Eine Hommage an eine Frau mit vielen Namen

Kategorie: Geschichten (Seite 1 von 2)

Wauwau beißt

Sie fragen mich, ob ich denn nie Angst habe, wenn mein kleiner Svante so allein in den Wäldern umherstreift ? Oh nein, ihm wird nichts zustoßen; davor habe ich keine Angst. Davor nicht…

Sie wissen ja: Svante ist auf der Straße zur Welt gekommen. Genauer gesagt, in meinem Lastwagen. Wir wären wohl auch nicht mehr früh genug zur Klinik in der Stadt gekommen, wenn uns die gebrochene Brücke nicht aufgehalten hätte – und ich weiß nicht, was geworden wäre, wenn wir den alten Mann nicht bei uns gehabt hätten. Ja, gute Taten finden ihren Lohn, sagt man ja wohl – aber Gott weiß, daß ich am liebsten vorübergefahren wäre, als er mit seinem Hund aus dem Nebel auftauchte und uns winkte – und daß ich den ganzen Weg über nach einer Ausrede suchte, um ihn wieder abzusetzen. Ihn und seinen Begleiter – obgleich meine Frau noch heute schwört, er habe gar keinen Hund bei sich gehabt. Nun, das mag stimmen – vielleicht war es kein Hund …

Aber jedenfalls weiß ich, daß etwas neben mir aufgeheult hat, gerade vor der Brücke – und daß wir bei dem Nebel wahrscheinlich blindlings in den Abgrund gefahren wären, wenn ich nicht vor Schreck über dieses Heulen gebremst hätte. Und dann standen wir mitten in den Wäldern – und die Wehen setzten ein. Man ist ja so verdammt hilflos dann – aber der Alte schien mehr davon zu verstehen; ich weiß nicht, wie er es fertiggebracht hat, auf einem dreckigen Lastwagen, ohne Instrumente und heißes Wasser, ohne richtiges Licht sogar: doch schließlich trat er zu mir und wies mir ein kleines helles Bündel von Tüchern mit einem krebsroten Gesichtchen darin, und Hanna lächelte mir ermattet zu, und dann mußte ich den Wagen wenden und bin nach Hause zurückgefahren. Der Alte? Ja, Sie werden mich auslachen – aber ich weiß, daß er über die Brücke davongegangen ist. Obgleich sie nicht mehr da war. Mit seinem Hund – oder vielleicht auch ohne ihn …

Sie merken, daß ich oft stocke. Tja, ich habe die ganze Geschichte noch nie einem Fremden erzählt – und den Leuten hier herum brauche ich sie ja nicht mehr zu erzählen. Nun, also – wir kamen gut zuhause an, Svante war ein kräftiges und gesundes Kind, und auch Hanne erholte sich bald wieder. Aus diesen Jahren weiß ich nichts Besonderes zu berichten – nur die Sache mit der wilden Katze – aber nein, das ging ganz natürlich zu. Sie muß durchs Fenster hereingekommen sein – wir wohnen ja so dicht am Wald – und wenn ich sie nicht gepackt und ihr den Hals umgedreht hätte, als ich ins Zimmer kam, hätte sie Svante in seinem Bettchen übel zurichten können. Trotzdem – sie war schon halb verblutet, von einem mächtigen Biß im Genick; wer weiß, womit sie sich im Wald schon gebalgt hatte …

Seltsamer war die Geschichte mit Ole. Damals war er ein wilder Kerl und nahm den Kleinen gern ihr Spielzeug weg; ich sah ihn gerade davonrennen, als Svante hinter ihm herschrie „Meine! Du böse Jung – Wauwau beißt!“ und dann in arges Geheul ausbrach. Na, ich hatte ihn bald getröstet, und am Abend lag der Spielbär, den Ole ihm weggerissen hatte» wieder auf dem Fenstersims. Das war schon seltsam – aber seltsamer noch war, daß Ole sich erst spät des Nachts zum Hause seiner Eltern schleppte und nur immer wieder wimmerte: „Der Hund – nehmt doch den Hund weg – Mutter, der Hund!“ Er ist seitdem, sagt man, nicht mehr ganz richtig im Kopf, der Ole.

Aber das, was ich nicht mehr vergessen kann, ist die Nacht, als wir den Wald absuchten. Es gab damals einen Unhold in der Gegend – zwei kleine Kinder hatte man schon tot im Wald gefunden; fragen Sie mich nicht, wie die Leichen aussahen – und nun war Svante verschwunden. Mit einem Mann sei er gegangen, sagten die anderen Kinder. Sie können sich vorstellen, wie mir zu Mute war? Oh nein, das kann man sich nicht ‚vorstellen‘ – und ich wünsche es keinem, daß er es erleben muß!

Mit Fackeln haben wir den Wald abgesucht – es war Wahnsinn, aber wir hatten Glück: wir fanden Spuren – große grobe Stiefel, und daneben ab und zu ein kleines Füßchen. Der alte Björnsen, der sich aufs Spurenlesen versteht, sagte, er sehe noch eine dritte Spur – wie von einem großen Hund; aber was sollte ich damit! Wir folgten den Spuren, verloren sie, fanden sie wie durch ein Wunder wieder – und am Ende fanden wir auch die Beiden.

Ich dachte erst, Svante sei tot. Aber er schlief nur – mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen. Der Mann aber, den wir ein paar Schritte weiter liegen sahen – oder besser gesagt, das, was noch von ihm übrig war: tja, der alte Björnsen sagte, er habe mal in seiner Jugend so etwas gesehen, als damals in dem harten Winter hungrige Wölfe – aber sprechen wir nicht weiter davon.

Manchmal wünsche ich mir, ich könnte den Alten noch einmal treffen, der Svante damals in die Welt geholt hat – doch ich glaube, es ist besser, ich sehe ihn nie mehr wieder. Der alte Björnsen schwört, es sei einer von denen aus dem geächteten Kloster zu Norren gewesen – doch der alte Björnsen steckt voll seltsamer Geschichten, und man darf nicht viel auf ihn geben. Aber auch was der Pfarrer sagte, als wir damals beim Schein der Fackeln im Walde standen und die Spuren im Boden sahen – grober Stiefel, kleiner Fuß und jene dritte Spur: das von den unschuldigen Kindern und ihrem Schutzengel …

Ich weiß nur: etwas hat Svante in jener Nacht beschützt – und schützt ihn wohl auch heute noch; aber ob es ein Engel war – darüber denke ich nicht gern nach …

Tanten-Fragment

Erster Zwischenbericht
über Recherchen zu den Themen “Tante” und “Dienstmädchen”]
in den Fragmenten des Hellmut Wolfram

[Bei den Vorarbeiten für meine Abschlußarbeit zum Erwerb der Würde einer literarisch-erotischen Diplom-Haushaltshilfe stieß ich unter anderem auf ein Fragment, das vermutlich gerade für Freundin Jula von großem Interesse sein dürfte, weil es in frappierender Beziehung zu ihren Bemerkungen vom 18. Oktober steht.
Margot Trugmaid, Diplomkandidatin]

In seiner “Nachbremischen Frustrationsperiode” hat Hellmut Wolfram immer wieder einmal – zwischen seinen sachlichen und wissenschaftichen Arbeiten – zur Abreaktion nicht realisierbarer Umkleidungs-Impulse rasch mal ein paar Seiten über irgendeine imaginäre TV-Situation in die Schreibmaschine geklopft, die meist ohne ernstliche Handlung oder Pointe abbrechen. In diesem i.a. weder literarisch noch psychologisch besonders wertvollen Material findet sich auch das folgende Fragment, welches das sonst vergleichsweise selten auftretende Motiv einer “den Neffen unter ihre Fittiche nehmenden selbstbewußten Dame” auftaucht.

(Solche Damen sind in der übrigen TV-Amateurliteratur natürlich an sich äußerst häufig: wenn man mal die “Dominanten” ausscheidet, die den – insgeheim davon Begeisterten – in die Kleider zwingen, sind es vor allem liebevolle Mütter, die ihrem Sohn zu einer Zweit-Existenz als “Tochter” – die sie schon immer gern gehabt hätten – verhelfen; manche gehen sogar soweit, ihren durch die Damenunterwäsche allzu erregten Sohn selbst manuell wieder zu beruhigen, damit er sich dann weiter schmücken kann! Falls sie ihn aber nicht gleich zur Operation anmelden, suchen sie ihm eine verständnisvolle Frau, die er dann in schönem Brautkleid ehelichen kann usf. )

Da die hier auftretende Tante gewisse eigenwillig von diesem Schema abweichende Züge aufwies, habe ich mich zunächst erkundigt, ob für diese etwa irgendeine reale Tante des Autors Modell gestanden habe. Das, erklärte er glaubhaft, sei nicht der Fall: wie sie ja auch optisch durchaus nebelhaft bleibt – ihr hervorragendster Zug ist ja nur die Begeisterung, mit der sie ihre unerwartete “Nichte” willkommen heißt und so perfekt wie möglich machen will (in der Tat gegen Ende hin möglicherweise ein wenig z u perfekt?).

Aber nun hier erst mal der Text – der eingeklammerte Titel wurde von mir nachträglich ergänzt:

[Eine äußerst hilfreiche Tante]

An diesem Samstag langweilte ich mich maßlos.

Tante Lissy war schon zu nachtschlafender Zeit mit dem Zug in die Kreisstadt gefahren, wo sie jedesmal ihre Einkäufe fürs Wochenende machte, und würde erst gegen zwei zurückkommen – sie hatte mir zwar den Frühstückstisch noch gedeckt und Kaffee warm- gestellt, aber mich dann mit einem Zettel gebeten, ich „solle alles schön in Ordnung bringen und das Mittagessen für zwei Uhr aufwärmen“ – wobei „alles schön in Ordnung bringen“ sich offenbar auch auf den Berg schmutzigen Geschirrs bezog, der von gestern, vermehrt um das heutige Frühstückszeug, noch herumstand!

Nicht, daß mir das allzu viel ausgemacht hätte – ich hatte ja schließlich zuhause auch oft im Haushalt geholfen – aber im Grunde war ja aufräumen, abwaschen und Essen aufwärmen doch ausgesprochen Arbeit für ein Dienstmädchen, nicht für einen zu Besuch gekommenen Neffen!

Während ich das so dachte, überfiel mich auf einmal eine Idee, die weittragende Folgen haben sollte.

Warum sollte ich diese ganze Arbeit nicht wirklich, statt als Junge, als „Dienstmädchen“ machen? Mich mal richtig wie ein Mädchen anzuziehen – der Gedanke hatte mich schon immer insgeheim gereizt: und hier hatte ich einen ganzen langen Vormittag Ruhe dazu, es würde die einigermaßen langweilige Hausarbeit mit einem abenteuerlichen Zug würzen, und nicht zuletzt Tante Lissy auf originelle Weise (und ohne daß sie es allzu übelnehmen konnte?) darauf hinweisen, daß sie mir doch ein wenig komische Dinge aufhalste!

Noch halb unentschlossen, schaute ich mich in der Küche um; da hing Tante Lissys buntgeblümter Küchenkittel – der müßte mir passen, denn wir hatten etwa die gleiche Größe – und daneben eine blaue Gummischürze – auch genau das Richtige fürs Geschirrabwaschen (zudem waren mir Gummischürzen, mit ihren neckischen Gummifalbeln am Rand und ihrem eigentümlichen Schlabbern bei jeder Bewegung, immer besonders mädchenhaft vorgekommen).

[Anmerkung: hier ergeben sich einmal detailliertere Aufschlüsse über die zweifellos etwas fetischistische Rolle solcher Gummischürzen – wie ja auch ich sie, allerdings noch ohne Falbeln, während meiner Recherchen trage; näheres dazu später beim Thema “Dienstmädchen”.
Margot Trugmaid]

Fehlte also nur noch dreierlei: Strümpfe und Schuhe – irgendwas für den Kopf, um meine kurzen Haare zu verdecken – und natürlich ein schicker Mädchenbusen!
Das Erste war das Komplizierteste: wenn mir nun Tante Lissys Schuhe gar nicht paßten?

Ich beschloß, die Ausführung der ganzen Idee davon abhängig zu machen: sozusagen als eine Art Orakel. Aber als ich im Flur am Schuhschrank wahllos irgendein Paar Pumps herausholte und – noch über meinen Socken – mit dem Schuhanzieher den rechten Schuh anprobierte, saß er wie angegossen!
Also würde ich es machen! Aber dann – fiel mir ein – kam noch allerhand dazu, um es wirklich richtig zu machen: Damenstrümpfe hielten – im Gegensatz zu Socken – nicht von allein, sondern mußten, wie ich aus Anzeigen wußte, auf ziemlich komplizierte Weise an Strumpfhaltergürteln verankert werden. Ebensowenig schwebte, wie ich aus der gleichen Quelle wußte, ein Busen von allein vor der Brust: sondern er bedurfte gleichfalls eines wohldurchdachten Halters!
Augenblick hätte ich da beinahe die Courage wieder verloren: denn all diese Dinge zu beschaffen, hieß natürlich Tante Lissys durchaus intimere Kleiderschrankfächer oder Schubladen zu durchwühlen – was sie durchaus hätte übelnehmen können. Aber – wie war es mit der Truhe für gebrauchte Wasche im Badezimmer?

Tatsächlich fand ich, als ich die ausräumte, alles, was ich für meine Maskerade brauchte: einen rosa satinschimmernden Hüftgürtel mit klirrenden Strumpfhaltern – einen ebenso rosa schimmernden Büstenhalter (beide kaum benutzt) – lange braune Seidenstrümpfe; und sogar noch einen rosa Unterrock mit hübschen Spitzen, den ich nach kurzem Überlegen gleichfalls mit aufsammelte.
Mit all dieser Beute zog ich mich in mein Zimmer zurück, zog mich bis auf die Unterhose aus und versuchte erst einmal den Büstenhalter umzuschnallen. Das gelang mir natürlich nur mit einigen Schwierigkeiten, da ich ihn hinter dem Rücken – ohne etwas zu sehen – zusammenhaken mußte, was ich erst beim dritten Versuch schaffte: aber dann saß er ganz glatt und stramm – allerdings noch, ohne das Geringste in seinen wohlgerundeten Schalen zu „halten“!

Was konnte man da nehmen? Nach kurzem Überlegen griff ich zu zwei Paar zusammengerollten Socken aus meinem Koffer und stopfte sie in die leeren Schalen, die sie zu hübschen Halbkugeln formten. Jetzt richtig aufgeregt, zog ich den Unterrock über den Kopf, streifte ihn herunter und glatt – und konnte im Spiegel wirklich ein höchst naturgetreu wirkendes Mädchen-Oberteil bewundern!
Mein Stolz darauf ging allerdings gleich wieder verloren, als ich versuchte, den Hüftgürtel richtig umzulegen: was war da innen und was außen, was vorne und was hinten? Ich mußte tatsächlich erst auf nackten Füßen hinunterlaufen und eine von Tante Lissys Frauenzeitschriften durchblättern, bis ich aus einem Miederinserat die nötigen Aufschlüsse gewann: und dann war es mindestens nochmal genau so ein Problem, die empfindlichen dünnen Seidenstrümpfe ohne Falten (und so, daß die Nähte hinten nicht total schief saßen!) an die Beine zu kriegen und mit den klirrenden Strumpfhaltern zu verankern!

Doch als das geschafft war, ging es nun sehr schnell, ein Paar Schuhe – vorsichtshalber mit nicht zu hohen Absätzen – herauszusuchen und anzuziehen und in der Küche den geblümten Kittel überzustreifen, zuzuknöpfen und unter dem Bindegürtel glattzuziehen: und als ich vor den langen Spiegel in der Diele trat, schaute mir aus ihm bereits eine ganz echt mädchenmäßig aussehende Figur entgegen – bis, allerdings, auf den Kopf.
Da mußte ich mir nun jedenfalls noch etwas einfallen lassen!

An der Garderobe hing ein bunter Schal – wenn ich den irgendwie über die Haare band? Ich probierte es: ja, wenn man die kurzen Haare nicht mehr sah, war der Effekt schon ganz verblüffend! Aber da fehlte noch immer was? Ach so, rote Lippen?!

Wieder raste ich ins Badezimmer, wo unter dem Spiegel allerlei Kosmetika Tante Lissys standen. Nach einigem Experimentieren und Herumschmieren – einmal mußte ich wütend alles mit Seife wieder abwaschen, weil ich mehr wie ein Zirkusclown aussah denn wie eine junge Dame – hatte ich es aber geschafft: was ich jetzt im Spiegel sah, war tatsächlich kein Jungengesicht mehr, sondern ein hübsches Mädel mit vollen roten Lippen, pfirsichfarbenen Teint und wohlgeschwungenen Brauen!

