weiche und angenehme Rundungen zeigten.

All das mußte so sein – denn wir Männer hätten ja all diese zweifellos hübschen und erfreulichen Dinge nicht bieten können – und ich war durchaus stolz darauf, daß meine Nanna in jeder Beziehung (dafür hatte ich damals bereits einen erstaunlich scharfen Blick!) diese Aufgabe der Frau in der Welt besonders gut erfüllte: so stolz, daß es mich – im vollen, sicheren Bewußtsein meiner älteren Rechte – auch überhaupt nicht störte, wenn große, erwachsene Männer sie, während sie mit mir spazieren ging, ansprachen oder auch begleiteten (zumal diese Männer dann ja auch immer sehr nett und kameradschaftlich zu mir waren).
Daß – und auf welche Art – solche großen, schönen Frauen aus den kleinen, ziemlich verächtlichen Mädchen wurden: das war ein Problem, über das ich damals überhaupt keinen Gedanken verlor. Für mich gab es im Prinzip nur zwei Welten: die große, aufregende und interessante Welt der Erwachsenen – und die weitaus weniger interessante, mit zahlreichen nicht immer angenehmen, aber verständlichen Einschränkungen versehene Welt der Kinder, und mein wichtigstes Anliegen schien zu sein, möglichst bald aus dieser Welt in die Welt der Erwachsenen vorzustoßen; daß diese Welt nicht auf mich warten würde – oder daß andere Kinder gleichzeitig mit mir erwachsen werden könnten, waren Gedanken, auf die ich damals überhaupt nicht kam.

Demzufolge galt auch das, was ich über den Unterschied von „kleinen“ Jungen und Mädchen wußte, für mich zunächst überhaupt nicht in Bezug auf erwachsene Männer und Frauen: da waren ja nun die Unterschiede in Aussehen, Verhalten und Tun so offensichtlich, daß ich überhaupt nicht auf die Idee gekommen war, nach ihren Hintergründen zu fragen! Arg verwirrt wurde ich da nur mal im Karneval, als ich bei einem Umzug auf einem Wagen neben anderen Masken ein paar richtiggehend hübsche, geschminkte Mädchen in bunten Kleidern sah – und aus Bemerkungen der Erwachsenen entnahm, das seien „in Wirklichkeit“ junge Männer.

Über dieses Problem dachte ich abends im Bett noch lange nach: wenn es so war, daß der Unterschied zwischen Jungen und Mädchen von den Eltern durch die Wahl der Kleidung festgelegt wurde, dann entbehrte die Aussage, jemand sei „in Wirklichkeit“ etwas anderes, als seine Kleidung auswies, doch des Sinns? Oder meinten sie, daß diese jungen Männer „in Wirklichkeit“ Hosen unter den langen Mädchenröcken getragen hatten? Das ließ aber immer noch die Frage offen, warum sie auch lange Frauenlocken und richtig runde Busen unter den Miedern gehabt hatten…

Oder konnte man vielleicht später auf eigene Faust die frühere Entscheidung der Eltern noch einmal abändern – ähnlich, als wenn jemand, der nach dem Willen seiner Eltern Lehrling beim Kolonialwarenhändler werden sollte, plötzlich davonlief und Schiffsjunge wurde? Das brachte aber erhebliche Unsicherheit in die ganze, bisher doch sehr übersichtlich scheinende Welt der Erwachsenen!

Schließlich – nachdem ich ähnliche seltsame Fälle mit neu geweckter Aufmerksamkeit beobachtet hatte (selbst meine Nanna hatte doch zu einem Karnevalsfest mal Männerkleidung angezogen!) – einigte ich mich mit mir selbst auf folgende Lösung: Neben der offiziellen Ordnung der Welt, in der natürlich Männer Männer mit Hosen und Frauen Frauen mit Röcken waren, gab es offenbar gewisse Ausnahme-Situationen – wie Karneval, wo sich sowieso alle Leute seltsam maskierten, Theaterstücke, wo ja auch kleine Jungen taten, als seien sie Prinzen oder Zwerge, Zirkus oder Varieté – wo sich jemand au auch als „falsche“ Frau oder als „falscher“ Mann kleiden und benehmen konnte. Das war natürlich immer noch ein Verstoß gegen die wirkliche, festgelegte Weltordnung und gab somit keineswegs das Recht dazu, nun auch etwa die tatsächlichen Rechte eines solchen Wesens zu beanspruchen – im Gegenteil mußten solche Leute meist in irgendwie lächerlicher Weise „aus der Rolle fallen“, etwa die falschen Locken verlieren, in Wassereimer fallen, ohne Rock oder Hose dastehen oder dergleichen. Dumm war nur, wer die Verkleidung vorher nicht entdeckt hatte – weshalb ich von da an alle Personen in Karnevalszügen, Clownsnummern oder ähnlich verdächtigen Situationen mit besonderem Mißtrauen in Bezug auf ihr Geschlecht betrachtete.
Doch kaum hatte ich auf diese Weise mein Bild der Welt wieder in Ordnung gebracht, als diese ganze Welt – in einem Umfang, der alle bisherigen Probleme winzig und unwichtig erscheinen ließ – um mich »zusammenbrach:

Meine Nanna verlobte sich mit einem fremden Mann. Zuerst wollte ich das überhaupt nicht glauben; denn sie hatte mir ja oft genug versprochen, daß sie später, wenn ich groß sei, mich heiraten werde. Doch dann (offenbar, als sie merkte, wie ernst ich die ganze Sache nahm) begann sie mir, von Oma unterstützt, eine Erklärung zu geben: die Regierung – so müsse ich, immerhin schon ein großer Junge, verstehen – habe angeordnet, daß Brüder ihre Schwestern nicht mehr heiraten dürften; das sei, wie eben so vieles auf der Welt, nicht mehr erlaubt. Und trotz großer Trauer darüber (die ich freilich Nanna nicht angemerkt hatte!) habe sie sich nun, da ja ein Mädchen schließlich irgendjemand heiraten müsse, entschlossen, den mir ja immerhin seit langem als sehr nett bekannten Martin zu heiraten. Ich hingegen werde sicher später auch ein sehr hübsches und liebes Mädchen zum Heiraten finden, wenn ich groß sei.

Äußerlich nahm ich diese Erklärung scheinbar mit Verständnis und Würde auf. Aber für mich allein brauchte ich lange Zeit, um all das zu verdauen: Zunächst einmal war mein ganzer, so übersichtlich und erfreulich ausgelegter Lebensplan zusammengebrochen. Statt lediglich erwachsen zu werden und dann sofort eine vertrauenswürdige, wohlbekannte Frau zur Hand zu haben, würde ich da irgendeine wildfremde Person suchen müssen – und zwar, das wurde mir mit Schrecken klar, aus den Reihen dieser albernen kleinen Mädchen, mit denen ich bisher nicht das Geringste im Sinne gehabt hatte! Die Aussichten, da etwas zu finden, was auch nur entfernt meiner Nanna gleichkam, erschienen mir ehrlich gesagt sehr düster.

Aber selbst meine Nanna hatte mich ja schwer enttäuscht. Wenn sie sich etwas mehr beeilt hätte – oder ich etwas früher erwachsen geworden wäre – hätten wir uns noch vor diesem folgenschweren Regierungsedikt heiraten können: oder war dieses Edikt überhaupt so neu? Hatte sie vielleicht schon vorher davon gewußt – und sich schon heimlich diesen Martin gesichert? Oder – noch schrecklicherer Gedanke – hatte sie diesen Martin etwa lieber als mich? Natürlich war er sehr nett, und schon erwachsen, und viel größer und stärker als ich – aber all das, und mehr, hätte ich ja später auch bieten können (er war noch nicht einmal Traktorfahrer oder sonst etwas Aufregendes, sondern arbeitete in einen Büro – wo er anscheinend nichts weiter tat, als allerhand Papier vollzuschreiben!).

Genau in diese erste Krise meines Selbstbewußtseins fiel nun die zweite: ich kam zur Schule – und dort war auch alles völlig anders, als ich mir das vorgestellt hatte.
Ich war der Meinung gewesen, daß alle anderen Jungen – gleich mir – als Hauptzweck in ihrem Leben sahen, möglichst bald erwachsen zu werden: und dementsprechend die Schule als ein höchstwillkommenes Mittel dazu begrüßen würden. In Wirklichkeit schien ich in eine wilde Horde von Dummköpfen und Grobianen geraten, die alles mögliche im Kopf hatten, nur nicht, erwachsen zu werden!

Statt die Lehrer – \wie das für mich selbstverständlich erschienen war – als erwünschte Vermittler von interessantem Wissen zu begrüßen, schienen sie vor ihnen entweder Angst zu haben, oder sie für Störenfriede zu halten. Statt die Unterrichtsstunden für wichtig und die Pausen für störende Unterbrechungen zu halten, behandelten sie die Dinge gerade umgekehrt. Und was das Schlimmste war: die Lehrer selbst schienen das für völlig in der Ordnung zu halten!

Für mein Empfinden war die Schule zwar nichts Wunderbares, aber so etwas ähnliches wie ein Zahnarzt: wenn man gesunde Zähne haben wollte, mußte man zu ihm hingehen – und er guckte sich schnell, aber gründlich die Zähne an, hakte und bohrte ein wenig (aber nur dann, wenn man etwas falsch gemacht hatte) und entließ einen wieder mit guten Ratschlägen, wie man die Zähne weiter pflegen sollte (was zwar weder angenehm noch interessant war, aber notwendig). Warum zum Teufel arbeiteten Schüler und Lehrer nicht auch so?