Daß auf dem Bord unter dem Spiegel auch noch ein paar Ohrringe lagen, verführte mich, die auch noch zu verwenden (glücklicherweise hatte Tante Lissy keine Ohrlöcher, sondern verwendete noch die altmodischen Schraubohrringe) – und ich merkte, daß sie den mädchenhaften Eindruck meines seltsam verwandelten Gesichts noch verstärkten.

Ich hatte mit alledem tatsächlich fast zwei Stunden vertrödelt – und klapperte jetzt einigermaßen hastig in Tante Lissys schwarzen Lackpumps in die Küche, um mich an meine Mädchenarbeit zu machen. Während ich Abwaschwasser ins Becken laufen ließ, band ich mir – einigermaßen triumphierend – die Gummischürze um, um die ich unsere Dienstmädchen so manches Mal beneidet hatte: lief sogar eigens nochmal in den Flur vor den Spiegel, um mich daran zu freuen, wie sich der glatte blaue Gummi hübsch über meinen falschen Dienstmädelbrüstchen straffte und beim Gehen – ich versuchte schüchtern, dabei die schmalen Hüften mädchenhaft zu schwenken – um meine Schenkel raschelte.
Eins jedenfalls hatte ich richtig berechnet: die Abwascherei und ganze Hausarbeit machte mir zehnmal soviel Spaß, wenn ich dabei wirklich als hübsches Dienstmädchen herumschwänzeln durfte! Und obwohl ich immer wieder einmal vor dem Spiegel haltmachte, um mich zu bewundern und mädchenhafte Posen auszuprobieren, hatte ich im Handumdrehen alles geschafft – und das Mittagsessen (es gab irgendeine zusammengekochte Gemüsesuppe) pünktlich auf dem Herd stehen, als ich den Schlüssel in der Flurtür hörte: und gleich darauf Tante Lissy in die Küche trat.

Ich hatte mir zwischendurch immer wieder überlegt, wie ich sie empfangen sollte – vielleicht mit einem tiefen Knix und „gnä’ Frau“ ? – aber jetzt traf es sich so, daß ich gerade mit den Löffel am Topf probiert hatte, ob das Essen schon warm genug sei: und so blieb ich in dieser Pose – schlug nachdenklich die Augen gegen die Decke – nickte dann befriedigt und spülte den Löffel, ohne mich recht nach Tante Lissy umzuschauen, unter dem Wasserhahn ab.

Die Tante war erst einmal – völlig verblüfft, ein fremdes Mädchen mit schönster Selbstverständlichkeit in ihrer Küche herumwirtschaften zu sehen – in der Tür stehen geblieben, die Hände noch voller Einkaufstüten; hatte mich dann, während ich unbeirrt meiner Haushaltsroutine weiter nachging, ein über das andere Mal gemustert und schließlich unsicher „Erich – – ?!“ gefragt – worauf ich ihr nun doch, wenn auch stumm, mit einem (hoffentlich) recht mädchen¬haften Knix antwortete …

Aber dann hatte sie die Situation endlich begriffen, ließ ihre Tüten auf den Boden sinken und brach in einen entzückten Schrei aus:
„Aber – das ist ja s ü ß !“ Sie schaute mich nocheinmal – jetzt mit vollem Genuß – von oben bis unten an und sagte dann fast andächtig: „Also – was wärst Du für ein hübsches Mädel geworden! ! ! „

Ich spürte, daß ich – vor Stolz oder Verlegenheit – fast ein wenig rot wurde: und schlug züchtig die Augen nieder.

Tante Lissy kam näher, mich noch immer Zoll für Zoll musternd:
„Aber – per f e k t !“ sagte sie bewundernd. „Hübsche Beine hat er auch – und die F i g u r !“ Sie brach wieder in entzücktes Lachen aus. „Wie hast Du das bloß gemacht?!“

Mir fiel nichts anderes ein, als verlegen meine Gummischürze über den Hüften glattzustreichen – da schloß sie mich auch schon richtig in die Arme:
„Also Erich – oder: E r i k a ? – Du glaubst ja nicht, wie gut Du mir so gefällst!“ rief sie, während sie mich richtig liebevoll über den Rücken streichelte, „so bleibst Du jetzt, wenn wir essen – und überhaupt – „

„Überhaupt – “ nahm Tante Lissy den Faden wieder auf, als wir nach dem Essen noch am Tisch saßen und sie sich ihre unvermeidlich Zigarette angesteckt hatte, “ gefällst Du mir als Mädchen viel besser!“ Sie schaute träumerisch dem Rauch ihres ersten Zuges nach. „Ich hab mir eigentlich immer gewünscht, daß ich mal ’ne hübsche Nichte bekomme, die ich so richtig verwöhnen kann – aber ihr habt ja alle nix als doofe Jungens auf die Welt gebracht!“

Sie lächelte mir vertraulich zu: „Deshalb finde ich es ja so schick, daß Du das endlich mal geändert hast – und daß Du auch gleich noch so s ü ß ausschaust dabei! Wie bist Du nur darauf gekommen?!“

„Na ja – “ murmelte ich verlegen, „irgendwie hat mir das schon immer mal Spaß gemacht, mich als Mädchen anzuziehen – „

„Und das k a n n s t Du aber auch! Weißt Du, Du machst da auch so richtig die ganzen Bewegungen genau wie ’n Mädchen – also kein Mensch würde merken … „

Sie hielt inne und überlegte – dann breitete sich ein amüsiertes Lächeln über ihr Gesicht:
„Du – wie wär’ das denn, wenn Du den ganzen Rest der Ferien hier als Mädchen bleiben würdest?“

Ich muß wohl ein recht dummes Gesicht gemacht haben, denn sie fuhr eifrig fort:
„Also weißt Du – daß Du hier bist, das hat doch noch kein Mensch von meinen Bekannten überhaupt richtig gemerkt: und da sage ich einfach, ich habe jetzt die Tochter von – von einer Freundin von mir zu Besuch, die hier ihre Ferien verbringt!“

Und wie um mich nun noch endgültig zu überreden:
„Du – ich hab noch ’ne ganze Menge Sachen, die kann auch ein junges Mädchen tragen – und wenn Du willst, kaufen wir Dir auch noch irgendwas ganz schickes Modernes nächste Woche!“

Irgendwie rieselte mir bei dem Gedanken, ganze drei Wochen als Mädchen leben zu können, ein wonniger Schauer nach dem anderen über den Rücken – aber ich zwang mich, pflichtschuldig zu protestieren:
„Aber das geht doch nicht gut – mit den Haaren allein schon, und mit der Stimme – !“
Aber jetzt war Tante Lissy voll in Fahrt:
„Also – für die Haare: da besorge ich Dir eine ganz schicke Perücke – ich hab doch da unseren Theaterverein, da krieg ich sowas – und mit der Stimme brauchst Du Dir gar keine Sorgen zu machen: die jungen Mädel heute, die reden sowieso so alle halb wie die Jungens – wenn Du halt gerade ein bißchen leise sprichst, so zurückhaltend, dann merkt das kein Mensch!“ Sie schaute mich forschend an: „Oder würde Dir das überhaupt keinen Spaß machen, mal so eine ganz süße junge Dame zu sein?“

Ich spürte, daß ich wieder rot wurde: „Och – doch – aber – wenn Du meinst –

“ Sie nickte befriedigt:
„Also abgemacht: Du bist jetzt unsere kleine E r i k a – warte mal, wie alt bist Du? Also mit der F i g u r -“ sie kicherte wieder ein bißchen , „da können wir leicht sagen achtzehn, neunzehn, zwanzig – und Du bist in den Ferien gekommen, um bei mir ein bißchen den Haushalt zu lernen – das macht Dir doch Spaß, oder – ? Du hast das doch alles so wunderhübsch ordentlich gemacht, das Geschirr und alles – und natürlich kann ich mit der T o c h t e r von meiner Freundin auch viel schicker ausgehen – ins Café und Kino (da kannst Du doch in alle nicht jugendfreien Filme so !) und in die Stadt: und dann sollst Du mal sehen, was meine Bekannten alle sagen, was Du für ein hübsches Mädel bist!“

Sie schüttelte sich innerlich vor Lachen: „Die paar Kleinigkeiten bring ich Dir leicht noch bei, daß Du eine perfekte junge Dame wirst – da müssen wir die Augenbrauen noch ein bißchen zupfen, und die Nägel lackieren, und – “ sie musterte mich kritisch,“ na ja, die Hüften könnten noch ein bißchen voller sein, und so – aber das kriegen wir alles noch hin!“
* * *
[An dieser Stelle hatte der Autor – entgegen seiner sonstigen Gewohnheit, jedes weitere Kostümierungs- oder Rollen-Detail genußvoll auszumalen, einfach mitten auf der Seite den Ablauf mit drei Sternchen unterbrochen: um danach plötzlich recht unvermittelt in ein viel späteres Stadium zu springen: anscheinend war der LG-Druck so groß, daß er jetzt gleich in die Vollen gehen mußte?
Margot Trugmaid
]

„Was, Erika – Du hast ein R e n d e z v o u s ?!“ rief Tante Lissy begeistert.

„Aber da kann ich doch nicht hingehen – l“ protestierte ich.

„Und ob Du kannst – Du m u ß t ! Jedes junge Mädchen muß ein Rendezvous haben!“

„Aber ich bin doch gar kein Mädchen!“ wandte ich verzweifelt ein.

„Na dann umso mehr!“ entgegnete Tante Lissy unlogisch, „das ist doch der schönste Beweis dafür, daß Dich jeder für ein Mädchen hält! Du mußt ja – “ beruhigte sie mich, „gar nichts Besonderes machen – das tut ein wohlerzogenes Mädchen sowieso nicht – bloß höchstens so ein bißchen rumküssen – „

„Rumküssen ?“ fragte ich entsetzt.

„Na ja – nun sag bloß, Du kannst nicht küssen!“ meinte sie entrüstet – und ehe ich mich versah, hatte sie mich in die Arme genommen, und drückte mir einen kräftigen Schmatz auf die roten Lippen. „Und nun paß mal auf – “ fuhr sie fort, meinen Kopf in beide Hände nehmend, „jetzt preß mal die Lippen nicht so verzweifelt aufeinander, sondern laß mich mal ein bißchen machen – “ und plötzlich schob sich ihre kleine flinke Zunge zärtlich zwischen meine Lippen, während ihre Hände meinen Kopf unerbittlich festhielten – „nun mach schon die Zähne auseinander, Du keusche Susanne!“ flüsterte sie, einen Moment unterbrechend – und dann begannen unsere Zungen auf einmal ein seltsames und, wie ich zugeben mußte, angenehmes Spiel miteinander, während Tante Lissy ihren warmen Leib wohlig gegen den meinen preßte, gelegentlich ein wenig hin— und herrutschend.

„Na – macht das keinen Spaß?“ fragte sie dann, mich freigebend, noch schwer atmend.

Ich war noch vollkommen durcheinander:
„Und das soll ich – auch – ?“

Sie sah mich groß an: „Wenn es sich ergibt – meine ich! Bloß daß Du dann nicht dastehst wie ’ne hölzerne Puppe – das haben die jungen Herren nicht so gern!“

Ich wußte nicht, was ich sagen sollte – der Gedanke, daß ich da plötzlich wirklich wie ein Mädchen in den Armen eines jungen. Mannes liegen könnte, war ebenso erschreckend wie prickelnd reizvoll!

„Nun los – mach Dich hübsch!“ fuhr mich Tante Lissy liebevoll an. „Oder willst Du etwa keinen guten Eindruck machen?“

Noch immer wie halb im Traum ließ ich mich von ihr ins Schlafzimmer führen und wie für einen. Bühnenauftritt aufputzen:
„Hmmm – da ziehst Du am besten eins von meinen Miederhöschen an: da ist alles gut verpackt, wenn er wirklich da mal hinfassen, sollte – dann gibst. Du ihm übrigens ’ne Ohrfeige und wirst eiskalt, denn sowas schickt sich nicht beim ersten Rendezvous! – aber darüber kannst Du dann schon recht hübsche Tändelwäsche anziehen, f a l l s es sich mal ergäbe, daß er davon was zu sehen bekäme: und so ein b i s c h e n Parfum spritzen wir da auch drauf! “ Sie guckte in den Kleiderschrank: „Und dann vielleicht am besten so ‘nen Pullover mit Rollkragen – da bist Du oben auch so zu, daß er zwar ein bißchen über die Brüstchen streicheln könnte, aber nicht richtig ran …”

Sie warf einen Blick aus dem Fenster:
“ – und – ach Du lieber Gott, das fängt ja auch noch an zu regnen! Was machen wir denn da ? „

„Vielleicht Dein Regencape?“ schlug ich vorsichtig vor.

„Ach ja – das ist vielleicht sogar ganz schick, mit der Kapuze über Deinen Löckchen – paß bloß auf, daß da nichts verrutscht! -und vielleicht könntest Du auch noch die Regenstiefel dazu anziehen – wenn Du da mitten durch den Wald mußt – „

Und so geschah es auch: in Tante Lissys schwärzglänzenden Lackstiefeletten, das graue raschelnde Gummicape um die Schultern geworfen und die Kapuze tief ins Gesichtchen gezogen, stöckelte “Erika” durch den leichten Landregen zwischen den Bäumen auf die Waldlaube zu – im roten knappen Rollkragenpullover und hellgrauen Wickelrock über kessen falschen Brüstchen und Hüften, die Lippen einladend rot geschminkt und verlockend nach diskretem Parfüm duftend. Das Herz klopfte mir bis zum Halse, und beim Gedanken an das Kommende kroch mir ein Schauer über den anderen den. Rücken entlang:
auf der einen Seite hatte ich furchtbare Angst und gar eine Art Abscheu vor dieser ganzen Komödie – auf der anderen erregte es mich prickelnd, jetzt sozusagen den endgültigen Test meiner Mädchenrolle vor mir zu haben!

Ich holte noch einmal tief Atem, als ich vor der Waldlaube angekommen war, und drückte dann vorsichtig die Tür auf.

Tatsächlich stand er da.
„Oh, Fräulein Erika! Ich hatte schon Angst, daß Sie gar nicht kommen würden – bei dem Wetter!“ sagte er.

Sein bewundernder Blick reizte meine Eitelkeit bis zum äußersten: w a r ich nicht ein bildhübsches Mädchen? Und w a r er nicht scharf darauf, mit mir hier allein in der Laube zu sein ?! Ohne zu überlegen, trat ich viel näher auf ihn. zu, als ich vorgehabt hatte, und sagte mit dunkler verheißungsvoller Stimme:
“Dann – s t ö r t uns doch wenigstens niemand – ?“

Dabei muß ich. ihn wohl so erwartungsvoll von unten herauf angesehen haben – der Teufel hole Tante Lissy und ihre Zungenkünste! daß er tatsächlich sofort den Mut bekam, mich – Regencape und alles! – vorsichtig in die Arme zu nehmen…
Ich schlängelte meine – bis zum Oberarm nackten weißen glatten – Arme vorsichtig durch die Schlitze des Capes, bis ich sie , einigermaßen. zögernd, um seinen Oberkörper legen konnte – und ließ dabei den Kopf sanft in den Nacken sinken, daß die Kapuze von meinen falschen schwarzen Locken glitt.

Dieser Anblick nun – ob berechnet oder nicht – entflammte ihn nun genau zu dem, worauf ich innerlich ja schon die ganze Zeit vorbereitet war: zum ersten zögernden Kuß.

Es war ein ganz eigentümliches Gefühl, plötzlich diese trockenen Lippen – und darüber ein paar trotz Rasierens kratzende Bartstoppeln – auf den meinen zu spüren, während sich seine kräftigen Arme enger um meinen Leib schlossen: aber jetzt war ich einmal bei der Küsserei – warum dann nicht auch richtig, dachte ich und öffnete langsam erst die Lippen, dann die Zähne – und wagte schließlich auch die Zungenspitze hervor.

Er schmeckte etwas nach Tabak – hatte wohl beim Warten eine Zigarette geraucht – aber im Prinzip machte er alles fast genauso wie Tante Lissy. Jetzt wurde mir auch klar, warum dieses „Rumküssen” eigentlich völlig ungefährlich war: was den Mund angeht, sind Männer und Frauen nun wirklich so gleich gebaut, daß niemand einen Unterschied bemerken konnte. Und als mir das klar geworden war, gab ich mich mit vollem Genuß dem neuen reizvollen Zungenspiel hin…

Anmerkungen

Anm. Jula: Wiederum von der Diplomandin Trugmaid

Hier bricht das Fragment – gerade mit einem Seitenende – ab: ich glaube nicht ganz fehlzugehen in der Annahme, daß der Autor an dieser Stelle das Gefühl hatte, wenn er jetzt noch weitermache, gerate er auf eine derart glitschige und schiefe Ebene, daß er nicht mehr bremsen könne – sowohl was die Handlung betrifft: wie soll das denn – bei aller begeisterten Hilfe Tante Lissys – um Himmelswillen noch weitergehen oder gar enden, wenn nicht mit einer totalen Katastrophe irgendwelcher Art?

Wie auch, was die seine eigene Identifikation mit dem berichtenden “Ich” betraf: w o l l t e er insgeheim etwa wirklich mit (auch verdächtig nebulos bleibenden) jungen Herren “rumküssen” – und falls ja, was dann um Himmelswillen etwa noch alles?!

Es ist sehr aufschlußreich, dies Fragment etwa mit den (späteren) längeren Entwürfen um Sylvia, Anton und Susi zu vergleichen: in denen ist “Sylvia” zwar als Mädchen mit allerlei Männern von Herrn Mertens bis Törnewald unterwegs – landet aber am Ende doch mit Pamela im Bett; “Anton” dagegen ist zwar voll entschlossen, alles zu machen, was eine “falsche Frau” tun müsse – wenn ihm bloß jemand erklären würde, was das eigentlich alles ist (fehlt eine “Tante Lissy”!)

Und in “Susi” kann und weiß die zwar schon alles, was Anton erst noch lernen muß – aber der Erzähler ist diesmal genau der andere Partner (und wird am Ende von Susi zu einer “reifen Frau” weitergeschickt):
spürbar kämpft der Autor also jedesmal darum, nicht “ausversehen” in eine Situation wie “Erika” zu geraten – in der er die Kontrolle über sich (und die Folgen) verlieren könnte: und daß es im Grunde die allzu “hilfreiche” Tante Lissy war, die “Erika” aus lauter Begeisterung in diese Situation gebracht hatte, scheint ihn mißtrauisch gegen die Einführung ähnlicher Tanten in künftige Handlungen gemacht zu haben?

Anscheinend fühlt er sich allemal viel sicherer, wenn er den Weg ins Anima-Reich auf eigenen Faust und Verantwortung antreten kann – statt “entlastend” von einer Helferinnenfigur “an der Hand genommen zu werden” (und nicht so ganz sicher zu sein, wohin und wie weit die ihn eigentlich führen wird?).

Anmerkung von mir (ich will ja auch mal mitreden!):
nicht nur im Anima-Reich – sondern generell: bei der Wahl, über irgendein Thema “geschult zu werden” oder auf eigene Faust in der einschlägigen Literatur herumzustöbern, gewinnt bei mir regelmäßig der Bücherstoß
hwhcerf

Anm. Jula: „hwcerf“ ist das Kürzel, das die männliche Version von HEKATE, die eher technisch, pragmatisch ausgerichtet war, verwendete.

Sechse treffen – Sieben äffen

Anm. Jula: eine reine SF-Story

Eben war da noch ein Berg gewesen – jetzt war es eine weißviolette Hölle von Glut und stratosphärenhoch geschleuderten Felstrümmern.

“Kettenreaktion”, sagte der Professor lakonisch. “Die Bomben des Arsenals wurden sozusagen automatisch mitgezündet ….”

Marschall Boro war aufgestanden und starrte mit verschränkten Armen auf den Bildschirm an der Wand des kleinen Raumen; Kommissar Trossa lehnte sich in den tiefen Klubsessel zurück und blies den Rauch seiner türkischen Zigarette gegen die Decke.

Der Professor warf einen Blick auf seine Tabellen. “Ich schalte das Videogerät jetzt um – Nummer Vier muss in einer halben Minute am Ziel eintreffen!”

Der Marschall trat an den nächsten Bildschirm, kleine gelbhäutige Männer in weissen Kitteln und grotesken Atemmmasken hantierten mit flinken Händen an den Labortischen – fuhren plötzlich auf, standen einen Augenblick wie erstarrt und vergingen dann in einem grellweissen Leuchten.

“Das dürfte – Exzellenz Yangs Pläne etwas stören!” stiess der Marschall mit einem heiseren Lachen hervor. Kommissar Trossa blinzelte ein wenig – war es ratsam, dass ein Gelehrter (wenn auch ein sehr nützlicher Gelehrter!) merkte, dass auch ein Marschall Boro Nerven hatte?

“Doktor Mala war ein grosser Gelehrter – “, sagte er mit seidenweicher Stimme. “Sollte man glauben, dass er kurz vor seinem bedauerlichen Unfall mit dem Gedanken spielte, sein Videoprinzip der Weltregierung zur Verfügung zu stellen? Er war eben ein etwas weltfremder Idealist – kein so praktisch denkender Mann wie Sie – “

Der Professor verneigte sich leicht.
“Es ist eigentlich lustig”, erwiderte er mit einem dünnen Lächeln, “dass all diese Leute glaubten – beziehungsweise jetzt noch glauben, ihren sogenannten Vaterländern ganz im Geheimen zu dienen; während wir mit unseren Videogeräten sogar in die Maschinen und Panzerschränke hineinsehen können, von denen sie selber nicht wissen, was darin ist. Es ist überhaupt alles in einem gewis-sen Sinne sehr lustig – “, er unterbrach sich und stellte einen Hebel an der Schalttafel um. “Das strategische Elektronengehirn in Australien”, kommentierte er kurz. “In etwa fünfzig Sekunden….”

Als das Bild in blauweisser Glut zergangen war, fuhr er fort:
“Ja, sehr lustig, sagte ich. Wissen Sie, in meiner Heimat gab es eine Sage von einem Jägerburschen, der sich Mitternachts im Walde Kugeln goss – in einer Schucht, wo der wilde Jäger Samiel umgehen sollte.”

“Interessant – warum tat er das?” fragte Marschall Boro – er war für eine kleine Ablenkung von den Staatsgeschäften oft empfänglich.

“Oh – das waren sogenannte Freikugeln: Kugeln, die stets dorthin trafen, wo der Jäger es wollte. Sieben Stück konnte man jedesmal gießen – “

“Wie unsere sieben negatronischen Fernraketen – “ schaltete Kommissar Trossa lächelnd ein. Denkt noch an seine Heimat – dachte er; demnächst auf Zuverlässigkeit überprüfen lassen.

“Deren sechste in dieser Minute das letzte geheime Rüstungszentrum der Welt erreicht!” nickte der Professor. “Damit bleiben auf der gesamten Welt nur noch die Atombomben der Weltregierung ….”

“Die nicht ernst zu nehmen sind!” sagte Marschall Boro wegwerfend.
“…. und unser Hauptquartier als intakte militärische Befehlsstelle unseres Imperiums zurück – bis auf weiteres!” Er liess sich nach einer seiner kleinen Verneigungen in den Sessel nieder.

“Das Imperium weiss Ihre Verdienste zu schätzen”, sagte Marschall Boro und räusperte sich. “Große Aufgaben erwarten Sie – die Auswertung der Videofilme sämtlicher gegnerischen Entwicklungen – “

“Warten wir ab – “ fiel Kommissar Trossa ihm ins Wort. “Die Interzeptoren der Nordischen Union – “ Er hielt nichts von impulsiven Versprechungen.

Ein Aufleuchten des Bildschirms unterbrach ihn.
“Die Interzeptoren haben unsere sechste Rakete nicht aufgehalten”, stellte der Professor sachlich fest.

“Ausserdem hatten wir ja noch die siebte Rakete in Reserve!” fügte der Marschall verweisend hinzu. Kommissar Trossa denkt zuviel, fügte er für sich privat hinzu. Ich werde etwas unternehmen müssen.

“Wir könnten also jetzt die siebte Rakete auf den Sitz der sogenannten Weltregierung -” begann der Kommissar, aber der Professor unterbrach ihn:
“Ich sagte, bis auf weiteres existieren auf der Welt jetzt nur noch die Streitkräfte der Weltregierung – immerhin stark genug, um die anderen Völker zu zwingen, ihre Kriegsvorbereitungen in den besonders getarnten sechs Zentren zu konzentrieren, die wir jetzt zerstört haben; und unser Hauptquartier – aus dem gleichen Grund die einzige Konzentration militärischer Macht in unserem Imperium.”

“Das ist uns allen klar, Herr Professor!” In Trossas Stimme lag eine kaum merkliche Schärfe.

“Das freut mich -” sagte der Professor mit einem eigenartigen Lächeln. “Ich komme nun wieder zu der Geschichte von der Freikugeln – “

“Sie ist noch nicht zu Ende?” fragte der Marschall.

“Nicht ganz. Sieben Kugeln goss man jedesmal – und darüber gab es einen Spruch: ‘Sechse treffen – sieben äffen!’ “

“Und das bedeutet?”

“Sechs dieser Kugeln treffen die Ziele, die ihnen der Jäger bestimmt hat – aber die siebte Kugel lenkt Samiel selbst!”

Der Professor war wieder aufgestanden und sein Lächeln gab dem faltigen Gesicht eine seltsame Schönheit.
“Übrigens – Kommissar Trossa: Die Weltregierung hat die Pläne des Mala’schen Videogeräts damals bekommen. Allerdings nicht von Mala – sondern von mir – “

Der Kommissar sprang auf; aber noch bevor er etwas sagen konnte, schrie der Marschall, den Professor an den Schultern packend:
“Mann – was, zum Teufel, ist mit der siebten negatronischen Rakete ?!”

“Sie wird in dreißig Sekunden hier eintreffen ….” sagte Professor Samuel Zyklowski.

Olympia 2057

Anm. Jula: Die Geschichte wurde von HEKATE 2007 im Transtreff-Forum veröffentlicht.

Über die Story

Vor 50 Jahren – 1957 – konnte man schwerlich irgendwo eine TG-Story veröffentlichen. Aber am Sylvesterabend 1956 hatte das Fernsehen. Offenbachs Oper „Hoffmanns Erzählungen“ gezeigt – und als ich ein Motiv daraus mit Asimovs „3 Grundgesetzen der Robotik“ kombinierte, zwang mich das – zum Befremden von Frau und Kindern – den ganzen Neujahrstag an die Schreibmaschine, bis zwar keine TG-Story fertig war: aber doch die Geschichte einer schönen Frau, die gar keine war – und damit ihr Problem hatte…
Ich kann der nostalgischen Versuchung nicht widerstehen, sie – genau 50 Jahre nach ihrer Entstehung – nochmal hier in TransTreff zu stellen. (Alle, die finden sollten, daß sie hierhin nicht passe , bitte ich dafür um Vergebung – so etwas wird nicht nocheinmal vorkommen!)

Es war zehn Uhr abends, und ich schloß, daß es Zeit sei, zu Bett zu gehe». Nicht, daß es für mich nötig gewesen wäre; aber ich hatte ’schon seit Jahren gelernt, mich den Gewohnheiten der Menschen um mich her anzupassen – es hatte keinen Sinn, aufzufallen und dadurch Aufmerksamkeit zu erregen.

Was den nächtlichen Schlaf anging, war es einfach, diese Regel zu befolgen: Ich zog meine Kleider aus, legte mich ins Bett und konnte acht Stunden ohne Störung die Probleme zu lösen versuchen, die mir der Tag gebracht hatte. Was allerdings mich selbst anging, war es erheblich schwieriger, nicht aufzufallen und nicht die Aufmerksamkeit der Menschen um mich her – zumindest der Männer – zu erregen.
Ich streifte das Kleid über den Kopf und warf es auf einen Stuhl. Der hohe Spiegel des Frisiertisches warf mein Bild zurück: Blondes, welliges Haar, ein ovales Gesicht mit leuchtenden blauen Augen und roten, geschwungenen Lippen, glatte, leicht bronzefarben schimmernde Haut und ein Körper, von dem man mir schon gesagt halte, eine klassische griechische Frauenstatue müsse für ihn Modell gestanden haben (was übrigens wörtlich stimmte, obgleich diese Tatsache den Sprecher sehr überrascht haben würde). Es war ein ästhetisch zweifellos vollkommener Anblick, und ich konnte Walter Grow durchaus nicht verübeln, daß er mich heiraten wollte.

Er sah in mir eine Frau von ungewöhnlicher Schönheit, die überdies die geistigen Qualifikationen eines Wissenschaftlers und die Energie eines Raumschiffkapitäns besitzen mußte – die ideale Lebensgefährtin für einen jungen, ideenreichen und ehrgeizigen Ingenieur des 21. Jahrhunderts; er wäre geradezu sträflich dumm gewesen, wenn er nicht auf diesen Einfall gekommen wäre, der für mich das komplizierteste Problem meiner ganzen bisherigen Existenz heraufbeschwor – ich konnte es ihm nicht verübeln, oder exakt ausgedrückt: ich hätte es ihm auch dann nicht verübeln können, wenn es mir rein technisch möglich gewesen wäre, einem Menschen etwas zu verübeln.

Der Fehler in Walters Plänen lag nur darin, daß unter der glatten kühlen Haut, die er so bewunderte, Kunststoffschaum und Leichtmetallschienen lagen, daß die leuchtend blauen Augen durch komplizierte Plastiklinsen ein Bild der Außenwelt auf die Elektrode eines Ikonoskops warfen, und daß das Gehirn, dessen exaktes Denken er so schätzte, ein kompliziertes Platinschwammgebilde war – ein positronisches Gehirn eben.

Natürlich war es verboten, positronische Gehirne in äußerlich wirklich menschenähnliche Roboter einzubauen. Aber ebenso natürlich war es, daß sich eines Tages jemand über dieses Verbot hinwegsetzen würde. In meinem speziellen Falle war es Dr. Dr. Griffon – einmal Doktor der Rechtswissenschaft, einmal Doktor der Psychiatrie – eine Kombination, die eigentlich sehr nahe liegt, aber selten zu finden ist. Soviel ich feststellen konnte, beschäftigte sich Dr. Dr. Griffen mit dem etwas heiklen Problem der Ehekrisen, als er auf die Idee kam, einen „weiblichen“ Roboter zu bauen. Weiblich nicht nur äußerlich, sondern auch nach der Struktur des positronischen Gehirns – oder exakt gesagt, deshalb auch äußerlich weiblich, damit das Gehirn bei seinem „Training“ die richtigen Eindrücke erhielt: Es ist technisch schwierig, in einem Gehirn zum Beispiel die Vorstellung der Freude an einem eleganten Abendkleid auszulösen, wenn dieses Kleid auf einem aus blechernen Ofenrohren zusammengesetzten Körper getragen werden soll.

Was exakt bei diesem Experiment eigentlich herauskommen sollte, habe ich nie feststellen können. Denn eines Abends drehte die planmäßige Postrakete nach New York City plötzlich von ihrem Kurs ab, senkte die Nase nach unten und sauste im Sturzflug zur Erde – genau auf das Landhaus Dr. Dr. Grlffons. Das Haus wurde von der explodierenden Rakete völlig zerstört, sein Besitzer kam um, und all seine Aufzeichnungen verbrannten. Was mich selbst anging, so übernahmen angesichts der heranbrandenden Flammen die eingebauten Reflexe zur Selbsterhaltung die Kontrolle, nachdem ich. mich bis zu Dr. Dr. Griffons Leiche durchgekämpft hatte. Ich entkam mit knapper Not aus dem Haus, ehe die Flammen über ihm zusammenschlugen.

Im allgemeinen hat jeder Roboter sehr spezifische Instruktionen für das, was er tun soll. Ich hatte eine gründliche Kenntnis der herrschenden Mode, der graziösesten Art, meinem wirklich hervorragend kunstvoll konstruierten Körper zu bewegen, sowie der aus Romanen und philosophischen Werken zu entnehmenden Formen weiblichen Verhaltens – aber über solche Dinge hinaus nur die Grundstrukturen, die jedem positronischen Gehirn in der Fabrik mitgegeben werden: ein allgemeines Streben, sich nützlich zu machen, und natürlich die drei Grundgesetze.

Ich stellte bald fest, daß diese Kombination wenig glücklich war. Es erschien einfach unmöglich, mit den fraglichen Fähigkelten auch nur eine einzige Tätigkeit ausüben, die ich als „nützlich“ in dem – wahrscheinlich ziemlich primitiven – Sinn meiner eingebauten Grundsätze bezeichnen konnte. Jedenfalls ist es mir bis heute noch nicht gelungen, den Nutzen von Mannequins, Bardamen, Filmschauspielerinnen oder repräsentativen Damen der Gesellschaft zu ermitteln. Jedoch erwies es sich, daß die immanenten Fähigkeiten des positronischen Gehirns zu exaktem Denken an vielen Stellen geschätzt wurden — wenngleich sie auch selten jemand in der äußeren Hülle vermutete, die sie bei mir gefunden hatten.

Immerhin gelang es mir, eine Beschäftigung als technische Zeichnerin in einem großen Werk in der Nähe zu finden. Da es zu den ausdrücklichen Instruktionen Dr. Dr. Griffons gehörte, daß ich meine Identität als Roboter solange wie irgend möglich vor jedermann verborgen halten solle, mußte ich mich ja irgendwie in die menschliche Gesellschaft einfügen. Ich war damals noch ziemlich ungeschickt und fiel auch prompt am dritten Tag auf, weil ich eine grundumständliche Schaltung gleich so ins Reine gezeichnet hatte, wie ich sie mir vorstellte – nämlich mit einem Drittel der Transistoren, die der Konstrukteur vorgesehen hatte. Er war mir darüber sehr böse – sein Chef dagegen hellbegeistert.