Ich wollte überhaupt keine Osterhasen malen – sondern schreiben und rechnen lernen, weil man das als Erwachsener können mußte. Warum brachten mir die Lehrer das nicht so schnell und gründlich wie möglich bei? Und warum interessierten sich die Mitschüler weder fürs Schreiben, noch Rechnen, noch fürs Osterhasenmalerei, sondern für Balgereien im Schulhof oder sonstiges dummes Zeug (das konnten sie doch alles machen, wenn die Schulzeit vorbei war!)?

Daß mich die anderen bald „Streber“ und „Musterschüler“ schimpften, trug ich erst noch mit Fassung – die waren halt blöd und merkten nicht, daß die einfachste Art, mit der Schule fertigzuwerden, doch sein mußte, alles Notwendige so schnell wie möglich zu lernen. Aber völlig verstört wurde ich, als mich ausgerechnet der Lehrer, den ich am meisten bewunderte, in der Pause, als ich noch in der Klasse rasch mein Pensum wiederholen wollte, ansprach und mit den Worten hinausschickte, ich solle doch auch mal so sein wie die anderen Jungen!

War denn alles, was ich mir vorgenommen hatte, verkehrt? War es denn nicht das Wichtigste, in der Schule das zu lernen, was man später als Erwachsener brauchte? Oder – noch schlimmer: war es vielleicht ein Schwindel, daß man auf diese Art erwachsen werden konnte? Hatten die Erwachsenen vielleicht vor, uns alle zusammen überhaupt nicht in ihre Welt hineinzulassen? Nahmen sie deswegen ihre Aufgabe als Lehrer so lasch – freuten sie sich deswegen, wenn die anderen alles mögliche dumme Zeug trieben, statt zu lernen – und hatte deswegen auch meine Nanna es überhaupt nicht ernst genommen, mich später zu heiraten?!

Natürlich waren diese bestürzenden Gedanken mir damals in keiner Weise etwa so klar, wie ich das heute formuliere: schließlich waren das alles ja auch emotionelle Erschütterungen für einen Sechseinhalbjährigen, die – in einer entsprechenden Situation – selbst für einen Erwachsenen gereicht hätten:
denken wir etwa zum Vergleich an einen jungen Rittersmann, der bisher – dank der Lehren von Kirche und Familie – sein künftiges Leben immer so gesehen hat: er werde nach Jerusalem ziehen, dort in Heldentaten das Heilige Grab aus den Händen der Heiden befreien, dann – siegreich zurückgekehrt – das ihm von Kindheit an versprochene Ritterfräulein ehelichen und mit ihr glücklich bis ans Ende seiner Tage leben; der nun aber, aufgebrochen, schon unterwegs von der Nachricht erreicht wird, seine Braut habe ihn wegen eines reichen alten Kaufherrn verlassen – und überdies noch, im Kreuzfahrerlager angekommen, feststellen muß, daß die Ritter dort Würfeln, Saufen und persönliche Fehden für weitaus wichtiger halten als das ganze Heilige Grab – wobei ihm Priester und Anführer nahelegen, sich möglichst genau so zu benehmen!

Man könnte sich vorstellen, daß er darauf – wenn zart besaitet -Selbstmord begeht; daß er – wenn etwas vitaler – sich erstmal sinnlos betrinkt; oder – wenn ihm dazu Gelegenheit geboten wird – in die seltsame Brüderschaft Baphomets eintritt.

Ich jedenfalls – nicht Ritter, sondern Schulbub – tat etwas, das (aus heutiger Sicht) ein wenig von allen drei Möglichkeiten enthielt, und worin ich in den folgenden Jahren eine gewisse unbewußte Routine entwickelte: ich wurde krank.

Krank zu sein, hatte ein wenig von der Selbstvernichtung, aber auch von jener Wirkung auf die Umwelt, wie der Selbstmord: man rückte plötzlich wieder sehr in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit (selbst meine Nanna saß abends wieder oft stundenlang an meinem Bett), alle benahmen sich etwas schuldbewußt und rücksichtsvoll – und man litt andererseits auch echt, weshalb man all diese Dinge guten Gewissens über sich ergehen lassen konnte.

Aber es hatte zugleich auch etwas vom Selbstvergessen, von der Bewußtseinsveränderung eines Rausches: in hohem Fieber sahen alle gewohnten Dinge auf einmal anders, fremdartig, bedrohlich, aber auch interessant aus – die Lampe, die Zimmerdecke, die Blumen auf Nannas buntem Morgenrock – und es kamen einem seltsame, manchmal beängstigende, manchmal erregende Gedanken oder Träume.

Und schließlich hatte man sehr viel Ruhe und Zeit, um ganz mit sich selbst allein Überlegungen, Tagträumereien und Gefühlen nachzuhängen. Natürlich fehlte mir damals jeglicher Schlüssel, der mich in die Mysterien der GROSSEN GÖTTIN oder die Lehren Baphomets eingeführt hätte – auch wäre es vermessen, wollte ich heute noch behaupten, ich könne wiedergeben, was mir in jenen langen Stunden des Krankenlagers alles durch den Kopf ging: aber sicher scheint mir, daß ich in jenen Tagen den Grund für alles Spätere legte.

Schwerlich kann ich damals bereits dazu in der Lage gewesen sein, etwa klar und überzeugt eine Erkenntnis zu fassen wie: alle haben Dir bis jetzt die Welt ganz anders geschildert, als sie wirklich ist – und Dich damit ganz schön in die Irre geführt! Aber wenn es nicht die Erkenntnis war, so hatte ich zumindest das eine solche Erkenntnis notwendig begleitende Gefühl; ein merkwürdiges, mit einer gewissen Art des Fieberbewußtseins einhergehendes Erlebnis, auf einmal alles Gewohnte und Vertraute, ja sogar mich selbst wie aus einer neuen Dimension, von hoch oben oder von der bisher unbekannten Rückseite aus zu sehen – beängstigend, aber auch irgendwie faszinierend in seiner Neuartigkeit und ungeahnten Freiheit!

Nun kann man sich an ein solches, vielleicht nur in einem Ausnahmezustand des Bewußtseins mögliches Erlebnis später nicht echt wieder erinnern – zumal die Idee, für die es stand, für mich damals natürlich viel zu gewaltig war: daß ich mich nämlich auf nichts und niemand in meiner bisherigen Welt verlassen dürfe, sondern sie ganz und gar neu und nur auf mich selbst gestellt begreifen und bewerten müsse!

So blieb denn auch zunächst nichts weiter zurück als eine – scheinbar kaum verknüpfte – Reihe seltsamer Denkmöglichkeiten oder Tagträume, die mich von da an immer wieder beschäftigten; abstoßend, aber auch eigentümlich aufregend:
Daß es mitten in der alltäglich vertrauten Wand eines Zimmers eine geheime Tür geben könne, von der niemand etwas wußte, die sich aber plötzlich irgendwann öffnen könne … daß ein Ort oder ein Land, von dem alle Erwachsenen wie selbstverständlich sprachen, vielleicht in Wirklichkeit gar nicht existiere, sondern nur eine von allen gemein¬sam erdachte und immer wiederholte Lüge sein möge … daß man jemand eine schöne, bunt eingewickelte Schachtel schenken könne, die gar nichts – oder etwas höchst Abscheuliches enthielte … daß ein Sofa vielleicht ein Tier sei, das tagsüber immer schlafe, aber nachts, wenn niemand im Zimmer war, anfange, umherzukrabbeln … oder daß man zu jemand besonders lieb und nett tun könne, während man ihm heimlich einen bösen Streich spiele …

Nicht etwa, daß ich nun dergleichen wirklich geglaubt oder getan hätte: im Gegenteil – zum Beispiel war ich fast ängstlich bemüht, am ersten April nur ja keinen Scherz zu machen, der jemand eine echte Enttäuschung bereitet hätte – aber es faszinierte mich, mir ungeheuerliche Möglichkeiten auszumalen, wie man jemand bei einer solchen Gelegenheit hätte verletzen oder enttäuschen können! Doch dergleichen behielt ich, sogar dem bloßen Gedanken nach, stets völlig für mich.

Wenn ich jetzt etwas baute, enthielt es ebenso meist eine geheime Einzelheit – etwa einen Baustein, der beim Herausziehen das ganze Gebäude zum Einsturz gebracht hätte, oder eine Falltür, die in ein unterirdisches Verlies führte: aber mir genügte es völlig, um diese verborgenen Möglichkeiten zu wissen – ohne daß ich nun etwa wirklich den Stein herausziehen oder die Falltür öffnen mußte …

In Geschichten oder Zeitschriften, die man mir vorlas oder die ich, in den nächsten Jahren, immer begieriger selbst zu lesen begann, fesselten mich ganz ähnliche Dinge: Geheimfächer oder geheime Gänge, Spione oder Verräter, die äußerlich etwas ganz anderes vorgaben, als sie wirklich vorhatten. Die Insel, auf der Sindbads Gefährten landeten, und die sich später als der Rücken eines gewaltigen Walfischs erwies – Detektive oder Meisterverbrecher, die ihre Umwelt durch raffinierte Maskeraden täuschten – rätselhafte Inschriften, deren Sinn niemand kannte, und versunkene Ruinenstädte, von denen keiner etwas ahnte – nicht zuletzt auch jene seltsamen Fälle, in denen sich ein schönes Mädchen als verkleideter Mann oder Junge entpuppte!

Rein äußerlich hatte übrigens meine Krankheit eine für mich durchaus erfreuliche Entwicklung gebracht: erst einmal sah es so aus, als habe ich durch die verlorene Zeit in der Schule hoffnungslos „den Anschluß verpaßt“ – und das gab den Anlaß dafür, mir von einem alten pensionierten Rektor (von dem ich heute vor allem noch weiß, daß er seltsam säuerlich aus dem Hals roch, wenn ich ihm gegenübersaß) „Nachhilfestunden“ geben zu lassen. Und die waren nun endlich das, worauf ich eigentlich ausgewesen war: staubtrocken und mühselig zwar, aber hochkonzentriert auf ABC und Einmaleins – die ich erst verbissen, dann, den Fortschritt spürend, mit immer wachsender Freude meisterte.