Daß ich damals einer ähnlichen Situation wie heute entging, lag nur daran, daß dieser Chef ungemein glücklich verheiratet war. So blieb sein Interesse für mich rein beruflich – er schickte mich in Spezialkurse, in denen ich eine Menge Wissen absorbierte, für das in den Speicherzellen noch Platz genug war – und gab mir eine entsprechende Stellung. Wahrscheinlich hätte er noch viel mehr mit mir angestellt, wenn nicht die Sache mit meinen Papieren gewesen wäre (ich besaß natürlich keine, und mußte ihm eine sehr umständliche Geschichte erzählen, um das zu erklären). Da die Aufträge seines Werkes – nicht zuletzt dank meiner Konstruktionen – immer geheimer und kriegswichtiger wurden, gab es bald beinahe nichts mehr, womit er mich noch betrauen durfte; er war sehr erleichtert, als er mich zu dem völlig öffentlichen und gar nicht irgendwie „abgeschirmten“ Erdwärmeprojekt abstellen konnte – als Betreuerin der bei uns gebauten Exkavatoren.

Ein Exkavator ist, kurz gesagt, ein Apparat, der die Materie vor sich auflöst und hinter sich wieder zusammensetzt – also ein sehr praktisches Ding, wenn man im Inneren der Erde herumkriechen will. Er ist außerdem schaltungsmäßig eine der kompliziertesten Apparaturen, die man sich überhaupt vorstellen kann – was verständlich wird, wenn man bedenkt, daß beim Abweichen auch nur einer der etwa zweihundertfünfzig Koordinaten plötzlich anstatt Granit hinter dem Exkavator Eisen, Blei, Schießpulver oder Speiseeis entstehen würde (der letztere Fall ist zwar noch nicht vorgekommen, aber theoretisch durchaus möglich). Die Betreuung der Exkavatoren nun ist die schöne Aufgabe, sämtliche Störungen dieser Schaltung nicht nur zu beheben, sondern möglichst von vornherein zu vermeiden. Ich glaube frei von Überheblichkeit zu sein, wenn ich sage, daß nur ein positronisches Gehirn ihr gewachsen ist.

Bevor ich zum Erdwärmeprojekt stieß, hatte Joe Calderon die Exkavatoren betreut – ein baumlanger, schweigsamer und keineswegs übel aussehender Kerl, der eine Art „Mädchen für alles“ bei diesem Projekt zu sein schien. Jedenfalls konnte man ihn heute im Konstruktionsbüro finden, wo er unglaubhaft exakte Zeichnungen machte – morgen im Sektor Geologie, wo er mit erstaunlicher Sicherheit die Gesteinsproben wiederfand, die Professor Langdon verlegt hatte – am dritten Tag bei den Mathematikern, wo er die elektronischen Rechenmaschinen reparierte. Er hatte seine Sache nicht übel gemacht, schien aber weder beleidigt noch sonderlich erfreut darüber, daß ich ihm die Arbeit jetzt abnahm.

An sich wäre nun alles in bester Ordnung gewesen. Die Arbeit am Erdwärmeobjekt – von der UNESCO eingerichtet und gefördert – diente unbedingt dem allgemeinen Wohl der Menschheit und konnte unmöglich zu Zwecken benutzt werden, die Menschen zu Schaden kommen ließen (eine wesentliche Bedingung – Kriegswaffen hätte ich, wegen des ersten Grundgesetzes, ohnehin nie entwerfen oder betreuen können). Sie verlangte meine ganzen Fähigkeiten, und die Menschen, die hier arbeiteten, brauchten mich und waren zufrieden mit mir. Hätte ich nun noch, anstatt dieses klassischen Körpers und der wundervollen blauen Augen, ein solides Metallgehäuse und Fotozellen gehabt . . .

Aber das stimmt nicht ganz. Mit einem Gehirn, das dieses Training erhalten hatte – ein raffiniert zusammengestelltes „weibliches“ Training – hätte ich in einem normalen Roboterkörper noch viel stärker jenes Gefühl der Leere empfunden, wie es mich jetzt schon zuweilen überkam. Soviel ich bis jetzt beobachten konnte, macht es einem Menschen nichts aus, Wissen, das er einmal aufgenommen hat, nicht mehr zu benutzen; es scheint sogar ein Grundzug menschlichen Verhaltens zu sein, daß man Dinge wider besseres Wissen tut. Ein positronisches Gehirn arbeitet da anders: Jede aufgenommene Information bildet ein Potential aus, das irgendwie in Aktion treten muß – nicht sofort, aber immerhin in absehbarer Zeit. Geschieht das nicht, dann entsteht eine Art Überlastung, die vielleicht das Gegenstück zum „Sich-unglücklich-Fühlen“ beim Menschen ist – jedenfalls ist sie ungemein störend.

So war es für mich unmöglich, die weiblichen Züge, die mein Gehirn einmal angenommen hatte, einfach zu ignorieren. Ich mußte mich – wie ich es gelernt hatte – elegant kleiden; ich konnte nicht steifbeinig durch die Gegend stiefeln, sondern mußte mich .in den Hüften wiegen; und – es war unvermeidlich – ich mußte auf gewisse Situationen so reagieren, wie es die Frauen in meinem Trainingsmaterial getan hatten. Es war beruhigend, das zu wissen – denn wenn diese Situation, in die ich jetzt geraten war, zwangsläufig aus meinem Training folgte, dann mußte doch irgendwo in meinen Speicherzellen auch die Lösung zu finden sein – die Lösung für das Problem, daß ein Mensch einen Roboter heiraten will. . .

Fest stand zunächst, daß dieses Problem nicht im Sinne Walters gelöst werden konnte. Es ist möglich, als Roboter mit Menschen zusammenzuleben, ohne daß sie etwas bemerken, wenn man sich entsprechend zurückhält – aber soviel ich aus Dr. Dr. Griffons Trainingsmaterial über die Ehe erfahren habe, ist sie das genaue Gegenteil einer zurückhaltenden Form des Zusammenlebens zweier Wesen. Es war unmöglich, Walters Wünsche zu erfüllen.

Jedoch war es genauso unmöglich, ihm den wahren Grund dafür zu erklären. Ich entsann mich aus meinem Trainingsmaterial einer uralten Oper, die „Offenbachs Erzählungen“ oder so ähnlich geheißen haben muß. Dort verliebt sich der Held in eine gewisse Olympia, die aber in Wirklichkeit eine mechanische Puppe ist (was sie durch gelegentliches Räderschnarren dem Publikum und allen Umstehenden deutlich zu erkennen gibt- nur der Held merkt nichts); das Ganze endet damit, daß ein gewisser Coppelius die Olympia in ihre Bestandteile zerlegt und der Held entsetzt aus der Gesellschaft flieht, die „hahaha, das ist geraten, er liebt einen Automaten!“ singt. Es bestand kein Zweifel, daß trotz der veränderten Zeitverhältnisse eine Erklärung des wahren Sachverhalts eine ähnliche Wirkung auf Walter haben würde. Und das widerspricht dem ersten Grundgesetz der Robotik, nach dem kein Roboter ein menschliches Wesen verletzen oder zu Schaden kommen lassen darf. Man könnte eine semantische Diskussion darüber anstellen, ob das auch seelische Verletzungen mit einbezieht – Tatsache war, daß es sie bei m i r mit einbezog. Schließlich hatte ich ein spezielles psychologisches Training hinter mir, das entsprechende Potentiale in meinem Gehirn aufgebaut haben muß.

Damit waren die zwei naheliegendsten Wege versperrt. Als dritte Möglichkeit blieb, mich irgendwie aus der ganzen Situation zu entfernen. Leider war diese Möglichkeit aber gleich zweimal versperrt: Erstens würde das Verschwinden des geliebten Wesens Walter ebenfalls verletzen – zwar etwas weniger als die Möglichkeit eins, aber immerhin noch soviel, daß das Potential zusammen mit dem zweiten, auf das ich gleich komme, zu hoch würde, um diesen Ausweg zuzulassen. Das erwähnte zweite Potential resultierte nun aus dem zweiten Grundgesetz, wonach jeder Roboter alle von Menschen gegebenen Befehle ausführen muß, sofern sie nicht gegen das erste Grundgesetz verstoßen. Ich hatte aber den Auftrag, mich um die Exkavatorenschaltungen zu bekümmern; ich konnte ihn nicht einfach liegenlassen und davonlaufen. Also mußte ich bleiben. Übrigens hätte ich auch nicht gewußt, unter welchem Vorwand ich gehen sollte – und wohin.
Blieb noch eine letzte Möglichkeit: Ich mußte mich irgendwie vernichten. Aber dagegen sprach Grundgesetz eins (es würde Walter ebenfalls verletzen), Grundgesetz zwei (auch dann konnte ich meinen Auftrag nicht weiter ausführen) und schließlich noch Grundgesetz drei: Jeder Roboter muß seine eigene Existenz erhalten, sofern das nicht gegen Regel eins oder zwei verstößt. Das waren drei Potentiale, die in derselben Richtung wirkten – und selbst wenn ich die Möglichkeit dagegen aufrechnete, Walter den großen Schmerz zu ersparen, daß seine Liebe einem Roboter gegolten hatte: es reichte einfach nicht. Ich hatte es bereits einmal ausprobiert (man soll nicht denken, daß ein positronisches Gehirn beliebig viel aushält, und dieses Problem ging hart an die Grenze dessen, was ich aushalten konnte!). Natürlich mußte ich eine Methode wählen, bei der mein Körper völlig vernichtet wurde. Also zum Beispiel in das Feld vor einem Exkavator hineinlaufen und sich auflösen lassen. Nur – es ging nicht. Meine Beine versagten einfach den Dienst, und für die nächsten Stunden ließen mich irgendwelche plötzlich aufgebauten Schutzpotentiale noch nicht einmal in die Nähe eines Exkavators.

Klar war mir aber eines: Es konnte so nicht weitergehen. Nicht nur, daß Walters Drängen immer heftiger wurde – ich spürte auch, daß mein Gehirn diesen Widerstreit der Potentiale einfach nicht mehr aushielt. Ich mußte damit rechnen, daß es eines Tages einfach einen Kurzschluß geben würde – und dann würde man einen Arzt holen, er würde meinen Körper untersuchen, und damit würde man feststellen, daß ich ein Roboter war, und das würde Walter verletzen, und das widersprach dem ersten Grundgesetz, und … und … und … so jetzt war ich wieder in dem Zirkel drin, der gerade das herbeizuführen drohte, was er vermeiden sollte.
Konnte ich versuchen, wie eine wirkliche Frau mit Walter zu brechen, indem ich mich einem anderen Mann an den Hals warf? Das würde ihn erstens verletzen, und zweitens bestand die Wahrscheinlichkeit, daß ich den anderen Mann in die gleiche Lage wie Walter bringen würde, also ihn auch verletzen — wieder verriegelten sich die Potentiale zu einer undurchdringlichen Mauer. Ich mußte erst einmal die neunzehnte Wurzel aus 11 398 895 183 373 143 ziehen (sie ist übrigens 7), um überhaupt wieder klar denken zu können.

Jedenfalls hatte Dr. Dr. Griffon allen Anlaß gehabt, sich mit Ehekrisen zu beschäftigen; wenn bereits ein bloßer Heiratsantrag in einem so geordneten positronischen Gehirn ein solches Chaos heraufbeschwor, was muß dann eine wirkliche Ehe aus dem menschlichen Gehirn machen! Ich konnte ihm nicht einmal böse sein, daß er mich zu diesem Zweck gebaut hatte – abgesehen davon, daß ein Roboter seiner Natur nach keinem Menschen böse sein kann . . .

Ich war mit meinen Überlegungen gerade so weit gekommen, als ich die Alarmsirene hörte (Verzeihung, eigentlich müßte ich sagen: Als die Luftschwingungen, die die Alarmsirene erzeugte, an die Mikrophone unter meinen rosigen Ohrmuscheln drangen, dort eine Serie von Stromschwankungen auslösten, die sich beim Vergleich mit den gespeicherten Aufnahmen der verschiedensten akustischen Eindrücke in meinen Speicherzellen als identisch mit einem Signal erwiesen, das Alarm bedeutete — aber ich verwende für gewöhnliche Zwecke die etwas abgekürzte, dem menschlichen Empfinden nachgebildete Ausdrucksweise, nachdem ich bei meinen Studien der Schaltungstechnik festgestellt habe, daß es Stunden dauern würde, die wirklichen Vorgänge zu beschreiben). Ich sprang vom Bett auf und aus dem offenen Fenster – das ist aus dem zweiten Stock für Menschen weniger angebracht, aber da mich kaum jemand beobachten würde, und mein Körper solche Dinge ohne weiteres aushielt, wählte ich den rascheren Weg.

Es gab nämlich, das hatte ich herausgefunden, einen Weg, mein Problem zu lösen. Er setzte eine einigermaßen unwahrscheinliche Kombinationen von Faktoren voraus – darunter zum Beispiel einen Alarm. Vielleicht war es dieser?
Ein Roboter kann, wenn er will, Geschwindigkeiten erreichen, die die eines Menschen um etwa den Faktor fünf übertreffen. Außerdem fallen bei ihm sämtliche Schrecksekunden und ähnliche Verzögerungen fort. So war es kein Wunder, daß ich als erster an der Schachtmündung ankam. Es war auch gut so, denn der Anblick einer gutgewachsenen Frau in Büstenhalter und Schlüpfer am Ort einer Katastrophe ist, wie ich annehme, ungewöhnlich und auch ablenkend.

Unterwegs hatte ich die Situation in den Schächten rekapituliert, wie sie jetzt vorliegen mußte. Ich muß dazu etwas auf die Technik des Erdwärmeprojektes eingehen, auf die Gefahr hin, daß ich Bekanntes wiederhole.

Wir arbeiteten in einem vulkanischen Gebiet. An verschiedenen Stellen waren Schächte senk-recht in die Erde getrieben worden, von denen jetzt Exkavatoren weitere Versuchsbohrungen ausgehen ließen: waagerecht, schräg oder senkrecht nach unten. Dabei gab es zwei Typen: Die exploratorische Bohrung, bei der der Exkavator hinter sich wieder die gleiche Materie erzeugte, wie vorher – also kein Schacht zurückblieb – und die permanente Bohrung, bei der die Materie in Gas verwandelt wurde, die Bahn des Exkavators also einen neuen, offenen Schacht ergab. Mit den exploratorischen Bohrungen wurde gleichsam die Landkarte – eine dreidimensionale Landkarte – des Erdinneren aufgenommen; die permanenten Bohrungen ergaben dann die Straßen und Wege – wiederum dreidimensional – in diesem Gebiet.

Natürlich kam dabei auch alles mögliche außer der Wärmeverteilung zutage: Bodenschätze, Höhlungen, Kanäle und Spalten, die noch glutflüssiges Magma enthielten, und dergleichen mehr. Der jetzige Alarm nun, vermutete ich, kam vom Punkt 301c. Das war eine natürliche Höhlung, die wir kürzlich angeschnitten hatten, und in der eine Steuerstation für Exkavatoren eingerichtet worden war. Man kann natürlich einen Exkavator auch selbst bedienen – in den kleinen Typen ist Platz für einen Menschen, in den größeren für zwei – aber wenn eine exploratorische Bohrung mitten durch einen Lavasee führt, könnte es dabei unangenehm warm werden. Deshalb werden die exploratorischen Bohrungen meist ferngesteuert durchgeführt – und je näher die Steuerstation am Bohrungsort liegt, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit von Störungen durch Metalladern und ähnliche unterirdische Hindernisse für die Steuersignale. Das war wenigstens die Meinung Professor Langdons.

Walter Grow war strikt gegen die Steuerstation an Punkt 301c gewesen. Erstens, sagte er, liege dieser Punkt viel zu tief – die Temperatur sei viel zu hoch, um dort dauernd eine Station besetzen zu können. Langdon hatte darauf eine Asbesthütte mit doppelten Wandungen bauen lassen, in der es – das mußte man zugeben – immerhin noch erträglich war. Zweitens, hatte Walter Grow erklärt, sei der Bereich über 301c noch viel zu ungenügend exploriert – er befürchtete, daß dort noch flüssiges Magma in unmittelbarer Nähe liegen könne. Langdon hatte die Stirn kraus gezogen und in seiner schulmeisterlichen Art erklärt, gerade deshalb sei ja dort eine Steuerstation so nötig, damit man möglichst rasch die nötigen Explorationen vornehmen könne. Und wenn Grow Angst habe, dann werde er eben selbst die Steuerung übernehmen.