Anschließend schickte man mich – ich glaube, auf Empfehlung des alten Rektors – auf eine Privatschule, in deren Klassen Jungen und Mädchen zusammen unterrichtet wurden (wobei die Jungen in meiner Klasse aus irgendeinem Grund nur ein Drittel der Schüler ausmachten). Von früheren Erfahrungen her hatte man zwar halb und halb damit gerechnet, daß ich bei der Vorstellung, mit Mädchen zusammen in einer Klasse sitzen zu müssen, wieder in entrüsteten Protest ausbrechen würde: aber das war – zur gelinden Überraschung aller – überhaupt nicht so.

Sei es nun, daß sich meine Einstellung zu Mädchen überhaupt geändert hatte – oder daß ich Schulmädchen für akzeptabler hielt als früher „kleine“ Mädchen – oder auch nur, daß ich die erheblich ruhigere Atmosphäre solch einer überwiegend aus Mädchen bestehenden Klasse nach meinen unangenehmen Erfahrungen auf der Jungenschule zu schätzen wußte: jedenfalls gab es diesmal überhaupt keine Probleme – sondern sogar, nach einigen Wochen der Eingewöhnung, ganz normale Beziehungen sowohl zu den Jungen wie den Mädchen.

Die Jungen – in der Minderzahl (und überdies wohl von zuhause etwas besser erzogen als der Durchschnitt meiner früheren Mitschüler) – hielten mit einem gewissen Korpsgeist zusammen, der sich allerdings weniger auf Pausenunfug als auf den Wettstreit der Schulleistungen bezog; die Mädchen andererseits, als Masse auftretend, waren zwar unserer geschlossenen Meinung nach erheblich alberner und viel mehr auf unwichtigen Krimskrams wie Zopfspangen oder saubere Schürzchen bedacht – aber im großen und ganzen doch (für Mädchen) wenigstens Mitschüler, deren man sich als Junge nicht gerade zu schämen brauchte.

Anfangs hatte ich zwar zuweilen einen ziemlich hilflosen Zorn auf sie, wenn einige von ihnen sich ausgesprochen unfair benahmen (was soll man denn machen, wenn einen jemand dauernd an den Haaren zerrt und sich dann, wenn man wiederzerren will, auf die Position „Pfui, du ziehst ein Mädchen an den Haaren!“ zurückzieht?) – aber als mich die Lehrerin, auf meinen tränenvollen Protest über solche Ungerechtigkeit, kurz dahin beschied, Jungen heulten über so etwas nicht, sondern ertrügen es im Bewußtsein ihrer sonstigen Überlegenheit still, akzeptierte ich diese Spielregeln schließlich auch.

Im Laufe der Zeit gewann ich sogar einige echte Bewundrerinnen unter meinen Mitschülerinnen, weil ich – aus meiner ohnehin reichen und durch Verschlingen aller möglichen Bücher genährten Phantasie – in Schulpausen oder bei gelegentlichen Einladungen die abenteuerlichsten Handlungen in Gang setzen konnte: etwa, eine Herde zitternder Millionenerbinnen aus den Fängen imaginärer Gangster zu retten, wobei man sich wunderbar atemlos durch Hecken oder auch nur durch ein – angeblich von drei Maschinengewehren überwachtes – Wohnzimmer schleichen mußte, oder Blaubarts Gattinnen vor ihrem grausigen Schicksal zu bewahren (wobei ich, wenn ich das recht in Erinnerung habe, ein edler Tempelritter war, der den Henker erschlagen hatte und jetzt unter dessen schützender Kapuze – einem mit Sicherheitsnadeln zusammengesteckten roten Kopftuch – im Hause des Ungeheuers herumoperierte).

Wie diese Beispiele schon zeigen, spielte ich zwar gern mit Mädchen – aber wohl mehr aus dem doppelten Grunde, weil sie viel williger und mit mehr Talent meinen phantasievollen Anregungen folgten und zudem meist viel besser in die Handlung paßten (schließlich hatte Blaubart sieben Frauen, während sieben Jungen mit einigermaßen befriedigenden Rollen zu versehen kaum selbst bei Schulaufführungen gelang!); ich persönlich bevorzugte jedoch immer die Rolle eines – wenn möglich geheimnisvolle und komplizierte Listen benutzenden – Helfers und Retters, gelegentlich teilnehmenden anderen Jungen großzügig die Parts edler Prinzen und Helden überlassend, sofern ich. nur der rätselhafte Alte vom Berge oder der listenreiche Odysseus sein konnte. Daß meine Spiele umgekehrt bei den Mädchen beliebt waren, lag wohl nicht zuletzt daran, daß sie selten so „schöne Rollen“ fanden wie bei mir: ich hatte nicht nur nichts dagegen, wenn sich die furchtzitternden Millionenerbinnen über ihre perlenbestickten Roben, Nerze und Brillanten zuhause unterhielten oder Prinzessinnen einander in Blaubarts Verlies heroisch die Haare kämmten – sondern verlangte solche ultrafemininen Details geradezu kategorisch von meinen Mitspielerinnen!

Wenn irgendjemand dabei auf die Idee kam, im Spiel sein Geschlecht zu wechseln, war es häufiger eine der temperamentvolleren Darstellerinnen, die zum jungen Prinzen oder Knappen avancieren wollte, weil es dabei mehr zu schleichen oder zu befreien gab (wobei ich ihnen allerdings grundsätzlich anheimstellte, daß sie heldenhafte Mädchen sein könnten, die sich nur als Jünglinge verkleidet hätten). Eigentlich kann ich mich nur an einen Fall erinnern, in dem ich auch den Mantel eines der Mädchen anzog – und zwar, um irgendwelche bösen Gangster darüber hinwegzutäuschen, daß die echte Erbin (oder Tochter des großen Erfinders, oder was immer damals gerade die verfolgte Heldin war) bereits längst aus dem Gefängnis entwichen sei. Meine Partnerin nahm allerdings diese Idee ungeheuer ernst und gründlich und half mir nicht nur in ihren hübschen pelzbesetzten Mantel, sondern band mir auch noch ein Kopftuch um, zupfte mir verschiedene Haare als Locken in die Stirn und schmierte mir sogar – in einem kühnen Versuch des make-up – den Mund mit den Lippenstift ihrer großen Schwester knallrot.
Das selbige Schwester ausgerechnet in diesem Augenblick dazukam, .mich erst überhaupt nicht erkannte und dann höchst amüsiert feststellte, „der Bub gäbe ja ein hübscheres Mädchen ab als Du!“ machte zwar meiner Helferin größtes Vergnügen – veranlaßte mich aber, sie mit finsteren Schwüren zu ewigem Schweigen über diese Episode zu verpflichten, die (wie ich wohl nicht zu Unrecht annahm) dem Image des Grünen Mönchs – oder welch anderer geheimnisvoller Retter verfolgter Unschuldiger ich dabei gerade war – nicht bei allen anderen Mitspielern förderlich gewesen wäre.

Tatsache blieb nämlich, daß ich – trotz all meiner abenteuerlichen Ideen – körperlich nicht gerade den idealen Helden abgab: ich war blaß und schmächtig, hatte recht kleine, zarte Hände und Füße und machte in der Schule nicht einmal bei allen Turnstunden mit, weil der Arzt allerlei Knochen- oder Muskelschwächen an mir entdeckt hatte. Bei kritischeren Rettungssituationen in meinen „Schauspielen“ wußte ich allerdings solche Dinge geschickt zu kaschieren, indem ich etwa – aus lauter Rücksicht auf die zu rettenden zarten Mädchen – ebenfalls den weniger strapaziösen Weg über eine Mauer oder durch ein Gebüsch wählte oder überhaupt zurückblieb, „um die Verfolger aufzuhalten“. Da die Bösewichte in allen meinen Kompositionen imaginär waren (was übrigens niemand störte, wenn er anstattdessen eine schöne Rolle unter den „Guten“ bekam!), hatten solche heldenhaften Entschlüsse wenig reales Risiko!

Kritisch betrachtet, ging es wohl weniger darum, daß ich eigentlich Angst vor einer echten Balgerei gehabt hätte – aber solche. Dinge, deren Ausgang immer unsicher schien, paßten einfach nicht in meine künstlerische Konzeption: wenn der Graue Schatten laut Drehbuch die drei Verfolger niederzuschlagen hat, ist es nicht zweckmäßig, daß er sich wirklich mit ihnen herumprügelt und dabei möglicherweise selbst niedergeschlagen wird – und ehe man drei Mitspielern zumuten konnte, bloß so zu tun, als würden sie niedergeschlagen, ersetzte man sie doch lieber durch irreale Gestalten, die sich jeder selbst vorstellen mochte!
Zumindest bei den Eltern meiner Mitspieler fand dieses Prinzip, das wirkungsvoll blaue Augen, aufgeschlagene Knie und blutende Nasen vermied, großen Beifall – und wer überhaupt zu den Mitspielern zählte, hatte (das nahm ich als selbstverständlich) an meiner Regie nichts auszusetzen.

Dennoch schien mir die ganze Sache mit dem Mädchenmantel peinlich und etwas beschämend – hätte sie doch geradezu betont die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, daß ich wahrscheinlich wirklich ein hübscheres Mädchen geworden wäre als manche meiner Spielgefährtinnen! Das war nun ein Gedanke, der mir an sich gar nicht unangenehm war – man konnte sich da sogar neuen Gedankenspielen und Tagträumen hingeben, wie es eigentlich wäre, ein Mädchen statt eines Jungen zu sein! – aber zugleich ein so intimer und bestürzender Gedanke, daß ich ihn für mich allein haben wollte: und nicht als allgemeines Gesprächsthema für die ganze Runde!

Immerhin gab es da ja eine ganze Reihe von Helden in meinen Büchern, die sich bei der einen oder anderen Gelegenheit – mehr oder minder erfolgreich – als Mädchen verkleidet hatten: von Huckleberry Finn angefangen bis zum Detektiv Nobody, der allerdings ohnehin ein Meister der Maskeraden aller Art war. Andererseits jedoch hatte gerade diese Art der Maskerade etwas ganz Besonderes – gleichsam Grundsätzliches und damit auch Unheimliches, fast Unrechtes; aber gerade damit rührte sie wieder das alte, fast vergessene Thema der ganz unerhörten Täuschung, des völligen Umsturzes der ganzen Weltordnung an…

Irgendwie war mir inzwischen zwar schon längst klargeworden, daß es mit dem Unterschied zwischen Mann und Frau noch mehr auf sich haben mußte als das bloße Tragen von Hosen oder Röcken. Aber das änderte nichts daran, daß man zunächst einmal das Geschlecht nach der Kleidung beurteilte – und daß man andere, wenn die Voraussetzungen dafür einigermaßen günstig waren, dadurch leicht und gründlich täuschen konnte: wenn man zum Beispiel einem Jungen von Kind auf Mädchenkleider angezogen hätte, dann würden ihn doch alle für ein Mädchen halten – vielleicht würde er sogar selbst denken, er sei ein Mädchen?

Das eröffnete nun wieder ganz unfaßbare Perspektiven: wußte ich denn eigentlich, ob alle die Mädchen, die ich da in der Schule kannte, überhaupt wirklich Mädchen waren – oder alle Frauen, die da auf der Straße in Röcken herumliefen, wirklich Frauen? Immerhin gab es ja unter diesen Mädchen welche, die geradezu kräftiger, grobknochiger und jungenhafter waren als ich selbst! Andererseits besagte das aber gar nichts: denn offensichtlich konnte auch ein Junge in Mädchenkleidern sogar hübscher aussehen als ein wirkliches Mädchen!

Schließlich kam ich an den Punkt, an dem ich ernsthaft überlegte, wieso ich eigentlich so sicher war, selbst wirklich ein Junge zu sein -denn das ganze Argument stimmte ja umgekehrt genau so für ein Mädchen, das man von Kind auf in Jungenkleidung aufgezogen hätte! Zwar erschien mir so ein Gedanke zu unwahrscheinlich, als daß ich je mit jemand anders darüber gesprochen hätte – aber hatte ich nicht andererseits schon einmal ernsthaft die Idee erwogen, daß alle Erwachsenen, wenn sie sich nur einig wären, einem Kind völlig das Gegenteil von dem einreden könnten, was wirklich der Fall war?

Zumindest als Gedankenspiel konnte man sich abends vor dem Einschlafen – mit dem ganzen Leib gegen eine warme Gummiwärmflasche gekuschelt – doch einmal ausmalen, was es bedeuten würde, wenn ich eines Tages feststellen müßte, ich sei in Wirklichkeit ein Mädchen: vielleicht eine jener unermeßlich reichen Erbinnen, die ein verbrecherischer Anwalt in jungen Jahren beiseitegeschafft und in der Fremde unter falschem Namen als Knaben hatte aufziehen lassen? Wie es wäre, wenn eines Tages der scharfsinnige Detektiv oder geistesabwesende Professor, der diese teuflischen Machenschaften durchschaut hatte, auftauchen und mich in meine alten Rechte einsetzen würde – in all jene perlbestickten Roben, Pelze und Brillantkolliers, die ich den Heldinnen meiner Schauspiele so großzügig gönnte?

Es war nicht zu leugnen, daß dergleichen in vieler Beziehung reizvoll gewesen wäre: Hübsch genug hätte ich – das hatte man mir ja schon bestätigt – als Mädchen dann gewiß ausgesehen. Von Luxus und Reichtum umgeben wäre ich auch – und daß Damenkleider und zarte Spitzenwäsche niedlicher und wahrscheinlich auch angenehmer auf dem Körper zu tragen waren, als Männerkleider, konnte nur ein Narr bezweifeln. Zudem – der Gedanke kam mir erst jetzt – gäbe es ja wohl schwerlich eine vollendetere Rache an meiner verräterischen Nanna, als ihr plötzlich zu zeigen, daß ich in Wirklichkeit eine tausendmal schönere und elegantere Frau war als sie : eine, nach der sich ihr Martin noch die Augen ausgucken würde!

Damit allerdings geriet ich in eine Abteilung des ganzen Gedankenspiels, in der ich erheblich unsicherer war: ganz offensichtlich würden mir dann Männer in Scharen zu Füßen liegen – weil sie das grundsätzlich bei jeder schönen reichen Erbin taten. Nur war ich mir völlig im unklaren darüber, was ich mit diesen Scharen von Männern anfangen sollte! Irgendeinen davon zu heiraten – und darin wie die Nanna zuhause zu sitzen und Strümpfe zu stopfen oder Kinder zu kriegen, während er in der Welt herumfuhr und interessante Dinge tat, schien mir wahrhaftig wenig Reiz zu haben; wollte ich aber selbst in der Welt herumfahren und meinerseits interessante Dinge tun, dann brauchte ich dazu schwerlich auch noch einen Mann?

Immerhin, überlegte ich, könnte es ja sein, daß sich zum Beispiel der scharfsinnige Detektiv, dem ich meine Rettung verdankte, in Liebe zu mir verzehrte – dann war es offensichtlich nur fair, ihn auch zu heiraten (und vielleicht später mit ihm gemeinsam aufregende Dinge zu tun – ich hatte nie gelesen, daß etwa Patrizia Holm in Charteris’ Romanen Simon Templar, dem “Heiligen”, Strümpfe gestopft oder gar Kinder zur Welt gebracht hätte! Allerdings – wenn ich es recht überlegte – war sie auch gar nicht richtig mit ihm verheiratet, sondern nur einfach da – vielleicht verlobt?) In mancher Beziehung könnte es – mußte ich zugeben – recht angenehm zu sein, jemand zur Seite zu haben, der wirklich mit bloßen Händen drei Verfolger niederschlagen konnte!

Nur sprach natürlich die überwältigende Wahrscheinlichkeit dagegen, daß ich ein verkleidetes Mädchen – oder gar eine vermißte Millionenerbin war. Wenn ich erst einmal (und in irgendeinem Buch mußte das ja schließlich einmal eindeutig stehen) den exakten Unterschied zwischen Jungen und Mädchen festzustellen gelernt hatte, würde ich diese Frage ja eindeutig entscheiden können: und – eine Million zu eins! – zu dem Ergebnis gelangen, daß ich eben, wie seit jeher behauptet, ein Junge war.

Dennoch blieb der ganze Gedanke zu aufregend, um ihn wegen eines solchen störenden Details einfach völlig aufzugeben: schließlich könnte ich ja auch ein großer Hochstapler oder Verbrecher werden und einfach so tun, als sei ich eine schöne Millionenerbin? Das würde eine ganze Menge der bisherigen Vorteile erhalten – und sogar das ohnehin etwas unklare Problem, was ich mit den Scharen von Verehrern anfangen sollte, erledigen: die würde ich eben nach Strich und Faden an der Nase herumführen – eine jener grandiosen Täuschungen und Lügen, bei denen mir stets ein Schauer der Faszination über den Rücken lief! – und (das schloß übrigens den Kreis) ihnen all das Geld abnehmen, das ich für meine Rolle als reiche elegante Erbin benötigte! Sogar den Martin könnte ich – in meiner hinreißenden Schönheit und Eleganz – der Nanna ausspannen: nur um vor ihm dann höhnisch die Perücke vom Kopf zu reißen und ihm zuzurufen: Nun sieh, wem Du Dein Herz geschenkt hast – ich bin es, der schnöde verschmähte Rivale!

Das alles war so schön und aufregend, daß demgegenüber selbst die Schauspiele für meinen Harem von Ersatz-Nannas an Reiz verloren – andererseits so beruhigend irreal und unwahrscheinlich, daß man sich solchen Phantasien mit voller Begeisterung hingeben konnte ( schließlich hatte ich vor Professor Moriarty, trotz all seiner teuflisches Tücke naturgemäß weniger Angst als vor einem unbekannten knurrenden Hofhund in der Nachbarschaft!) – und so baute ich diese Phantasie geraume Zeit über mit besonderer Liebe aus:

Zunächst einmal – empfand ich – mußte der berechtigten Rache, wie beim Grafen von Monte Christo, jetzt ein entsprechendes Maß uneigennützigen Edelmuts folgen; der etwa darin liegen könnte, meine unvergleichlichen Fähigkeiten der Verkleidung in den Dienst der Spionage zu stellen – als geheimnisvolle Dame in Schwarz, die aus Panzerschränken und Geheimlaboratorien die gehütetsten Dokumente wie durch Zauberei verschwinden ließ? Aber das war immer noch – wenn auch schon unpersönlicher – bei weitem nicht edel genug: da mußte noch Gewaltigeres geschehen. Wie etwa, wenn Dr. Nemo, das rätselhafte Genie des Verbrechens, die Todesstrahlen entdeckt und mit ihnen die gesamte Menschheit bedroht hätte – fordernd, daß man ihm die zehn schönsten Frauen der Welt umgehend ausliefern müsse? Und wenn ich mich – das paßte nun wieder hübsch in das Schema der zitternden Erbinnen – natürlich in aufreizendster Robe unter sie gemischt hätte?