Walter hatte dann irgend etwas Respektloses gemurmelt und den Raum verlassen – Professor Langdon hatte sich wie ein Feldherr aufgerichtet und erklärt, noch heute nacht werde er die ersten Explorationen an Ort und Stelle vornehmen. Es lag nahe, daß dieser Alarm das unerwünschte Ergebnis seiner Heldenhaftigkeit war.

Ich fuhr in den Schacht ein und kam zum ersten Kontrollpunkt. Die Meßinstrumente bestätigten Walters düstere Voraussagen: Sie meldeten einen Einbruch glutflüssiger Gesteinsmassen unmittelbar oberhalb Punkt 301c. Sie sickerten jetzt, soviel man sehen konnte, durch die Hälfte des bisherigen Zuführungsschachtes – und es war nur eine Frage der Zeit, wann sie die ganze Höhlung ausgefüllt haben würden. Es konnte sein, daß die Asbesthütte Langdons eine Weile lang Schutz bot – aber nur, solange es nur Hitze und nicht Druck anging; waren erst einmal von allen Seiten die Massen heran, dann würde sie glatt zusammengequetscht werden.

Das war entsetzlich und ausgezeichnet. Entsetzlich, was Langdon anging – ausgezeichnet, was meinen Plan betraf. Der starrköpfige Gelehrte hatte durch sein Unglück die einzige Situation geschaffen, die meinen Problemen ein Ende machte. Ich schwang mich auf eines der Fahrzeuge und raste mit ihm zum nächsten Exkavatorenzentrum. Es war – auch dies wieder ein glücklicher Zufall – ein kleines, das augenblicklich nur mit einem Einmann-Exkavator bestückt war. Und das war zum Gelingen meines Planes unerläßlich.

Ich schwang mich in den Exkavator, schraubte die Luke hinter mir zu und stellte im Licht der rötlichen Glimmlampen den Hebel auf „Exploration“. Ich durfte keinen offenen Schacht hinter mir lassen, der den Gesteinsmassen einen weiteren Ausweg bot. Wahrscheinlich war an Langdons Explorator eine Störung aufgetreten – das Gestein hinter ihm hatte sich nicht mehr geschlossen, und dadurch war der Durchbruch entstanden. Das sollte mir nicht passieren.

Ich richtete die Steuerhebel direkt auf Punkt 301c – der gerade Weg ist bekanntlich der kürzeste, und die normalen Zugangsschächte waren ohnehin verstopft. Ein Exkavator auf Exploration ist nicht gerade eine Düsenrakete, aber in einer Stunde, dachte ich, würde ich es schaffen. Ich hatte Zeit zum Nachdenken.
Es war ein angenehmes Gefühl, nicht mehr dieses Durcheinander von halben Potentialen möglicher Folgen und Verstöße zu spüren, sondern nur noch eine klare Grundregel: Erstes Grundgesetz – ein Mensch ist in Gefahr, und muß gerettet werden. Du kannst ihn retten, also tu das Nötige. Walter Grow war eine Figur im Hintergrund geworden – er würde sich ängstigen, wenn er erfuhr, daß ich hier eingefahren. war, er würde mich nicht verstehen, er würde vielleicht auch beschämt sein, daß nicht er, sondern eine Frau zur Rettung aufgebrochen war: Aber das waren alles schwache Potentiale, übertönt von dem einen starken – Lebensgefahr!

Und auch meine Pflicht gegenüber den Exkavatoren trat davor zurück. Wenn mir etwas geschah, würde sich eben wieder Joe Calderon um sie kümmem – der nette, stille, intelligente Bursche, der sie einst unter sich gehabt hatte. Ich dachte gern an Joe Calderon – jetzt, wo das Durcheinander der Potentiale mich nicht mehr störte. Aus den Speicherzellen schwammen Eindrücke herauf: Ein paar nette Worte – eine Tür, die er mir offenhielt – ein bewundernder Blick, den ich einmal aufgefangen hatte. Man soll nicht denken, daß ein Roboter – und gerade ein als Frau trainierter Roboter – so etwas vergißt! Es war keineswegs unlogisch, daß ich jetzt an Joe dachte und nicht an Walter: Alle Eindrücke von Walter waren mit einem Dilemma verknüpft, also irgendwie negativ gefärbt – Joe hatte sich stets zurückgehalten, mich nie vor Probleme gestellt. Keine negativen Potentiale!

Ab und zu klickten die Zeiger in dem Plastikblock, der die dreidimensionale Wegespur aufzeichnete. Ich muß bald da sein. Und ich spürte auch – trotz der Isolation – allmählich die Wärme, die von draußen hereindrang. Ich fuhr schon durch glutflüssiges Magma!

Hoffentlich hielt Langdon die Rückfahrt aus! Es gab keine Kühlmöglichkeit mehr hier unten. Ich rechnete: Ja – es war zu schaffen. Allerdings saß Langdon schon viel länger in der Gluthitze als ich – und außerdem verträgt ein Roboter höhere Temperaturen als ein Mensch. Er würde wahrscheinlich auf der Rückfahrt ohnmächtig werden – aber wenn die Steuerstation noch lange genug zusammenhielt, konnte ich ihn von unten aus zurücksteuern. Nahm man ihn oben gleich in Empfang, konnte er gerettet werden.

Klick – kling! Ich mußte da sein. Sehen kann man aus einem Exkavator heraus nichts – es gibt kein Glas, das solche Temperaturen aushält. Aber ich hatte eine Art Radar – eine Kombination aus Schall- und elektrischen Welten – mit der ich die Steuerstation suchen konnte. Sie lag hoch – wenn wir Glück hatten, von den zähen, langsam steigenden Massen noch nicht erreicht.

Krrr! Ein Schnarren – die Nase des Exkavators mußte jetzt ins Freie gelangt sein: Kein Gestein zum Umwandeln mehr vor ihm! Noch ein paar Schübe – so, jetzt war er frei und schwamm wie ein seltsames Schiff auf dem glutflüssigen Meer. Peilen – mehr nach rechts – so – noch dichter – ganz dicht – die Luke einen Spalt auf: Ja – da war die Asbesthütte, kaum einen Meter vor ihm. Noch näher heran – die Gluthitze und die Gase, die hereindrangen, hätten jeden Menschen ohnmächtig werden lassen. Aber die Hütte schien noch intakt. Ein Glück, daß Walter Grow auf einer Anlegeschleuse für Exkavatoren bestanden hatte! Sonst hätte ich Langdon nie hier herausbekommen können!

So ging es. Die Luke legte sich gegen einen Deckel – beide klappten auf – ich stieg in einen dunklen Hohlraum – etwas hielt mich zurück – ich zerrte – ein Ruck – ein Stück der Plastikhülle meines linken Beines klebte an der glühendheißen Lukenumrandung, das stumpf schimmernde Leichtmetall lag offen – wie bringe ich nur Langdon über diese Kante, dachte ich – Asbesttücher auslegen, wird gehen!
Ich hielt einen Augenblick inne. Dieses Bein darf Langdon nicht sehen; sonst wird er erfahren, daß du ein Roboter bist, und wenn das Walter erfährt, dann wird er – aus, abschalten! Langdon retten ist wichtiger – höheres Potential – erste Regel –
Er lebte noch – er war sogar noch bei Bewußtsein. Aber er sah aus, als sei er schon zehnmal gestorben. Er versuchte mit ausgedörrter Kehle etwas zu krächzen, als er mich sah – es war nicht zu verstehen. Einen Augenblick beschäftigte sich mein Gehirn damit, zu überlegen, was er wohl sagen wollte: Grow hatte doch recht! oder: Sie hier, Miß Crawford? oder Hilfe? oder vielleicht: Was für ein schamloser Aufzug für eine junge Dame? Langdon war alles zuzutrauen.

Ich zerrte ihn hoch, schob ein paar Asbesttücher unter ihn und stopfte ihn, so gut es ging, durch die Schleuse in den Exkavator. Glücklicherweise kann man die Luken der Dinger auch von außen schließen – allerdings blieb die Hälfte meiner Hände daran hängen. Nun, das machte auch nichts mehr!

Ich drückte den Asbestdeckel zu und trat an die Steuerungen. Sie waren hitzebeständig – ich würde Langdon sicher zurücksteuern können. Zeiger I – Zeiger II – merkwürdig, wenn man nur noch ein stählernes Skelett anstatt runder Finger hat! Man wird richtig ungeschickt dabei! Klick – klack – Start – umschalten auf Exploration – so – jetzt hat er die Höhlenwand erreicht – wie schnell das Magma wohl steigt? – hoffentlich versagt der Exkavator jetzt nicht noch – ob sie ihn oben erwarten – ob sie wissen, daß ich hier unten bin?

Eine Stunde. Dann ist er oben. Inzwischen steigt das Magma, drückt gegen die Asbestwände – langsam weichen sie – es wird immer heißer – welche Höchsttemperatur hält ein Roboter aus? Das hätte ich längst einmal nachlesen sollen – jetzt ist es zu spät- drittes Grundgesetz: jeder Roboter muß seine eigene Existenz schützen – na, dem haben wir ein Schnippchen geschlagen – lächerlich, daß sich ein Roboter nicht selbst umbringen können soll – kommt nur auf die Bedingungen an: Einmann-Exkavator – Langdon hineintun oder selbst einsteigen? Glatte Rechnung – erstes Grundgesetz hat das höhere Potential, und du bleibst zurück – zur Feuerbestattung. Und keine Spuren! Niemand wird wissen, daß Joan Crawford ein Roboter war – niemand – nicht Walter- und auch nicht Joe – Joe – Hitze – Hitze – Joe – hilf mir doch, Joe, es ist so heiß – schmelze ich – ?

Es ist kühl. Kalt. Eiskalt. Herrlich kalt. Ich liege unter einem kalten Tuch. Rötliches Licht, wie in einem Exkavator. Einem großen Exkavator. Das ist doch ein Exkavator?

Das ist unmöglich. Ich bin geschmolzen. Gibt es für Roboter ein Leben nach dem Tode? Unsinn. Wenn das positronische Hirn geschmolzen ist, kann es nicht mehr denken. Also ist es nicht geschmolzen. Und wo bin ich? Exkavator. Großer Exkavator – Zweimannexkavator. Wo ist der zweite Mann? Dort ist er. Am Steuerbrett. Wer ist das? Joe? Ich bin doch geschmolzen. Vielleicht haben sich die Potentiale auf die Lava übertragen, und ich bin jetzt ein Lavagehirn. Und träume. Natürlich von den letzten Dingen, an die ich gedacht habe: Hitze – Kälte – Joe. Prüfen. Die Speicherzellen liegen nicht im Gehirn. Sie liegen im Rumpf. Also ist mein Rumpf auch noch da.

Der Mann, der aussieht wie Joe, dreht sich um.
*Miß Crawford? Haarscharf am Krematorium vorbei, was?“ Er lacht. Ich versuche mich halb aufzurichten. “Ist Langdon – ?“ Meine Stimme funktioniert also noch.

Joe nickt. „Ziemlich angesengt, aber man wird ihn zurechtflicken. Ich hätte ihn nicht mehr retten können. Ich war zu spät daran – der nächste Exkavator war zu weit weg – und die Zweimann-Modelle sind langsamer. Aber dafür kühler – günstigeres Verhältnis von Oberfläche zu Volumen. Aber für Sie bin ich noch zurechtgekommen. Sie halten allerhand Hitze aus!“

Das will ich wohl meinen. Plastik und Leichtmetall gegen Fleisch und Knochen. Knochen! Nein! Nein! Meine Hände!
Alles umsonst. Ich wäre verbrannt, geschmolzen, niemand hätte etwas gewusst – und nun kommt dieser Joe und rettet mich. In letzter Sekunde. Unmöglich. Aber er hat es geschafft. Und er hat – er muß meine Hände gesehen haben. Die Hände mit dem Leichtmetall, von dem die Plastikhülle in Fetzen hängt – und das aufgerissene Bein. Er muß es doch schon längst wissen – daß ich kein Mensch bin! Und alle anderen werden es sehen, wenn wir ankommen – und Walter wird es sehen – und alle werden sin-gen: “Hahaha, das ist geraten, er liebt einen Automa – “ Nein! Das darf doch nicht sein! Erstes Grundgesetz: Ein Roboter soll keinen Menschen verletzen oder –

“Ruhig! Das ist die Reaktion!” Joes Hand legt sich auf meine Schulter. “Sie haben viel durchgemacht – nun ruhen Sie!“

Er wendet sich zum Instrumentenbrett. “Ich bringe uns an einer Stelle zur Oberfläche, wo niemand wartet. Einfach irgendwo auf freiem Feld. Sie können jetzt keine Menschenmengen vertragen, die Sie als Heldin feiern wollen, nicht wahr?“

Ach Joe! Joe, du bist wunderbar! Du weißt es – und tust weiter so, als wäre ich ein Mensch. Aber das kann doch nicht gut gehen – es wird doch ein Arzt kommen, um mich zu untersuchen – es ist doch nur ein Aufschub –

“Ich verstehe ein bißchen was von erster Hilfe – “ sagte er. “Ich denke, wir werden Sie schon wieder zurechtflicken – auch die Brandwunden!“ Er dreht sich nicht um – ich soll sein Gesicht nicht sehen, wie er das sagt. Ach Joe, warum bin ich keine Frau! Ich würde dich – glaube ich – lieben können …

Und jetzt tut er etwas, das ich nicht begreifen kann. Er streicht über meinen Kopf – nein, in meinen Kopf? Das geht doch nicht! Aber jetzt wird es dunkel – und kühl – und ruhig –

Ich liege in einem Bett. Einem schönen weißen Bett. Ich habe ein hellblaues Nachtgewand an, und auf dem Nachttisch stehen Blumen. Ich sehe meine Hände, die auf der Decke liegen. Es sind zarte, feingliedrige Frauenhände, wie früher. Ich schiebe die Decke beiseite und sehe mein linkes Bein an – kein Metall, kein herunterhängendes Plastikpolster: Glatt, wohlgeformt wie früher. Joe? Brandwunden? Erste Hilfe?

Er hat mich „zurechtgeflickt“. Natürlich, Joe kann alles. Auch Plastik in Formen gießen und ein Metallske¬lett damit überziehen. Wie er es geschafft hat, mir die Ärzte vom Hals zu halten? Ich weiß es nicht. Joe kann das. Joe kann alles.

Wo ist er? Ich stehe auf, nehme einen leichten Morgenmantel um die Schultern. Als ich am Spiegel vorbeigehe, sehe ich mein Bild: Blondes, welliges Haar, ovales Gesicht, blaue Augen, rote Lippen – das ist wieder Joan Crawford, die schöne, die vollkommene Frau. Und beginnt damit alles von neuem? Ich will nicht darüber nachdenken. Ich trete aus der Tür, auf den Gang.

Stimmen. Ich kenne sie. Das ist Joe – und das? Ist Walter! Nein – das darf doch nicht sein! Erstes Grundgesetz – heiraten – ablehnen – weggehen – vernichten – Potential gegen Potential –

Was sprechen sie?
“ – dir nur Glück wünschen. Von Herzen. Glaub es mir!“

“Dank dir, Walter. Gerade von dir freut es mich besonders.“ Das ist Joe! Worüber sprechen sie?

“Joe – du weißt, daß ich Joan sehr, sehr gern gehabt habe. Ich wollte sie heiraten. Aber – in jener Nacht, wo wir alle im Schacht standen – und ich genau so gut wie du wußte, daß sie allein unten war: Da habe ich mich nicht getraut, sie zu holen. Aber du! Und seitdem weiß ich, wer sie wirklich verdient hat. Verzeih mir, wenn ich vorher nie gemerkt habe, was sie dir bedeutet!“

“Laß gut sein, Walter! Ich habe es ja auch nie gezeigt – und ich habe es selbst nicht gewußt, vielleicht, bis zu jener Nacht. Sie war für mich – nun, sagen wir, unerreichbar. Jetzt ist es anders – seit jener Nacht -„

“Kein Mensch – keiner von uns – hätte sich da hinuntergewagt Die Hitze muß furchtbar gewesen sein. Und dann noch Tage ohne ärztliche Hilfe!“

“Na ja, ich hatte mich ganz schön verfranzt mit meinem Exkavator. Ein Wunder, daß ich nicht bei den Antipoden herausgekommen bin! Aber Gott sei Dank haben wir uns beide einigermassen wieder herausgerappelt!“

“Kann man Joan schon sprechen?“

“Lieber nicht – sie hat noch immer unter dem Schock zu leiden. Es war zuviel – selbst für sie!“

„Ich verstehe noch immer nicht, wieso sie als erste unten war – and wie sie auf die wahnwitzige Idee kam, Langdon zu retten – „

Joe unterbrach ihn. „Ein Mensch war in Gefahr. Ist das nicht genug?“

Ich wandte mich um und ging in mein Zimmer zurück. Ich setzte mich auf die Bettkante – nicht, weil ich im Stehen nicht hätte nachdenken können; aber es paßt besser zu einer Frau, nicht wahr?