Um dann – jetzt lief alles in mir auf vollen Touren – bestürzt zu entdecken, daß der unheimliche Nemo a) in Wirklichkeit ein verkannter Wohltäter höchsten Edelmuts und b) in flammender Liebe zu mir (bzw. zu der schönsten Frau der Welt, für die er mich hielt) entbrannt sei ? Welche Möglichkeit, vor Scham und gräßlicher Vergeltung für meine bisherigen Missetaten innerlich zu vergehen, während ich ein liebreizendes Lächeln auf den roten Lippen tragen mußte!? Und welche Chance, als einzige Lösung mitten in seine – gerade mir zu Ehren eingeschalteten – Todesstrahlen zu hupfen, damit mein Körper zu hauchfeiner Asche verging, ehe er je mein wahres Geschlecht entdecken konnte – worauf Nemo wiederum, zutiefst erschüttert, den Todesstrahler vernichtet und nur noch dem Dienst an der Menschheit gelebt hätte!

An diesem Punkt angelangt, war ich so gerührt, daß mir die blanken Tränen über die Wangen aufs Kopfkissen liefen – aber auch so erbaut, daß ich tagelang wie auf Wolken durch die Welt ging und ungewöhnlich schlechte Schulzensuren nach Hause brachte ( aber wie kann sich auch jemand, der gerade die Welt vor dem Untergang gerettet hat, auf den Unterschied zwischen scharfem S und Doppel-S konzentrieren?).

Natürlich erreicht alles einmal seinen Höhepunkt – und überschreitet ihn dann. Dieses Schicksal blieb auch der Kreuzung aus Mata Hari, der Jungfrau von Orleans und Charleys Tante nicht erspart, die ich in jenen Wochen und Monaten erschaffen hatte – da schob sich Dr. Nemo (nebst dem gräßlichen Unrecht, das ihn zum Feind, aller Menschen gemacht hatte) in den Vordergrund, der statt Abendroben und Lockenperücken fast genau so aufregende Retorten und Atomzertrümmerungsgeräte zu bieten hatte – sowie, denn ich lebte ja immerhin auch noch in der wirklichen Welt, die Tatsache, daß ich demnächst auf eine andere, die höhere Schule übergehen würde.

Doch war es nicht diese Tatsache an sich, die für mein späteres Leben die größte Bedeutung gewinnen sollte – sondern ein zunächst nur lose damit verknüpftes, weitaus triviales Ereignis: davon ausgehend, daß ich als „Realschüler“ doch wohl einen eindrucksvolleren Platz für die häuslichen Schulaufgaben brauchen werde als bisher, ließ „Oma“ – durch zwei gewaltige, eigens herbeibeorderte Möbelpacker – einen alten Schreibtisch, der wohl noch meinem Vater gehört hatte, vom Boden herunter in mein Zimmer bringen, das er fast zu einem Drittel ausfüllte.

Dies allein fand ich nun – verständlicherweise – bereits hochinteressant und aufregend; aber es verblaßte schlagartig gegenüber der noch weit erregenderen Entdeckung, daß dieser Schreibtisch nicht leer, sondern in seinen riesigen, tiefen Seitenfächern – kein Wunder, daß er zwei Möbelträger ins Schwitzen gebracht hatte – bis oben hin mit alten Büchern, Ordnern und Manuskripten vollgestopft war!

Rückschauend betrachtet, war es von großer Bedeutung, daß ich diese Entdeckung zunächst einmal allein machte, wie ich nichts weiter tun als die Schlüssel zu den Seitentüren ausprobieren wollte; als ich sie öffnete, fielen mir geradezu Haufen von Büchern und Manuskripten entgegen – und ich hätte nicht die Leseratte sein dürfen, zu der ich mich entwickelt hatte, wenn ich nicht sofort angefangen hätte, diese unerwarteten Schätze zu durchmustern.

Da waren erst einmal unerhört viele, dickleibige und dünne Bücher – anscheinend freilich, wie ich bald feststellte, zum Teil in fremden Sprachen oder mit wissenschaftlichen Titeln, die für mich damals fast genau so unleserlich waren: „Psychopathia Sexualis“ oder „Vektoranalysis“ oder „Das Phänomen der ästhetischen Inversion und seine Beziehung zum Kult der Magna Mater“ – andere, unter denen ich mir zwar eher etwas vorstellen konnte, wie „Höhere Mathematik“, „Vorlesungen über theoretische Physik“ oder „Anorganische Chemie“, die sich aber durch das, was ich schon von ihnen verstand, recht deutlich als etwas auswiesen, was ich eben noch nicht verstand – aber auch so verheißungsvolle wie „Chemische Experimente, die gelingen“ oder „Zauberkarten und Kartenzauber“!
Noch mehr aber fesselte mich, was hinter dieser ersten Bücherreihe zum Vorschein kam: nämlich ein ganzer Stoß von Ordnern, die säuberliche, wenn auch etwas vergilbte Aufklebeschildchen trugen wie „Eigene Arbeiten / Manuskripte – Marius Gramer“, „Notizen zum Anima-Problem – Marius Gramer“, „Beiträge für Jugendbücher – Marius Gramer“ – denn Marius Gramer war, das wußte ich aus mancherlei Papieren, die man letzthin für meine Schulanmeldung ausgefüllt hatte, war der Name meines verstorbenen Vaters!

Auf einmal war dieser alte Schreibtisch, dieser staubig-strengriechende Haufen von alten Büchern und Papieren nicht nur ein abenteuerlicher Fund, wie er in Geschichten vorkam: sondern er ging mich ganz persönlich an – war eine Brücke zu meiner Vergangenheit, zu der bisher so völlig schattenhaften Figur meines eigenen Vaters!

Und womit hatte er sich alles befaßt: schon der erste Titel in dem Ordner „Beiträge für Jugendbücher“, den ich naturgemäß als erstes aufschlug, versprach nichts Geringeres als Aufklärung über „Geheimschriften – und wie man sie entziffert“!

Der Titel allein hätte schon genügt, um mich sofort mit Lesen anfangen zu lassen – aber nun gar die ersten Sätze: „Sicher habt Ihr Euch schon einmal gefragt, wie es Spione oder Detektive eigentlich fertigbringen, Nachrichten zu entziffern, die in einer Geheimschrift abgefaßt sind – obwohl sie den Schlüssel dazu gar nicht kennen … „!

Hatte ich mich das schon gefragt?! Einen Augenblick war es mir, als habe mein Vater mir beim Lesen all dieser Schmöker über die Schulter geschaut!

Und wenn es mir auch in diesem Augenblick nicht zum Bewußtsein kam – dazu war ich viel zu gespannt darauf, wie das Manuskript weitergehen würde! – spürte ich doch ganz tief drinnen etwas wie eine große Sehnsucht, einen bisher ungekannten Schmerz, eine Frage: wie wäre es wohl gewesen, wenn dieser unbekannte Vater wirklich hinter mir gestanden, mir über den Kopf gestrichen und mich dann mit in sein Studierzimmer genommen hätte, um mir – mir ganz persönlich und nicht irgendwelchen unbekannten Lesern – all solch aufregende Sachen zu erklären?
Denn erklären konnte er solche Dinge wunderbar: nicht von oben herab mit einem Unterton von „aber wie man’s wirklich macht, versteht Ihr ja doch nicht“ – sondern klar und gründlich, mit Beispielen, die Schritt für Schritt entschlüsselt wurden – und dann (er mußte sich wirklich in der Seele seiner Leser ausgekannt haben!) gab er nicht nur genaue Tabellen über die häufigsten Buchstaben, Doppel- und Dreifachbuchstaben: sondern auch noch ein Dutzend verlockend in Buchstaben, Ziffern und Symbolen geschriebene Beispiele, an denen man sich selbst in der Kunst des Dechiffrierens versuchen konnte!

Ich saß mit hochrotem Kopf , vergaß über dem Lesen Zeit und Raum – und fuhr fast erschrocken zusammen, als „Omi“ ins Zimmer kam, um mich zum Essen zu holen, nachdem ich alle Rufe dazu völlig überhört hatte!

Doch seltsamerweise schien sie fast genau so erschrocken zu sein, als sie die alten Bücher und Papiere sah. Ungeachtet meiner Proteste erklärte sie nicht nur, daß ich jetzt sofort zum Essen kommen] müsse – sondern auch, daß ich den ganzen Inhalt des Schreibtisches nicht mehr anrühren dürfe, ehe sie selbst ihn Stück für Stück durchgesehen habe!

Das empfand ich nun als eine so abscheuliche Ungerechtigkeit, daß ich – obwohl ich sonst eigentlich aufs Wort alles tat, was Omi von mir verlangte – diesmal heimlich einen kleinen Stoß, der hinter dem Hauptberg der Bücher lag und den ich noch gar nicht durchgeschaut hatte, mit einem geschickten Fußtritt bis weit hinten unter mein Bett beförderte, ohne daß sie es bemerkte.

Das ganze Essen über hatte ich natürlich kaum Appetit – und schließlich erweichte meine offensichtliche Betretenheit Omi doch soweit, daß sie mir großzügig den Ordner mit den „Beiträgen für Jugendbücher“ überließ, während sie den ganzen übrigen Schreibtischinhalt mit Beschlag belegte – teils mitnahm, teils wieder einschloß, um den Rest am anderen Tag in ihr Zimmer herunterzuholen.

Den meisten Erwachsenen wäre es nur zu natürlich erschienen, daß man eine Sammlung, die immerhin solch ausgefallene Bücher wie Krafft-Ebings „Psychopathia Sexualis“ enthielt, vorsichtshalber erst einmal durchsehen wollte, ehe man sie der Lesewut eines Zehnjährigen überließ. Ich aber war damals keineswegs erwachsen, hatte keineswegs einen Begriff davon, daß es „verbotene Bücher“ geben könne – bis jetzt hatte ich alles gelesen und lesen dürfen, was es im Hause Gedrucktes gab – und nicht zuletzt steckte in mir noch immer, zwar verborgen, aber leicht wieder erweckt das abgrundtiefe Mißtrauen, daß man mir ganz wichtige Dinge falsch schildern oder überhaupt vorenthalten könne …

Gab es, überlegte ich, da um die Bücher oder Aufzeichnungen meines Vaters irgendein dunkles Geheimnis? Etwas, das niemand – oder zumindest ich nicht – erfahren sollte? Etwa gar etwas, das – hier kam nun wieder ein Stückchen der Millionenerbinnen-Phantasie zum Tragen – mich selbst, meine Abstammung oder vielleicht selbst mein. Geschlecht betraf? Ich weiß selbst nicht mehr recht, was ich mir darunter vorstellte (eine Tagebuchnotiz „Heute gemeinsam mit Mutter und dem Doktor festgelegt, daß er ein Junge sein soll“ oder dergleichen?) – aber so sehr ich mich einerseits schämte, die Bücher unter dem Bett Omi unterschlagen zu haben (es gab zwar eine Menge von Dingen, von denen sie nichts wußte – wie etwa meine vielen interessanten Tagträume – aber kaum etwas, das ich bisher entgegen einem ausdrücklichen Gebot vor ihr geheimgehalten hätte!) – so prickelnd und aufregend war es andererseits, in meinem Besitz irgendwelche „geheimen Papiere” zu wissen, die ich eigentlich nicht lesen sollte!

Das Gefühl, hier – wie ein echter Spion oder Geheimkurier – im Besitz „heißen Materials“ zu sein, ließ mich instinktiv mit erstaunlicher Raffinesse all das tun, was solche Leute in meinen Geschichten taten: ich stürzte mich, allein, nicht etwa sofort unters Bett – sondern setzte mich brav an meinen neuen Schreib¬tisch, um weiter in dem Jugendbuch-Ordner zu blättern (obwohl ich zwar die interessanten Titel und Themen der anderen Manuskripte wahrnahm, aber viel zu aufgeregt war, um mich auf eines davon zu konzentrieren!), aß besonders viel und brav zu abend, maulte wie üblich, daß ich noch nicht so früh ins Bett wolle, und ließ mich nur mit viel Zureden auf mein Zimmer schicken. Dort löschte ich bald das Licht und lauschte im Dunkel, bis ich sicher war, daß die Omi und alle anderen im Hause zu Bett gegangen waren und schliefen. Das brauchte zwar Stunden, aber ich war so aufgeregt, daß ich keine Gefahr lief, während des Wartens etwa selbst einzuschlafen…

Dann, mitten in der Nacht, hängte ich sorgfältig meine Hose über die Bettlampe, so daß nur ein kleiner Spalt licht auf mein Kopfkissen fallen ließ – stieg dann auf Zehenspitzen aus dem Bett und versuchte, geräuschlos den Stoß aus der hintersten Ecke hervorzuangeln. Dann hockte ich mich im Nachthemd auf die Bettkante, um endlich meinen Schatz zu studieren.

Auf den ersten Blick war ich herzlich enttäuscht: das waren weder Tagebücher, noch geheimnisvolle Familienchroniken oder versiegelte Briefe – sondern lediglich ein aus dem Einband gerissenes, vergilbtes und eselsohriges Wörterbuch, ein anderes, etwas besser erhaltenes Buch „Lehrgang der Porträtphotographie“ und, für mich damals ein Höhepunkt der Langweiligkeit, ein Foto-Album mit irgendwelchen Bildern. Einen Augenblick lang schlug mein Herz wieder schneller, als aus dem Fotolehrbuch ein kleines Heftchen aus kariertem Papier fiel, das handschriftliche Aufzeichnungen trug – aber dann sah ich, daß das nur so unverständliche und technische Notizen waren wie: „Außenaufnahmen: ab ca. 7:00 Uhr bis 11:00 Uhr. Achtung: gut nur bei Sonnenschein! Das Licht ist ab 13:00 Uhr am besten! make-up: Plan 3. Bei zu langer Dauer: Stirnfalten zeichnen sich ab, mit Basic nachschminken! wenn Schwitzen: Tropfen ganz vorsichtig abtupfen (Tuch), nachpudern immer wenns glänzt!“ und ähnliches – schwerlich geeignet, mir besondere Geheimnisse zu enthüllen.

Dennoch interessierte mich nun, was oder wen man da eigentlich mit soviel Umständen aufgenommen hatte: Die erste Seite des Albums trug nur die wenig aufschlußreichen Buchstaben „M.A.“. Aber als« ich dann umblätterte, hatte ich plötzlich das Gefühl, daß ich doch einer Art Geheimnis auf die Spur gekommen war: denn die schlanke dunkelhaarige Frau, die da in einem eleganten langen Kleid photographiert war, kam mir irgendwie bekannt, vertraut vor.

Ich hatte zwar kaum eine Erinnerung an meine Mutter – aber jetzt, als ich dieses Bild vor mir sah, schien es mir so, als habe ich all die Jahre in mir eine Szene herumgetragen, in der diese Frau eine Rolle spielte: eine schlanke, dunkle Gestalt in einem langen, raschelnden Kleid, die an mein Bett getreten war und mir mit der glatten, wunderbar duftenden Hand zärtlich über die Wange gestrichen hatte – und dann eine unterdrückte, ärgerliche Stimme, die irgendetwas gerufen hatte – „wenn der Junge Dich nun sieht!” oder “wenn der Junge Dich so sieht!“ – und dann hatte sie rasch, wie erschrocken, sich aufgerichtet und war mit raschen Schritten und raschelndem Kleid verschwunden – und ich hatte mich rasch tief ins mein Kissen gekuschelt und die Augen ganz fest zugekniffen, weil man doch mit der schönen lieben Frau geschimpft hätte, wenn man gemerkt hätte, daß ich wirklich wachgewesen und sie gesehen hatte – und ich nicht wollte, daß jemand mit dieser lieben schönen Frau mit ihren zärtlichen Händen schimpfte …

Aber warum sollte eigentlich ein Junge – selbst wenn er sehr klein war und schon im Bettchen lag – seine Mutter nicht sehen? Da war doch auch wieder irgendein Geheimnis, das in die rätselhafte Welt der Erwachsenen gehörte – oder hatte ich das damals falsch verstanden, und war es die Frau gewesen, die mit diesen Worten jemand anders gehindert hatte, ins Zimmer zu treten – vielleicht weil sie fürchtete, er werde mich aufwecken, oder weil er vielleicht gar so aussah, daß das einem kleinen Jungen einen Schrecken eingejagt hätte? Denn die Stimme – aber wer wollte das aus einer so vagen Erinnerung noch entscheiden! – hatte zwar unterdrückt, aber doch mehr wie eine Frauenstimme geklungen…

Ich schüttelte den Kopf: seltsam genug, daß ich mich überhaupt nur an diese eine Szene erinnerte – vielleicht, weil ich damals ein wenig erschrocken gewesen war? Aber jetzt hatte ich ja ein ganzes Fotoalbum, um diese Erinnerung wieder aufzufrischen!

Nachdenklich, Bild für Bild studierend, blätterte ich Seite um Seite um: ja, das war gewiß immer wieder dieselbe schöne dunkelhaarige Frau – manchmal zwar im Kleid, manchmal im Mantel (auf einigen Bildern sogar, im Sessel oder malerisch auf ein Sofa hingegossen, in eleganter Unterwäsche) – mit gelegentlich etwas veränderter Frisur, als seien die Aufnahmen über eine längere Zeit hinweg entstanden – aber fast immer allein, nur auf einem Bild, gegen eine Fenstersäule gelehnt, in anscheinend lebhaftem Gespräch mit einem schlanken dunkelhaarigen Mann.

War das mein Vater? Erst jetzt kam mir zum Bewußtsein, daß ich in meinem ganzen Leben noch keine Fotos meiner Eltern gesehen hatte – obwohl es doch zu den beliebten (und für mich stets endlos langweiligen) Beschäftigungen bei Familienbesuchen gehörte, sich Albums mit Bildern irgendwelcher Onkel oder Tanten, Neffen, Nichten oder Cousinen zu zeigen; warum eigentlich nie von meinen Eltern? Gab es da keine Bilder – oder wollte man sie mir nicht zeigen?
Einen Augenblick spielte ich mit dem schrecklich-romantischen Gedanken, daß mein Vater vielleicht ein gräßliches Ungeheuer – eine Art Quasimodo?! – gewesen sein könnte, das ich noch nicht einmal als Kind erblicken durfte: der nur in einem verborgenen Zimmer, den Blicken aller Menschen entzogen, seine aufregenden Manuskripte geschrieben hatte – und über den man jetzt den Mantel des Vergessens breitete. Die schöne Frau an seiner Seite – meine Mutter – hätte ihn dann trotzdem unsterblich geliebt, wegen seiner unermesslichen Weisheit und Güte – und er hätte sie in seiner Bewunderung für ihre makellose Schönheit immer wieder fotografiert …

Aber so reizvoll das in einem Buch gewesen wäre – so unwahrscheinlich schien es mir doch, auf meine eigenen Eltern bezogen. Etwa genau so unwahrscheinlich wie die Sache mit der verschleppten Millionenerbin.

Dies brachte mich nun wieder auf das andere Buch zurück: „Klinisches Wörterbuch, von Willibald Pschyrembel, Dr. med. Dr. phil., Oberarzt am Städtischen Krankenhaus Berlin-Neukölln“ – das war offensichtlich ein Buch für Ärzte oder Leute, die Medizin studieren wollten: und darin müßte ja doch etwas über den Unterschied von Jungen und Mädchen stehen!