Joe konnte alles. Er hatte das Problem „Walter“ gelöst, mit dem ich nicht fertig geworden war – er hatte sein Leben eingesetzt, um mich zu retten – und was bekam er als Lohn dafür? Eine mechanische Puppe! “Hahaha, das ist geraten – „

Furchtbar! Und er mußte sich dazu noch Glückwünsche anhören, und Sprüche über seine tiefe Liebe zu mir. Dabei kannte er doch die Wahrheit!

Die Tür ging auf. Joe trat ein.
“Joe! Ich – du weißt – ?“

“Freilich, Joan. Jetzt weiß ich es. Und das ist sehr, sehr gut so.“

“Gut?“

“Ja – sonst hätte ich dich ja gar nicht wieder zurechtflicken können, um nur etwas zu nennen.“ Er lachte ein wenig.

“Aber – Joe – ich habe eben mit angehört, was Walter mit dir gesprochen hat. Verzeihst du mir das, ja? Ich wollte es wirklich nicht, aber – „

“Keine Sorge. Übrigens lobt er mich völlig überflüssig. Ich konnte gar nicht anders, als in den nächsten Exkavator springen und dich herausholen.“

“Aber keiner von den anderen hat doch – „

“Eben. Wie Walter sehr richtig sagte – kein Mensch hätte sich da hinuntergewagt. Aber das erste Grundgesetz – „

“Joe!“ Ich sprang auf. Ich sah ihn an. Genau, Zentimeter für Zentimeter.

“Joan, du wirst nichts finden“, sagte er, noch immer lächelnd. “Dr. Griffon verstand seine Sache ausgezeichnet.”

“Griffon?”

“Ja – er baute dich doch, weil er Eheprobleme am Modell studieren wollte. Ist dir erstaunlichem Elektronengehirn niemals eingefallen, daß zu einer Ehe immer zwei gehören? Ich bin das Gegenstück, das er gerade ein paar Tage vor seinem Tod fertiggestellt hatte – unsere ‘Hochzeit’ hat die Rakete dann verhindert. Ich muß nach der einen Seite davongelaufen sein, und du nach der anderen. Aber ich war, glaube ich, bereits besser konditioniert als du – ich war von dir angezogen, als ich dich zum ersten Mal sah. Aber ich hielt dich für eine Frau – und fühlte mich wenig wohl, weil ich dir nicht nahekommen durfte. Ich hielt dich immer noch für eine Frau, als ich dich aus Stützpunkt 301c holte – sonst wäre ich ja nicht nach dem ersten Grundgesetz hinter dir hergefahren, nicht wahr? Dann allerdings – „

Ich trat zu ihm, hob mich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuß. Es fiel mir sehr leicht – bei meinem Training.
“Joe – “ sagte ich, “dann könnte das Experiment des Dr. Dr. Griffon jetzt also – wenn auch etwas verspätet – beginnen?“

(E n d e)
(Einige Bemerkungen folgen in meinem nächsten Posting!)

Nachbemerkungen von Hekate:

Noch ein paar Bemerkungen zur „Olympia 2057“:

Eure netten Kommentare haben mich beruhigt, daß es zumindest nicht völlig „daneben“ war, diese Story nach 50 Jahren noch einmal hier in TransTreff zu posten – habt Dank dafür!

Erstmals erschienen ist sie 1957 – gerade so, wie ich sie am Neujahrstag in die Schreibmaschine getippt hatte – im deutschen „UTOPIA SCIENCE FICTION Magazin“ Nr.7 des Pabel Verlags: und wurde laut Leserumfrage als die „beste Story des Hefts“ bewertet – was mich damals ziemlich stolz machte, da sie als einzige deutsche neben 9 Übersetzungen britischer und US-Spitzenstories stand .

Deshalb ließ ich ihr auch noch 2 weitere Geschichten mit den gleichen Hauptpersonen und „robotischen“ Themen folgen – „LEVIATHAN 2084“ und „AZAZEL 3000“ – folgen: da deren Schwerpunkte aber nicht mehr im TG-Bereich lagen, kann ich sie kaum auch hier in TransTreff posten. Falls sie dennoch eine von Euch interessieren sollten: auf eine PM (mit eMail-Anschrift) schick ich ihr *.doc-Files.

Natürlich wären diese Stories nie ohne Asimovs Grund-Idee entstanden – wie Newton mal bescheiden sagte „ich stand auf den Schultern von Riesen!“ – aber das Thema „weiblicher Robot als Lebensgefährtin“ hat er erst 31 Jahre später (1988 in „Prelude to Foundation“) behandelt : und in „AZAZEL 3000“ konnte ich sogar schon damals sein späteres „Nulltes Grundgesetz“ vorwegnehmen…

Vielleicht wär ich so eine grosse Science-Fiction-Autorin geworden – wenn man mir bloß nicht für anderes so viel höhere Honorare gezahlt hätte…

Die unpoetisch geldgierige HEKATE

Die vier gegen Pax

1 D e r R i t t e r

Der schwarze Ritter verhielt im Gehölz – gleich ihm, wie aus Stahl gegossen, stand das gepanzerte Roß. Die eiserne Hand lockerte Schwert und Scheide, wie er sich im Bügel hob und durchs Geäst spähte.

Morgennebel zog in zergehenden Schwaden über die herbstliche Heide – eine rötliche, aber noch kraftvolle Sonne warf schräge Strahlen durch die kahlen Äste. War dies der Tag?

Noch war der andere Reiter zu weit entfernt – trug er die silberblinkende Rüstung und warf nur das goldene Morgenlicht zurück, oder war es einer der kupferroten Edlen von AMCO? Mit denen hatte er nichts zu schaffen – er war der Ritter des schwarzen Stahls, und seine Fehde galt dem weißen Metall …

Nein – er hatte sich nicht getäuscht. Das war der weiße Helmbusch, und das war der silberne Kristall im Schild!

Die Sporen – und der schwarze Ritter sprengte aus dem Schutz der Bäume hervor; sein Pferd schien trotz des schweren Panzers über die Heide zu fliegen. Dies war der Tag!

Wie ein berauschender Trank überkam ihn die Freude am Kampf – am langersehnten, seltenen, köstlichen Kampf! Das war kein Turnier mit stumpfen Lanzen, mit Richtern und plaudernden Frauen auf dem Altan – kein Possenspiel, das Streit und Gefahr nur nachäffte – dies war der Tag des Kampfes auf Leben und Tod.

Jetzt hatte der Silberglänzende ihn gesehen. Sein weißer Hengst bäumte sich, daß die schimmernden Schildplatten das rote Sonnenlicht spiegelten – wie blutübergossen sahen sie aus – und dann sprengte er dem Schwarzen entgegen.
Auf Mannesbreite nur stürmten die Rosse aneinander vorbei – Schwerthiebe ließen Funken von Helm und Schild sprühen – dann zügelten sie die Pferde wendend und verhielten.

„Steh – Norbert von UNAL! Dies ist der Tag!” rief der schwarze Ritter.

Der Silberne lachte halblaut auf „Welcher Tag, Rodrick von Newsteel? Dein letzter Tag?”

„Solls gelten, Norbert – mein letzter Tag, oder Deiner!“

Und wieder schossen die Rosse aufeinander zu – klirrten die Schwerter – stob die braune Erde unter den Rufen. Dies war der Kampf seines Lebens – das wußte Rodrick. Alles andere – Fehden und Turniere, Jahre des Kampfes im Sattel und zu Fuß, Jahre der Übung mit Marschalk und Schwertmeister – alles war nur Vorspiel gewesen, Vorbereitung auf dieses Treffen mit Norbert von UNAL.

Wie zwei Sterne im Weltraum über Tausende von Lichtjahren hinweg einander anziehen, Äonen hindurch aufeinander zujagen, bis sie sich finden und zum kreisenden Doppelgestirn vereinen – so waren Rodrick und Norbert am Himmel der Ritterschaft aufgegangen, alle anderen überstrahlend – so hatten sie sich gesucht und Jahre hindurch verfolgt – bis zu diesem Tag, da sie sich fanden und umkreisten im tödlichen Wirbel des Kampfes.

Die Schilde zerspellten und fielen – Hufe traten sie in den Boden – kaum daß die beiden es merkten: es gab nichts mehr auf der Welt außer ihnen und ihrem Kampf.
Immer enger wurden die Kreise, die die beiden umeinander zogen – und dann spürte Rodrick, wie ein Zittern durch den Leib seines Rosses lief. Noch einmal riß er es hoch – wie eine stählerne Schwinge sauste sein Schwert – aber es war den letzte Hieb, den er vom Sattel aus geschlagen hatte: dumpf krachte das Tier in seinem schweren Panzer zu Boden – kaum daß er sich frei von dem stürzenden Leib machen konnte, ehe es zu spät war. “Dein letzter Tag, Rodrick?”

Höhnisch blinkte die rote Sonne auf dem silberweißen Panzer von Norberts Roß – rote Sonne – oder rotes Blut? Hatte der letzte Hieb – ? Da schwang sich auch Norbert aus dem Sattel – ohne einen Blick auf sein verwundetes Roß drang er auf Rodrick ein. Sie standen wieder gleich.

Standen sie gleich ?

Langsam – mit jedem Hieb, mit dem sie die Schwerter umsangen, sicherer werdend – legte sich ein hartes Lächeln um Rodricks Lippen. Mochte Norbert zu Pferde der Bessere sein – er war der Meister des Fußkampfes. Das wußte er – das wußte auch Norbert: und dieses Wissen allein schon kämpfte wie ein unsichtbarer Geharnischter auf Rodricks Seite.

Hier lähmte es einen Muskel und ließ Norberts Fuß straucheln – dort hemmte es einen kühnen Hieb – da zwang es den Gegner in verderbliches Zögern. Und dort beschwingte es einen Arm – stählte eine geschiente Wade – durchströmte alle Fibern mit dem Rausch, der herben Süße der Siegesgewißheit!

Und dann kam der Augenblick, wo das Schwert des Feindes schwieg – wo die silberschimmernde Gestalt zwei taumelnde Schritte rückwärts tat – niedersank – und ihm todwund das Schwertkreuz entgegenreichte.

„Dies ist – mein – letzter – Tag – “ drang matt die Stimme hinter dem silbernen Visier hervor. „Dein – ist – – der – – – Sieg – – – -„

Schwer atmend schob Rodrick sein schwarzes Visier in die Stirn. Mit geneigtem Haupt wandte er sein Schwert und streckte den Griff dem Sterbenden entgegen.
“Dein war der Kampf, Norbert!” sagte er leise. «Nimm mein Schwert für Deines – ich ergebe mich Dir, wie Du Dich mir ergabst – “

Ein letztes Lächeln glitt um die Lippen Norberts, und seine Hand schloß sich um den fremden Schwertgriff:
„Ein – guter – Kampf – “ flüsterte er. „Für U – N – A – – L – – „

Noch einmal suchte sein Auge den weißen Kristall auf dem zerspellten Schild – und brach.

Rodrick drückte ihm die Lider zu und richtete sich langsam auf. Die Sonne stand jetzt schon hoch über der Heide – lang war der Nebel verflogen. Mit tastender Gebärde nahm er den Helm ab.

Ein guter Kampf – “ wiederholte er nachdenklich. „Und – was kommt nun?“
Er spürte, wie ihn der Rausch des Gefechts verließ, und die graue Öde des Nachher aufzusteigen begann. Norbert tot – UNAL geschlagen – und nun ? Er machte ein paar schwerfällige Schritte und ließ sich auf dem Panzer seines toten Rosses nieder.

Den Hubschrauber hörte er erst, als er wenige Meter über ihm war.
Ein sommersprossiger junger Mann streckte den Kopf aus dem Kabinenfenster und gestikulierte mit den Armen.
“- oo – aa – ii – !“ Der schwirrende Lärm des Rotors verschluckte seine Stimme. „Groß – ar – tig! Meinen Glückwunsch, Boss! Seit Jesse James von Coca Cola es mit dem Sheriff von Pepsi ausschoß, hat es keinen solchen Kampf in den USA gegeben!“

Rodrick hob den Kopf. Da drüben kam der silberglänzende Helikopter der UNITED ALUMINIUM heran – aber NEWSTEEL war schneller gewesen. Schon sank der massige Rumpf neben ihm auf die hufdurchpflügte Heide nieder; der junge Mann – im kurzen Wams eines Schildknappen – sprang heraus, ehe er noch richtig gelandet war.

„Wir hatten sie von Anfang an im Video, Boss! Verdammt, was habe ich geflucht, als Ihr Pferd zu Boden ging – und ich hatte Zehntausend auf Sie gewettet!“ Er fuhr sich grinsend durch das langfallende kupferrote Haar.

Rodricks Lippen verzogen sich zu einem bitteren Grinsen.
„Welche Odds ?“ fragte er.

„Eins zu eins Punkt eins – mehr wollten sie Norbert nicht gegen sie geben, die Pfeffersäcke!“ (Pfeffersäcke war eine jener Vokabeln des mittelalterlichen Wortschatzes, die Johnnies Wohlgefallen gefunden hatten).

Aber jetzt drängten sich die anderen aus dem Helikopter.
„Rodrick – eine große Sache!” Der dicke Mann wischte sich den Schweiß von der Stirn, als habe er den Kampf hinter sich.“ Jetzt ist die UNITED ALUMINIUM fertig – fertig, sage ich Ihnen! Norbert war – „

Rodrick hob die Hand.
„Norbert war der fairste Gegner, den ich je traf. Kein Wort gegen sein Haus, für das er starb!“ Er wandte sich unwillig ab und ging auf die Männer aus dem anderen Helikopter zu, der inzwischen gelandet war.

„Zu spät, Doktor – “ sagte er zu dem Mann im weißen Kittel, der sich über Norberts reglose Gestalt beugte. „Es ging auf Leben und Tod – so war es beschworen!“ Er trat zu den anderen und schüttelte ihnen die Hand.

„UNAL verlor heute seinen besten Mann – und Amerika einen der besten. Wären die Pferde nicht gestürzt – dann stünde ich nicht hier!“

Der Dicke hatte sich gefaßt und kam auf die kleine Gruppe zu. Er trat vor den Toten hin und machte eine ehrfurchtsvolle Reverenz.

„Hier ruht ein großer Held – “ sagte er sanft.

Rodrick warf ihm einen langen Blick zu – dann warf er den Kopf in den Nacken und drängte sich durch die eigenen Leute, die ihn umringten und seine Hände schüttelten.

„Ich möchte jetzt ein paar Minuten allein sein – “ murmelte er der weißgekleideten Gestalt zu, die in der Tür des Helikopters stand. Mit einem unmerklichen Lächeln schloß sie die Tür hinter ihm.

Der dicke Mann kam zurück.
„Eine große Sache! “ sagte er, vor Anstrengung keuchend. „Und diese letzten Worte der beiden – ritterlich, ritterlich! Das gibt Public Relations!” Er unterbrach sich und warf der weißgekleideten Gestalt einen schlauen Blick zu. „Ihre Idee, Kleo, was?“

Die dunklen, mandelförmigen Augen wurden eisig.
“Seine Idee, McCollar!“ Und dann, mit einem spöttischen Lächeln: „Sie sollten den ritterlichen Ehrenkodex endlich mal durchlesen, wenn Ihr Chef schon seit fünf Jahren in dieser Masche macht! Das glänzendste Beispiel aus der Historie ist die Sporenschlacht bei Guinegate, wo Bajard von Burgund mit dem letzten Lord Gloster kämpfte, ihn besiegte und ihm trotzdem sein Schwert gab … „

„Also Kleo – woher Sie das alles so wissen!” McCollar schüttelte bewundernd den Kopf. „Ich hab es schon lang aufgegeben: Gestern waren es die Cowboys, heute sind es die Ritter, morgen spielen sie vielleicht Caesar und Antonius – “ Er unterbrach sich. “Übrigens – wie sind Sie an die Option für Kleopatra gekommen? Ich dachte – „

„Hört, Ihr Mannen – McCollar dachte!“ Johnnies grinsendes Gesicht tauchte neben seiner Schulter auf. „Wollen Sie das in Zukunft öfter tun?“

Der Dicke lachte gutgelaunt. „Nur mit Denkern baut man kein Unternehmen, Johnnie – es muß auch noch ein paar geben, die was tun! Aber nun schießen Sie los, Kleo!“

Die üppigen dunkelroten Lippen verzogen sich zu einem Lächeln.
„Es war einfach, McCollar. Die Rechte an der historischen Gestalt der Kleopatra hat die Muslimische Union – genau wie auch an Nofretete und den übrigen alten Pharaonen – weil sie ja in Ägypten lebten; aber natürlich war den Herren dabei nie ganz wohl, weil ja die alten Ägypter nicht an Allah glaubten. Deshalb waren diese Rollen bis vor kurzem gesperrt.