Es war immerhin ein Zeichen für meine schon damals nicht geringe Belesenheit, daß ich als erstes unter „G“ – für „Geschlecht“ -nachschaute, statt so unwissenschaftliche Stichworte wie „Mädchen“ oder „Junge“ überhaupt erst zu suchen. Leider wurde ich dafür nicht gerade durch eine besonders verständliche Auskunft belohnt – denn da stand unter
“Geschlechtsbestimmung, -Vererbung: die Geschlechtsverschiedenheit ist durch d. Zusammensetzg. der Erbmasse (idioplasma) bedingt. Bei den Säugetieren gibt es nur einerlei Ei-, aber zweierlei Samenzellen. Die Geschlechtsanläge (paarig wie je¬de Erbanlage) des weibl. Säugetiers ist also reinanlagig (homozygot), d.h. die Paarlinge sind gleich, die Geschlechtsan-lage des männl. Säugetiers ist mischanlagig (heterozygot),die Paarlinge sind ungleich. Es gibt also e. gleich große Zahl v. männl. bestimmten u. weibl, bestimmten männl. Samenzellen. Das Geschlecht ist durch d. Verschiedenheit d. Samenzellen in Erbanlagebestand des Mannes vorbereitet u. wird im Augenblick d. Vereinigung einer d. Samenzellen mit e. Eizelle (Befruchtung) bestimmt.”

Nachdem ich das zum dritten Male durchgelesen hatte, war ich so verwirrt wie zuvor; klar schien zwar zu sein, daß man sein Geschlecht vererbt bekam – was eine für mich zwar neue, aber ganz einleuchtende Idee war: offensichtlich heirateten sich also deshalb eine Frau und ein Mann, damit sie ihren Kindern dann mal das weibliche, mal das männliche Geschlecht weitervererben, also Jungen oder Mädchen zu Kindern haben konnten.

Aber anstatt daß nun, wie es jeder vernünftige Mensch angenommen hätte, die Mutter ihr weibliches Geschlecht an die Mädchen weitervererbte – und der Vater sein männliches an die Jungen – klang das Weitere doch so, als vererbe der Vater beide Geschlechter, männlich und weiblich, ganz nach Wunsch weiter, während die Mutter dabei gar nichts mitzureden hatte!

Konsequent weitergedacht, mußte doch dann der Vater sowohl männliche wie auch weibliche Anlagen in seinem „Erbanlagenbestand“ haben – und da man ja wohl nur Anlagen vererben konnte, die man selbst hatte, mußten alle Väter innerlich eine Mischung aus Mann und Frau sein?! Aber wenn sie – was ich zwar kaum richtig fassen konnte – sowieso schon Mann und Frau- zugleich waren: wozu brauchten sie dann zu der ganzen Sache noch die Mutter?

Ich gab es vorerst auf, dieses ganze rätselhafte Thema weiterzuverfolgen. Eines schien jedenfalls klar: was für ein Geschlecht die Kinder hatten, daß wurde – ein Verdacht, den ich ja schon lange gehabt hatte – nicht hinterher von den Eltern bestimmt, sondern lag irgendwie bereits fest, wenn man zur Welt kam. Die Frage war nur, wodurch und inwiefern?

Der nächste Eintrag
„Geschlechtscharaktere, sekundäre; Geschlechtsmerkmale. die für das betreff. Geschlecht kennzeichnend sind, aber nicht der Fortpflanzung dienen, beim Manne Bart und Körperbehaarg., beim Weibe Brüste, glatte Haut, langes Haar usw.“
ließ mich nun langsam daran zweifeln, daß der Doktor Pschyrembel wirklich so recht wußte, worüber er da eigentlich schrieb: ich brauchte doch bloß mich selbst anzugucken, um festzustellen, daß ich weder Bart noch Körperbehaarung, dafür aber eine glatte Haut hatte – zwar keine Brüste, aber die hatten die Mädchen in meiner Schule auch nicht! Und daß die Frage, wie lang mein Haar sei, nur davon abhing, wie oft man mich zum Friseur schickte, statt von meinem Geschlecht, hätte eigentlich auch ein Oberarzt am Krankenhaus wissen müssen !

Oder meinte er, daß solche Eigenschaften „nicht der Fortpflanzung dienen“, also nicht weitervererbt würden ? Das würde zwar erklärren, wieso Männer mit Barten Väter von Mädchen ohne Barte und Körperbehaarung sein konnten – schien mir aber wieder alles, was im vorigen Abschnitt gestanden hatte, über den Haufen zu werfen: denn wenn solche Merkmale nicht vererbt wurden, was zum Teufel wurde dann als „Geschlecht“ vererbt ?

Ich entschloß mich, nun doch unter „Mann“ und „Frau“ nachzuschlagen – aber diese Begriffe schien es in der Medizin überhaupt nicht zu geben; jedenfalls fand ich an der einen Stelle nur „MANN-LENTZsche Färbung der Negrikörper (s. Lyssa) in Eosin-Methylenblau“, was offensichtlich nicht zum Thema gehörte, und bei „Frau“ überhaupt nichts. Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, wenn ich damit aufgehört hätte – aber nun kam mir plötzlich die Erleuchtung, daß Doktoren und Mediziner ja furchtbar oft lateinisch sprachen: und daß der alte Rektor mir ja schließlich, zur Vorbereitung auf die Oberschule, „masculinum“, „femininum“ und „neutrum“ beigebracht hatte!

Der erste Versuch auf diesen neuen Weg war allerdings nur geeignet, meine Meinung von Dr, Pschyrembel und seinen Lesern noch weiter absinken zu lassen – da stand nämlich allen Ernstes:
„Masculinus (mas, maris, m das Männchen): männlich“ !

Halb in der Erwartung, eine ähnlich geistreiche Auskunft auch unter „F“ zu finden, blätterte ich nach vorn – nicht ahnend, daß damit mein Weltbild endgültig aus den Fugen geraten würde.

Zunächst verzögerte sich dies freilich noch, weil ich an dem seltsamen Eintrag
„Fellare: Einführen d. männl. Gliedes in den Mund der Frau, zur sexuellen Befriedigung“
hängen blieb und einen Augenblick kopfschüttelnd darüber nachdachte, welches seiner Glieder – Arm oder Bein? – ein Mann da einer bedau-ernswerten Frau in den Mund stopfen mochte, und wieso diese mir ebenso blödsinnig wie unpraktikabel vorkommende Sache irgendjemand Befriedigung verschaffen könne. Doch dann las ich das nächste Stichwort:
„Feminieren (STEINACH, 1912): ein kastriertes männl. Tier durch Einpflanz. von Eierstöcken körperlich u. psychosexuell verweiblichen.“

und hatte den Eindruck, die Welt nicht mehr zu verstehen: Da hatte das Buch doch eben lauthals erklärt, männlich und weiblich seien bei den Säugetieren durch die Erbanlagen eindeutig bestimmt – nur um jetzt ebenso selbstverständlich zu erklären, natürlich könne der Professor Steinach dann so ein männliches Tier hinterher ganz nach Belieben – „durch Einpflanz. von Eierstöcken“, was immer das sein mochte – wieder „verweiblichen“! So etwas hatten ja selbst die verbrecherischsten Chirurgen in meinen Büchern – die nicht davor zurückschreckten, Menschen mit Tierköpfen oder Flügeln zu versehen – nicht zu unternehmen gewagt !

Oder meinte man da wieder mal nicht das „richtige“ Geschlecht, sondern bloß diese anderen Eigenschaften, die sich irgendwie nicht zum Fortpflanzen eigneten – eigentlich nur so eine ähnliche Sache, als habe der Professor einem Jungen Mädchenkleider angezogen und ihn dadurch „verweiblicht“ – also zum Beispiel jetzt lange Haare und glatte Haut oder sogar einen Busen erzeugt ?

Darüber noch sinnierend, kam ich zum nächsten Stichwort:
„Feminismus (femina Frau): weibische Art; vgl. Effeminatio“
Hatte das vielleicht etwas mit dem Ergebnis des „Feminierens“ zu tun? Ich blätterte noch weiter nach vorn – und las:
„Effeminatio (femina Weib): höchster Grad der konträren Sexualempfindung, wobei sich der Mann völlig als Weib fühlt, als weibl. Päderast.“
Was war das denn nun? Jetzt ging es auf einmal nicht mehr um Haare, Haut oder Busen, sondern um „Empfindungen“ und darum, wie sich jemand „fühlte“ – und zwar, was nun vollends unfaßbar schien, um einen Mann, der sich „völlig als Weib“ fühlte?! Oder doch nicht? Was war denn nun wieder ein „weibl. Päderast“?

Nach einigem weiteren Suchen fand ich aus das – oder zumindest etwas, das sich darauf zu beziehen schien:
„Päderastie (erastes Liebhaber): Knabenliebe, geschlechtl. Mißbrauch von Knaben,“

Als ich diese Worte las, spürte ich plötzlich ein hilfloses Gefühl in der Magengrube – wie in einem unerwartet nach unten abfahrenden Aufzug.

Sich „als Weib“zu fühlen“ – oder sich zumindest mit solchen Gedanken zu befassen – war offenbar ein“geschlechtlicher Mißbrauch von Knaben“, also etwas, was Knaben offenbar nicht tun sollten, aber anscheinend zuweilen taten. Und wußte ich das nicht sehr genau? Hatte ich nicht vor wenigen Wochen noch – mit Genuß und innerlichem Schauer – genau solche Gedanken gewälzt? Und war das – nachdem es ja nun in einem Wörterbuch für Ärzte abgehandelt wurde – eine ungesunde, gefährliche Sache, vielleicht sogar eine Art Krankheit oder Geisteskrankheit?

Als ich noch viel kleiner war, hatte mich schon die Vorstellung erheblich beunruhigt, daß irgendwo im Himmel ein Schutzengel alles, was ich hier auf der Welt tat, in einem großen Buch vermerken sollte. Aber wie harmlos erschien das gegenüber dem Erlebnis, daß irgendein Gedanke, den ich mir ganz persönlich in aller Harm¬losigkeit ausgedacht hatte, Wort für Wort in einem Buch für Ärzte als typische Sünde von Knaben beschrieben wurde … !