Aber nachdem all dieses Geschrei über den neuen Kreuzzug losgegangen ist, machte die Union eine große Geste – und die Muftis und Hadschis von der Gesandtschaft haben mir die Kleopatra geradezu aufgedrängt. Wahrscheinlich hoffen sie, eine gute Dosis altes Ägypten direkt auf Rodricks Burg sei eine Art stumme Demonstration, daß sich die amerikanische Ritterschaft nicht in die Kreuzzugspläne verwickeln läßt. Steht mir ganz gut, was?“ Kleo drehte sich einmal um die eigene Achse, daß die langen Locken der schwarzen Wollperücke flogen.

Aber jetzt muß ich zu Rodrick!“

Der Dicke sah der Gestalt kopfschüttelnd nach, als sie durch die Kabinentür ver-schwand. Johnnie tippte ihn auf die Schulter.

„McCollar – warum besorgen Sie sich eigentlich nicht die Rolle von Sancho Pansa? Dann kann der Boss den edlen Ritter Don Quixote machen – und Sie reiten als Knappe auf dem Esel hinterher!“

„Gute Idee – und Du übernimmst die Rolle des Esels, was?“ feixte McCollar.

„Ich kann sie nicht mehr sehen – diese ganzen Kreaturen!“ sagte Rodrick im gleichen Augenblick in der Kabine. “Eben – im Kampf – da war ich glücklich, Kleo; ein paar Stunden lang. Und dann kamen sie – diese weichen, klebrigen, dummen Knechte – „

„Denen Du immerhin verdankst, daß NEWSTEEL mit Profit arbeitet!“ Kleo lächelte. „Rodrick – ich kann verstehen, wie Dir zumute ist; aber wir müssen jetzt die Richtlinien für die Publicity besprechen!“

Rodrick nickte. „Hast recht, Kleo!“ Er schenkte sich einen Whisky ein und stürzte ihn herunter. „Hatten die alten Ritter eigentlich auch schon Whisky?“ fragte er und wischte sich den Mund.

Kleo schüttelte den Kopf. „Branntwein und Schießpulver wurden etwa gleichzeitig populär – und das Pulver war das Ende der Ritterschaft.“

“Also wieder mal nicht stilecht!“ Rodrick grinste bitter. „Übrigens – stilecht: Kleopatra paßt gut zu Dir!“

„Danke für das Kompliment. Ich hatte den Chevalier d‘ Eon wirklich satt – diese albernen Duelle! Ich hab die letzten 5 Forderungen einfach nicht mehr beantwortet -„

„Aber Kleopatra hat sich selbst umgebracht – stört Dich das nicht?”

Wieder ein Lächeln: „Ich werde früh genug wechseln, Rodrick! Es gibt noch eine Menge interessanter Frauenrollen in der Weltgeschichte – „

„Weltgeschichte!“ Rodrick sprang auf. „Zeig her – was hast Du vorbereitet?“

Hier!“ Kleo schwenkte ein Manuskript. „Wir stellen alles auf den Slogan ab: Ein fairer Kampf – ein fairer Sieg!
Das paßt einerseits auf Dich und Norbert – zum anderen aufs Newsteel und Aluminium: Erst waren die Leichtmetalle dem Stahl überlegen – dann kam die Superstrukturtheorie und Feinkristallkontrolle – und so wurde der Stahl dem Leichtmetall nach dem Gewichts-Festigkeits-Verhältnis wieder gleichwertig – und am Ende überlegen. Alles zum Besten des Verbrauchers, der amerikanischen Wirtschaft, der Menschheit und so weiter. Okeh? „

„Nicht schlecht!“ Rodrick rieb sich die Wange.

„In der ersten Woche legen wir den Schwerpunkt ganz auf Aluminium – wo es dem Stahl überlegen ist. Große Geste – und Analogie zu Deinen letzten Worten im Kampf. Aber davon sprechen wir nicht – das soll sich die Öffentlichkeit selbst zusammenreimen.
In der zweiten Woche kommen wir zu den Gebieten, wo die neuen Stähle dem Leichtmetall gleichwertig sind – dann zu denen, wo sie überlegen sind – und am Ende nehmen wir die Gebiete der ersten Woche und beweisen, daß inzwischen auch da der Stahl das Aluminium überrundet hat. Das kommt genau zu der Zeit, wo man sich von Eurem ganzen Kampf nur noch an Deinen Sieg erinnert. – “

“Kleo!“ Rodrick schlug mit der Faust auf den Tisch. „Das ist – niederträchtig! „

„Aber wirkungsvoll. Wir können natürlich auch darauf verzichten, wenn inzwischen bereits eine Fusion der UNITED ALUMINIUM mit NEWSTEEL – „
„Fusion ?!“

„Es wäre eine Idee – wenn man sich überlegt, daß die Kleinaktionare jetzt nach Norberts Tod ihre Aktien abstoßen werden und eine Majorität leicht zusammenzukaufen wäre. Die UNITED steht sowieso wacklig, und wenn man dem Vorstand im richtigen Augenblick – “

„Langsam, Kleo! Ich habe diese Seite noch überhaupt nicht durchdacht!“

Kleo nickte verständnisvoll. „Du hattest anderes zu tun. Aber wir könnten die Überschüße der NEWSTEEL gegen die Verluste der UNITED aufrechnen – sehr gut für die Steuer – und die Wirkung auf die Öffentlichkeit wäre bestimmt positiv. Übrigens würdest Du damit achtundfünfzig Prozent der Metallproduktion in den USA kontrollieren. McCollar könnte – „

Wie auf ein Stichwort erschien der Dicke in der Tür.
„Entschuldige, Rodrick – aber die Barden! Ich kann sie nicht länger warten lassen!“

Drei Männer in wallenden Gewändern traten ein und verneigten sich.
„Ritter Rodrick von Newsteel – wir entbieten Dir unseren Gruß. Widerhallen sollen Video und Radio vom Ruhm Deines Kampfes … „

„Ja, ja!“ Rodrick nickte geistesabwesend. „Achtundfünfzig Prozent – McCollar – ich möchte, daß sie einmal prüfen … “

„Ritter Rodrick?“ wiederholte der Barde.

„Sprecht mit Kleo!“ Der Chef von NEWSTEEL zog McCollar in den Nebenraum.

„Vieledle Fraue – “ begann der Barde von neuem.

„Danke, danke – nehmt mir’s nicht übel, Jungens, aber macht schnell. Ihr habt doch die Gesänge schon vorbereitet?“

„Wir hatten – “ begann der zweite Barde feierlich, „ein Epos für den Fall des Sieges und eines für den der Niederlage vorbereitet – „

„Werden beide honoriert. Die Details des Kampfes müßt Ihr natürlich nach den Video-Aufnahmen noch ausfüllen – und jetzt zeigt mal den Schluß!” Kleo runzelte die Stirn. „Also – das geht so noch nicht! Paßt auf, Jungens: Norbert ist in keinem Falle negativ zu schildern – noch nicht mal sein Schwert blinkt ‚tückisch’ – und kein Wort von einem ‘Triumph’ Rodricks! Er ist – wartet mal – er trifft den ebenbürtigen Gegner – den, der ihm hätte Freund sein können, wenn er nicht Feind gewesen wäre – und in der letzten Sekunde sind sie wie Freunde – irgendwas mit – entschuldigt mal -„

Kleo öffnete die Tür zur Nebenkabine halb. „Rodrick – können wir in die Epen was von ‘Vermächtnis’ nehmen? Wie? Ja, natürlich ganz unbestimmt – aber es bereitet den Boden vor!”

Strahlend wandte sich die Königin beider Ägypten den Barden wieder zu. „Also – mit dem letzten brechenden Blick auf das UNAL- Firmenzeichen auf seinem Schild hat Norbert von UNAL Rodrick eine Art Vermächtnis hinterlassen – versteht ihr, Vermächtnis – aber diesen Gedanken nicht zu sehr herausstreichen – nur so zwischen den Zeilen, nicht wahr?!“

„Okeh – “ nickten die Barden. „Wir schicken die Entwürfe noch einmal vorbei, wenn sie fertig sind!“ Sie verneigten sich und verschwanden, um das Video-Band des Kampfes zu studieren.

cCollar kam wieder zum Vorschein, rot und schwitzend.
„Ihre Idee, Kleo? Große Sache das – wir sacken die UNITED ein! Das wird ein Coup! Johnnie – Jooohnnie – !“

Kleo sah ihm mit nachdenklichem Lächeln nach.
“Und was kommt nun?“

Die Frage stand im Raum, als habe keiner sie gesprochen.

Kleo wandte sich halb zu Rodrick um.
„Eine neue Fehde, Rodrick? Wenn Du mich fragst – es steckt nichts mehr drin. Weder ideell, noch wirtschaftlich. Norbert war der letzte Ritter von Format. Natürlich könntest Du noch Titanium Consolidated nehmen – soviel ich weiß, haben sie eine Wikinger-Siedlung an der Westküste – oder American Copper – die sind schon im Zeitalter des Schießpulvers: Musketen und Feuerschlangen – es gäbe vielleicht eine nette Belagerung der Burg – sehr eindrucksvoll im Video – und mit einem Newsteel-Panzer wärst Du praktisch kugelfest – „

„Kugelfest!!!“ Rodrick schüttelte den Kopf. „Verstehst Du mich denn auch nicht, Kleo? Mir geht es nicht um den Sieg – mir geht es um den Kampf! Mit einem kugelfesten Panzer würde mir das genau so wenig Freude machen wie eine Jagd auf Stubenfliegen – „

„Und Rodrick von NEWSTEEL ohne Newsteel-Panzer ist doch werblich eine Unmöglichkeit!“ Kleo lächelte. „Ich sage Dir ja, Rodrick – es ist nichts mehr drin … „

„Und – die Kreuzzüge?“ sagte Rodrick nachdenklich.

Kleos Antlitz wurde hart. „Wenn Du etwas auf meine Meinung gibst – dann laß die Finger davon, Rodrick. Willst Du den ganzen Export nach Afrika gefährden? Diese Kreuzzüge sind eine ganz gefährliche Kateridee der Pfaffen in Südamerika, die sich um ihre eigenen Dinge kümmern sollten – man spricht schon davon, daß es in Mexiko wieder Menschenopfer gibt: als Ketzerverbrennungen getarnt natürlich, aber auf den alten Tempelpyramiden!
Und außerdem – wie willst Du das Heilige Grab denn befreien? Mit Schwert und Lanze gegen Maschinenpistolen? Und ohne Luftaufklärung ?“

Rodrick holte tief Atem und schlug mit der Faust auf den Tisch. Seine Rüstung klirrte.
„Das wäre noch etwas, Kleo – ein Landungsunternehmen wie vor hundert Jahren im Pazifik oder in Frankreich – Landungsboote, Fallschirmtruppen, Sturzkampfbomber, Raketen – und ich mitten drin – ach, Kleo, das wäre herrlich – „

Er brach ab und lachte bitter auf.
„Aber was würde PAX dazu sagen?!“

2 D i e H e l d i n

Das spinnwebstaubige Dunkel des Mngon-kang war erfüllt vom Aashauch verwesender Tierleiber und dem scharfen Geruch ranziger Butter. Als formlose Klumpen, deren verrottetes Fleisch in Stücken zu Boden fiel, hingen die Kadaver der glückbringenden Tiere – mit Stroh ausgestopft – von der Decke nieder; die schmierigglänzende Butter aber war – gefärbt und filigranfein zu phantastischen Pyramiden modelliert – als Opfergabe vor den Bildern der Schutzgötter aufgetürmt, die totenkopfbekränzt und starräugig auf sie niedergrinsten.
Helene Werner fuhr sich mit der Hand über die Augen, als könne sie so das Bild ihrer Umgebung auslöschen; dann glitt die Hand nach unten und zerrte den grauen Stoff der Uniformbluse durch das Koppel, daß sich das Tuch mit den roten Ordensbändern über der Brust straffte.

„Ich hatte erwartet, Genosse Tsongpon,“ sagte sie scharf, „hier eine Versuchsstation vor-zufinden; anstattdessen finde ich ein Kloster voll schmutziger, abergläubischer Mönche! Ich hatte erwartet, daß unsere Freiwilligen hier die Kältekontrolle erlernen würden – „

Der Lama hob unterbrechend die knochige Hand. “Und beherrschen sie diese Fähigkeit jetzt nicht, Genossin Kommissarin?“

Helene Werner stampfte unwillig mit dem Fuß auf.
„Die Genossen, die ideologisch zuverlässig sind, haben nicht die geringsten Fortschritte gemacht – und die anderen, bei denen Euer Training Erfolg hatte, haben alle Grundsätze des Kombinats vergessen, murmeln idiotische Zauberformeln – ‘om mani padme hum’ – und stieren stundenlang auf widerliche Götzenbilder!“

Das Antlitz des Tibetaners blieb unbewegt.
“Es mag sein, Genossin Kommissarin, daß Ihre Gelehrten in den Schriften des großen Mi-la-ras-pa nur jene Stelle gelesen haben, in der er davon berichtet, wie er die Fähigkeit gewann, Wärme in seinem eigenen Körper zu erzeugen und – nur mit dünnem Baumwolltuch bekleidet – durch die Gletscher unserer Berge zu wandern; es mag sein, daß sie übersehen haben, was er dabei sang:
Vaterland, Heim, die Felder des Vaters
sind Dinge aus der Welt des Trugs –
nehme sie hin, wer da will:
Ich, der Einsiedler, bin auf der Suche
nach der Befreiung … „

“Befreiung!“ wiederholte die Kommissarin aufgebracht. „Nennt Ihr es Befreiung, Sklaven des Aberglaubens und alberner Götzen zu werden? “

Wieder hob der Lama die Hand „Es ist gefährlich, Genossin Kommissarin, unsere Götter in ihrem Tempel zu lästern – es könnte uns allen Unglück bringen!“

„Aberglaube und Unsinn! Die Menschen des Kombinats arbeiten nicht für Götter und Phantasmen, sondern für diese Welt und eine bessere Zukunft – für sie sind Vaterland, Heim und die Felder des Vaters kein Trug, sondern der Inhalt ihres Lebens!“

„Sie sagen es, Genossin!“ nickte der Lama gleichmütig. „So denkt jeder zuverlässige Genosse – und deshalb erlernt er auch die Kältekontrolle nicht.“

Helene Werner trat einen Schritt auf den Tibetaner zu. „Es ist ein Versagen Ihrer Trainingsmethoden, Genosse Tsongpon! Sie verstehen es einfach nicht, aus den alten Meditationen nur die Teile auszuwählen, die sich auf die psychophysische Kontrolle des Organismus beziehen – sondern Sie schleppen in Ihrer Unfähigkeit den ganzen alten Unrat des Aberglaubens mit!“ Sie wandte sich aufgebracht ab. „Ich werde diese Texte einer genauen semantischen Analyse unterziehen lassen! Es muß möglich sein, ein kennzeichnendes Merkmal zu finden, das die wirklich sinnvollen Teile der Meditationen – die, die sich auf den menschlichen Körper beziehen – von den sinnlosen übernatürlichen Faseleien unterscheidet!“

Der Lama wiegte den Kopf.
„Genossin – Meditation ist mehr, als nur das Lesen und Sprechen eines Textes: Es ist Versenkung – Eindringen – in Dinge, die jenseits des Wortes liegen. Es würde mich schmerzen, wenn Sie durch diesen Irrtum einen Mißerfolg erlitten … „

Helene Werner wandte ihm noch immer den Rücken zu – doch ihr Kopf war nicht mehr herrisch zurückgeworfen, sondern gebeugt. Mit veränderter Stimme sagte sie nach einer Weile:
„Ich darf keinen Mißerfolg haben, Tsongpon. Ich muß immer recht behalten. Es ist meine einzige Waffe.
Ich bin eine Frau, Tsongpon – in der Theorie macht das zwar nicht den geringsten Unterschied, aber in der Wirklichkeit – einen sehr großen.
Ich bin eine häßliche Frau, Tsongpon – und deshalb habe ich noch nicht einmal die Möglichkeit, diesen Unterschied auf eine – “ sie zögerte ein wenig, “ eine andere Weise auszugleichen.
Wenn ich heute trotzdem Kommissarin und Heldin des Kombinats heiße – dann nur, weil ich immer recht gehabt habe, als die anderen unrecht hatten, und ich muß auch diesmal recht behalten – ich muß auch diesmal Erfolg haben.
Alle anderen Versuche sind fehlgeschlagen: Die Zuchtversuche der biologischen Sektion haben nichts geliefert, als Mißgeburten – die Experimente mit künstlicher Ernährung haben nur ein paar neue Mangelkrankheiten gezeitigt – die Physiologen und Chirurgen haben genau so wenig erreicht: Die einzige Möglichkeit, unsere Siedler für die Temperaturen der Antarktis unempfindlich zu machen, ist das Geheimnis Mi-la-ras-pas.
Ihr müßt mir helfen, Tsongpon!“

Das Antlitz des Lamas war milder geworden.
„Ich will Dir helfen, Helene – “ sagte er leise und legte ihr die Hand auf die Schulter. „Du weißt, daß ich Dir helfen will – nicht wahr? Nützen diese Meditationen über den Fünfjahresplan ein wenig?“

Helene Werner nickte – verlegen, wie ein Schulmädchen. „Sie helfen – ein wenig! Aber es ist so schwer, die Bilder hinter den nüchternen Zahlen zu sehen – wirklich zu sehen, verstehst Du? Es geht mir oft dabei, wie früher als Kind, wenn ich vor dem Einschlafen Schafe zählen wollte – ich sah alles mögliche, nur keine Schafe!“ Sie lächelte traurig. „Eure alten Gebete sind voller Bilder, Tsongpon – das macht es sicher leichter!“

“Versuch es weiter, Helene. Wir werden es hier auch weiter versuchen. Vielleicht kann ich es verantworten, auf einen Teil der alten Übungen zu verzichten – vielleicht hilft auch Hypnose ein wenig – „

Die Kommissarin nickte wieder. „Danke, Tsongpon! Und – “ sie wurde ein wenig rot, „vergiß, was ich vorhin sagte – ich weiß, Ihr tut Euer bestes!“

Der Lama lächelte.
„Ich hatte es längst vergessen, Helene. Ihr Abendländer habt es so schwer – für Euch gibt es nur diese Welt und nicht jenseits davon; woher sollt Ihr da die Kraft nehmen für Eure vielen Taten und Pläne? Wir dummen abergläubischen Tibetaner haben es leichter – so viel Kraft aus dem Unsichtbaren, und so wenig Pläne!“ Er nahm ihr Gesicht zwischen die knochigen Hände und sah sie scharf an. „Und nun vergiß dieses Gespräch! Du hast den Genossen Tsongpon zurechtgewiesen – er war zerknirscht und wird sich in Zukunft mehr anstrengen!“

„Sie werden sich mehr anstrengen, Genosse Tsongpon! “ rief die Kommissarin. „Verstanden?! “

„Ich verstehe Sie sehr gut, Genossin Kommissarin!“
Der Lama verneigte sich und wandte sich in das Dunkel der Kapelle. Nur die starren Augen der unzähligen Götter sahen das unmerkliche Lächeln, das um seine dünnen Lippen spielte.