Nein, nicht direkt als „Sünde“ – als „Mißbrauch“, was zwar auch nicht sehr schön, aber immerhin noch harmloser klang. Oder wie hatte das noch gehießen? Mit einem gewissen verbissenen Mut blätterte ich zurück – was war das für eine „Empfindung“ gewesen? Ah – da stand es: „Sexualempfindung“. Ich konnte mir darunter noch nichts Rechtes vorstellen – aber vielleicht war auch das unter diesem Stichwort noch näher erklärt ?

Leider ja. Da stand es schwarz auf weiß:
„Sexualempfindung: Geschlechtsempfindung, Perverse S.; krankhafte Abweichung der Geschlechtsempfindung und des Geschlechtstriebes bis zur konträren S., wo der Mann sich als Weib, das Weib sich als Mann in geschlechtlicher Beziehung fühlt. Vgl. Päderastie. Masochismus, Sadismus, Onanie.“

Ich verglich nicht mehr weiter – mir reichte es. Nicht ein bloßer Mißbrauch – nein, eine „krankhafte Abweichung“ war es, die ich da vor ganz kurzer Zeit (und ohne es zu ahnen – nein, sogar mit einem tiefen Vergnügen) erlebt hatte!

Ich ließ das Buch sinken und sah mit einem gewissen Entsetzen an mir selbst herunter – als müsse man jetzt diese Krankhaftigkeit in Form von Aussatz oder Pestbeulen schon an meinem Leib feststellen können.

Doch dann gewann wieder mein nie versiegendes Mißtrauen gegen alles, was Erwachsene behaupten mochten, die Oberhand: wenn auch dieser Dr. Pschyrembel hier einen unerwarteten und erschütternden Zufallstreffer gemacht hatte – so änderte das noch immer nichts daran, daß sein ganzes Buch von Widersprüchen wimmelte: erst wurde das Geschlecht vererbt. Dann wurde es plötzlich wieder nicht vererbt – oder wenigstens nichts von dem, woran man Männer und Frauen so normalerweise zu unterscheiden pflegte. Und schließlich behauptete er noch, daß man dieses ganze Geschlecht sowieso hinterher verändern könne. Und am Schluß sollte es noch eine Krankheit sein, über all das nachzudenken!

Ich kroch wieder unter die Bettdecke – inzwischen spürte ich erst, wie kalt ich im Nachthemd da auf der Bettkante geworden war – und begann, gegen die Decke starrend, die ganzen Widersprüche nocheinmal zu sortieren. Daß in einem solchen Wörterbuch – das ja nicht für Kinder, sondern Erwachsene geschrieben war – geradezu Lügen standen, war nicht anzunehmen. Aber ich hatte schon öfter einmal erlebt, daß verschiedene Leute die gleichen Tatsachen auf ganz verschiedene Weise zusammenfügten und beurteilten – und was da in dem Buch mit den Tatsachen gemacht wurde, schien doch auch hinten und vorn nicht zusammenzustimmen.

Nahmen wir also mal das Unwahrscheinlichste (das wahrscheinlich gerade deshalb sicher stimmte – denn sonst hätte sich ja niemand getraut, es in ein Buch zu schreiben): diese erstaunliche Behauptung, daß die Väter sowohl weibliche wie männliche Anlagen in sich hätten. Wenn das stimmte – warum sollte es dann eigentlich so krankhaft sein, daß sie sich manchmal auch wie eine Frau fühlten? Wenn sich eine Frau wie ein Mann fühlte, dann hatte sie dazu – nachdem sie ja gar keine männlichen Anlagen in sich hatte! – viel weniger Recht, und war vielleicht verrückt; aber bei den Vätern – oder, da ja wohl alle Männer Väter werden konnten, bei Männern überhaupt – wäre es ja gerade im Gegenteil unnormal gewesen, wenn sie nie etwas von den in ihnen steckenden weiblichen Anlagen gemerkt hätten!

Natürlich – normalerweise mußten sie sich verständlicherweise wie Männer fühlen; aber – und so war das vielleicht auch gemeint? – wenn sie mal krank waren, zum Beispiel Fieber hatten oder sich sonst nicht wohl fühlten (und deshalb sowieso nicht arbeiten oder sonstige Männergeschäfte ausführen konnten), dann mochte doch wohl die andere, weibliche Hälfte in ihnen hervorkommen – dazu fiel mir eine grimmige Bemerkung der Omi ein: Männer, wenn sie krank seien, stellten sich viel schlimmer an als Frauen!

Oder – kam mir jetzt als neue Idee – waren das vielleicht jene Zeiten, in denen sie die weiblichen Anlagen auf eventuelle Töchter vererbten: während sie ihre Söhne natürlich mit männlichen Anlagen versorgten, wenn sie sich so richtig männlich fühlten? Das würde dann aber heißen, daß sich – da es ja etwa gleich oft Töchter wie Söhne gab – Männer sehr oft in diesem Zustand der (wie hieß es ? „Konfusen“ oder „konträren“) Sexualempfindung fühlen mußten: na ja, die Leute waren ja auch oft krank, zum Beispiel erkältet!

So gesehen, schien die ganze Sache nun halb so beunruhigend: daß ich. da mit dem Gedanken herumgespielt hatte, ich könnte oder möchte vielleicht auch ein Mädchen sein, war dann eine Sache, die den meisten Männern gelegentlich passierte – vielleicht umso öfter, je erwachsener sie wurden? – und die nur einerseits hieß, daß ich mich zu der Zeit gesundheitlich nicht ganz wohlgefühlt haben mußte (stimmt, ich hatte ja auch herzlich schlechte Schulzensuren gehabt! – andererseits aber, daß ich später auch einmal in der Lage sein würde, Töchtern weibliches Geschlecht zu vererben. Und das war ja ganz beruhigend, denn natürlich hätte ich, wenn ich später mal Vater wurde, genau so gern ein paar Mädchen unter meinen Kindern gehabt, wie Söhne.

Andererseits, dachte ich abschließend mit einem gewissen Grimm, war es natürlich wieder typisch für die Erwachsenen, mir eine so wichtige und interessante Sache vollkommen zu verschweigen: sogar in all den Büchern, die ich bisher gelesen hatte, wurde so etwas mit keinem Wort erwähnt – obwohl ja schließlich auch der tollste Romanheld mal Zeiten haben mußte, in denen er sich „wie eine Frau“ fühlte! (Das erklärte nun endlich auch, warum sich zum Beispiel der Detektiv Nobody manchmal so täuschend als elegante Dame ausgeben konnte!) Oder war diese ganze Sache so selbstverständlich, daß man sie deshalb nicht erwähnte – so wie all diese Helden sicher auch mal aufs Klo mußten, ohne daß dies jemals zur Sprache kam?

Nun, vielleicht – dachte ich, nun nach dem langen Wachbleiben und all den Aufregungen doch auf einmal kräftige Müdigkeit spürend – lag das alles auch daran, daß ich keine Eltern gehabt hatte, die mir all diese Dinge rechtzeitig und ausführlich erklären konnten? Ich angelte mir noch einmal das Fotoalbum heran und suchte das Bild, wo die schöne Frau dem schlanken Mann gegenüberstand: wenn das meine Eltern gewesen waren, dann hätte ich sicher auch mit ihnen über all solche Fragen reden können …

Und mit diesem Gedanken und dem Bild der beiden Gestalten vor Augen schlief ich endlich ein.

Nachwort:

Nunmehr also zur Unterscheidung von – um mit Goethe zu sprechen – “Dichtung und Wahrheit”. Nach den Angaben des Autors beruhen auf realen Erinnerungen:

  • Die ihm gegebene erste Erklärung über den Unterschied zwischen Jungen und Mädchen.
  • Seine abfälllige Einstellung zu “kleinen Mädchen” und im Gegensatz dazu seine Verehrung für “erwachsene Frauen”
  • Seine ersten Gedanken über “echte” und “unechte” Frauen
  • Die doppelte “Kreuzritter-Krisis” über “Nanna” (=Schwester) und “Schule” nebst anschließender Krankheit und “Verfremdungs-Gefühl”
  • Übergang auf “gemischte” Privatschule mit Jungen und Mädchen nebst “Haarzerr-double-standard”
  • Eine Episode als “Abenteuer-Regisseur” mit einem etwa gleichaltrigen Mädchen (während eines Urlaubs)

Diese hat er dann allerdings zu einer umfassenden Erfindung eines ganzen “Mitspielerinnen-Harems” ausgebaut – wie auch die “Mädchenmantel-Episode” erfunden ist: was natürlich den Biographie-Analysten maßlos ärgert: denn die wird ja hier als der Drehpunkt zu den nächsten “Mädchen-Träumen” benutzt – jetzt weiß man wieder nicht, wie die wirklich starteten!
Denn diese Phantasien nun – sagt der Autor – habe er von einem bestimmten Punkt an mehr oder weniger alle wirklich gehabt.

Die ganze “Schreibtisch- und Album-Story” ist natürlich handlungsbezogen erfunden (wenn auch die erwähnten Artikel und Notizen real sind)

und bei den (wörtlichen!) Pschyrembel-Zitaten und ihrer Interpretation ist dem Autor natürlich seine doppelte Neigung zu Spekulation und Ironie total durchgegangen
(obwohl sich da sowohl Ansätze für den späteren “Animagie”-Dialog” wie für die geplante “Vater-Sohn”/”Mutter-Tochter”-Handlung – eine Super-Phantasie des reifen Hellmut Wolfram – finden!)

Befragt, was denn nun wirklich der “Drehpunkt” gewesen sein könne, gab der Autor leider nur vage Vermutungen von sich – was die Jula-These bestätigen könnte, daß eben der ganze “Mädchentraum-Komplex” doch von Anfang an angelegt gewesen sei: und möglicherweise durch die “Kreuzritterkrise” nur ans Licht kam?