Helene Werner holte tief Atem. Es war sicher gut, diesen Tibetaner schärfer anzufassen! Aber man durfte nicht unklug sein. Dieses Kloster mit all seinem Hokuspokus aufzulösen und das Kältekontroll-Training in wissenschaftlich geleiteten Versuchslagern des Kombinats durchzuführen – dazu war die Zeit erst gekommen, wenn man die Methode beherrschte. Heute war man noch auf diese Mönche angewiesen …

Allerdings – man durfte nicht zulassen, daß ihr mystischer Unsinn überhandnahm. Vor allem ging es darum, die Freiwilligen wieder zur Vernunft zu bringen, und konnte das schwer sein? Sich freiwillig für diese Versuche zu melden – das hieß doch, begeistert für die Ziele und Projekte des Kombinats zu sein! Wenn in dieser Atmosphäre von Gebeten, Götzen und Geistern, unter dem Einfluß von Entbehrungen und Übungen mancher auf absonderliche Schrullen verfiel – die Erinnerung an die Grundsätze des Kombinats, an das Bekenntnis jedes zuverlässigen Genossen würde diese Träumereien wegfegen, wie ein erfrischender Wind den muffigen Butter- und Aasgeruch des Mngon-kang!

Wieder straffte sie mit beiden Händen das Tuch ihrer Uniformbluse. Sie würde mit diesen Männern reden!

Eine rote, goldbeschlagene Tür – mit weißen Totenköpfen besetzt – führte vom Mngon-kang, der Kapelle der Schutzgötter, in das große Versammlungshaus des Klosters. Totenköpfe – Totenbeine – Kadaver – Gerippe: Dieses ganze Kloster war wie ein Totenhaus! Und dennoch schienen die Mönche den Tod so ganz anders zu sehen als die Menschen des Kombinats: Nicht als ein Ende, sondern als einen Anfang … hatte sie nicht sogar Bilder zweier Skelette in lüsterner Umarmung gesehen ?

Die Kommissarin schüttelte den Kopf, als müsse sie sich von Spinnweben freimachen – oder von unwillkommenen Gedanken? Dumpf fiel die Tür des Mngon-kang hinter ihr zu.

Sie stand zwischen den roten Säulen des ‚ Du-kang – des Versammlungshauses. Grobgezimmerte Holzbänke zogen sich an den Längsseiten des Mittelschiffes entlang – überragt von vergoldeten, staubigen Statuen lamaistischer Heiliger und Äbte. Jetzt öffnete sich eine Tür an der anderen Stirnseite – ein Trapa, ein niederer Mönch, erschien mit einem dampfenden Teekessel. Als er Helene erblickte, machte er einen grotesken Versuch, nach der Art des Kombinats zu grüßen.
„Genossin Kommissarin – die Freiwilligen kommen jetzt hierher: Es gibt Tee und Tsampa!“ meldete er eifrig.

„Das ist ausgezeichnet!“ Helene Werner rückte ihr Koppel zurecht. „Meditieren sie dabei?“

Der Trapa schüttelte den Kopf. „Sie essen und trinken!“ erläuterte er nocheinmal.

„Gut – dann werde ich während dieser Zeit eine neue Art der Meditation abhalten: Eine Meditation über die Grundsätze des Kombinats!“

Sie sah sich um. Rechts und links von ihr schlurften die Männer herein und hockten sich auf den Bänken nieder, kleine Holznäpfe in der Hand, die der umhergehende Trapa mit dampfendem Tee füllte; aber sie schienen es kaum zu bemerken. Ihre Gestalten waren ausgemergelt, die Gesichter knochig und eingefallen – aber in ihren Augen war ein fremdartiges Licht; ihre Uniformen waren die schlichten, stumpfgrauen des Kombinats – aber sie sahen nicht mehr aus wie Männer des Kombinats …

„Genossen!“ begann Helene Werner mit erhobener Stimme.
„Genossen! Ihr alle wißt, welch große Aufgabe wir im Rahmen des Planes zu erfüllen haben. Ihr alle habt Euch freiwillig gemeldet, um an dieser großen Aufgabe mitzuarbeiten, und ich freue mich, daß Ihr als Erste einen Erfolg auf diesem Wege erringen konntet!“

Der Kessel klapperte, die Näpfe dampften – ab und zu langte einer der Männer in seinen Beutel und holte einen Brocken Tsampa hervor; der Trapa ging jetzt auf die andere Seite des Raumes hinüber, um die dort Sitzenden zu bedienen; aber sonst blieb alles still. Warum sagten sie denn nichts?

Genossen!“ begann sie wieder. „Ihr habt große Opfer bringen müssen, um diesen Erfolg zu erringen. Ich sehe, daß Ihr Entbehrungen erlitten habt – ich weiß, daß Ihr ein hartes Training auf Euch nehmen mußtet; aber es ist der Mühe wert gewesen. Ihr habt als erste das Geheimnis der Kältekontrolle zu beherrschen gelernt!“

Stille. Der Trapa schien mit dem Einschenken fertig zu sein und verschwand durch eine Nebentür – ab und zu hob einer der Männer seinen Napf und schlürfte den heißen Tee. Ich hätte mir auch eine Tasse geben lassen sollen, dachte Helene Werner – es ist kalt hier. Sie fröstelte.
„Genossen! Wißt Ihr, was das für unser Kombinat bedeutet?“

Einer der Männer wandte ihr das Gesicht zu. Er lächelte ein wenig. Seine Lippen bewegten sich.
„Om – mani – padme – hum – “ murmelte er.

Helene Werner warf ihm einen scharfen Blick zu.
„Wißt Ihr, was das für die Zukunft bedeutet? Wißt Ihr, wieviel neues Land die Kältekontrolle unseren Siedlern erschließen wird?
Drei Millionen Quadratkilometer! „

Der Mann lächelte noch immer. „Om – mani – padme – hum – “ Man konnte die Worte kaum verstehen – nur die Lippen bewegten sich in gleichförmigem, endlosem Rhythmus.

„Genossen! Drei Millionen Quadratkilometer habt Ihr unseren Siedlern neu erschlossen – Ihr und Eure Genossen, die ihr Leben für dieses Ziel opferten! Macht Euch das nicht stolz? Fühlt Ihr nicht, was das bedeutet?”

„Om – “ murmelten die Lippen – “ – hum – “ — “ – om – “ — “ – hum – “

„Drei Millionen Quadratkilometer- “ rief Helene Werner,”bedeuten bei einer Besiedlungsdichte von dreißig Einwohnern pro Quadratkilometer – das ist der Durchschnitt im Gebiet der Union – neunzig Millionen Menschen, Genossen! Neunzig Millionen habt Ihr den Weg geöffnet – den Weg in die Antarktis – den Weg zu neuen Städten, neuen Siedlungen, neuen Dörfern!”

Sie holte Atem. ‘Vaterland, Heim, die Felder des Vaters – sind Dinge aus der Welt des Trugs – ‚ schien eine Stimme in ihrem Kopf zu sprechen; sie machte eine unwillige Bewegung.
„Der Plan sieht vor, daß wir bis zum Ende des laufenden Jahrfünfts bereits drei Städte errichtet und besiedelt haben werden – drei Städte mit zusammen einer Million Einwohnern. Ihr werdet zu den ersten gehören, die ihren Fuß in diese Städte setzen -„

‘ – nehme sie hin, wer da will – ‚ Das war alles falsch, was sie da sprach – das war nicht der Weg, diese Männer aus ihrer Lethargie aufzurütteln!
„Aber – “ begann sie von neuem, „Eure Aufgabe ist noch nicht beendet damit, daß Ihr für Euch selbst die Kältekontrolle beherrschen gelernt habt – nun tritt erst die zweite, die größere Aufgabe an Euch heran: Euren Genossen, die ins neue Land, in die neuen Städte hinausziehen werden, Euer Wissen zu übermitteln – ihnen zu helfen -„

War das Murmeln jetzt verstummt? Horchte der Mann jetzt? Seine Lippen bewegten sich nicht mehr …
“Freiwillig habt Ihr Euch gemeldet, Genossen – und damit bewiesen, daß Ihr selbst Euer Leben im Dienst unseres Plans einsetzen wollt, wenn es nötig ist. Was Ihr jetzt tun müßt, ist viel leichter – leichter sogar als das, was Ihr hinter Euch habt: Schwer war es, einen gestählten Willen brauchte es, Euren Körper unter die Gewalt des Geistes zu zwingen, damit er die Kälte ertragen lernte – was jetzt folgt, dazu braucht Ihr nichts Neues zu lernen, Euch nicht zu überwinden: Das sind die alten Grundsätze des Kombinats – der Gehorsam, die Pflichterfüllung, der Dienst am Genossen neben Euch!
Von Euch hängt es jetzt ab, ob wir unser Soll erfüllen werden – von Euch hängt es jetzt ab, ob der große Plan Wirklichkeit wird – von Euch hängt es ab, ob Eure Genossen eine bessere Zukunft erleben werden!“

Stille. Kein Murmeln mehr? Kein “ – om – – hum – „? Wieder holte Helene Werner tief Atem.
„Genossen – denkt an die Zukunft. Denkt an die Männer und Frauen, die ihre Zukunft dort in den Eiswüsten der Antarktis suchen – die dort leben werden, die dort ein Haus bauen, die dort heiraten werden – denkt an die Kinder, die dort zur Welt kommen werden, die heranwachsen und die nichts anderes kennen werden als Eis und Schnee und Kälte – die lernen müssen, dort zu leben. Denkt an die Kinder, Genossen, und ihr werdet verstehen, daß sie Euch brauchen – daß Ihr sie lehren müßt, ihre kleinen Körper so zu stählen gegen die tödliche Kälte, wie ihr es jetzt könnt – daß Ihr uns helfen müßt, ihnen den Weg zu ebnen – daß sie es leichter lernen sollen, als Ihr – und Ihr werdet verstehen, daß Ihr jetzt sprechen müßt, daß Ihr nicht mehr schweigen könnt, wie bisher, daß Ihr mir helfen müßt, Genossen – “

Ein Napf klapperte zu Boden. Eine hockende Gestalt sackte in sich zusammen, glitt mit verrenkten Gliedern von der gezimmerten Bank und schlug mit dumpfem Laut auf die Bretter.

Helene Werner machte einen hilflosen Schritt auf die Gestalt zu – und blieb dann reglos stehen. Von den Bänken starrten sie glasigglänzende Augen an – aber das Licht in ihnen war erloschen.

Und Helene Werner – Heldin des Kombinats, Koordinatorin des Siedlungsprojektes Antarktis, korrespondierendes Mitglied der Sozialistischen Akademie der Wissenschaften, Trägerin des Ordens „Rotes Uran“ und der Lenin-Medaille für fortschrittliche Organisation – Helene Werner war wieder ein kleines Mädchen, das ein Kamel aus braunen Kastanien gemacht hatte. Das Kamel war so lustig – es hatte ein grosses Maul, das Weiß im glänzenden Braun der Frucht klaffte – sein Schwanz war ein weißer Bindfaden, der hin und her baumelte: Sie mußte es doch Mutti und Vati zeigen – vielleicht lachten sie dann auch? Sie lachten so selten …

Und dann war sie in das Zimmer gekommen – ganz leise, und mit hochroter Backen vom Eifer des Spiels – und da hatten sie gesessen: Ganz still – nebeneinander – und hatten sie angeschaut und doch nicht angeschaut – und nicht geantwortet – und sie hatte Mutti am Arm gefaßt – und der Arm war so steif und kalt – so kalt –

Sie schrie. Schrie wie ein Tier – wie sie damals geschrien hatte. Und die Männer auf den Bänken starrten sie mit glasigen Augen an – von den Wänden und Türen grinsten die Totenschädel –
„Tsongpon!“ schrie sie. Und dann stürzte sie aus dem Raum – unendlich lang war er – rechts und links saßen die stummen Männer mit den starren Augen – und sie mußte hindurch – rechts und links – vor ihr die Tür mit den weißen Schädeln – und rechts und links die Toten – „T s o n g p o n !“

Die Türflügel öffneten sich – ein Luftzug ließ die Flammen der Butterlampen flackern – und dort stand er: Zwischen den zehntausend grinsenden Dämonen und den wachsbleichen Gesichtern der Toten – ruhig und lächelnd wie der Buddha Amitabha inmitten der fratzenhaften Gestalten des Totenreichs –
“Tsongpon!“ stöhnte Helene Werner und klammerte sich an seine hohe, hagere Gestalt – „Tsongpon – sie sind alle – t o t !“

Eine knochige Hand legte sich auf ihren Kopf – und das Grauen der letzten Minuten löste sich in einem wilden, hemmungslosen Schluchzen.
Unermeßlich lange Zeit schien vergangen, da hob der Lama an, halblaut zu sprechen.
„Ausgeschieden – “ tönte seine Stimme durch den totenstillen Raum, „sind ihre Seelen aus dem Strudel des Lebens.

Siebenmal sieben Tage werden sie verharren im Reich jenseits des Grabes.
Umhüllen wird sie das unendlich klare, farblose Licht – mögen sie es erkennen und austreten aus dem Kreislauf des Werdens, der Täuschung und des Leids – oder sie werden, getäuscht von Schemen und Dämonen, wieder eingehen in die Welt der Gestaltungen.
Wenig genug an Wissen war es, das wir ihnen mitgeben konnten – wenige Schritte nur haben wir sie auf dem Weg der Erkenntnis geleitet – möge der unermeßliche Glanz Buddhas ihnen den rechten Pfad weisen.
Siebenmal sieben Tage jenseits des Grabes – und sie werden in die Welt des Scheins zurückkehren – oder eingehen in das Nirvana jenseits der Täuschungen. Was erschreckt Dich daran, Helene?“

Sie umfing mit einem Blick die entrückten Gesichter der Toten und das lächelnde Antlitz des Tibetaners.
„Es – “ sie zögerte und erwiderte unsicher sein Lächeln, “ es – erschreckt mich nicht mehr. Nicht so, wie Du es sagst. Es – es klingt fast wie eine Verheißung, nicht wahr?“

Sie fuhr sich mit der Hand über die Augen, als schäme sie sich der Tränen. Doch dann schien sie ein neuer Gedanke zu erfassen:
“Aber – weshalb sind sie – “ wieder zögerte sie, “ – gestorben?“

Das Antlitz Tsongpons wurde ernst.
„Ich habe Dich gewarnt, Helene. Es ist gefährlich, die Schutzgötter zu beleidigen – auch wenn es in Verblendung geschieht. Ich ahnte, daß Unglück über uns kommen würde – Dich hat es verschont, aber jene … „

Helenes Hände krampften sich um den Arm des Lamas.
„Die – Götter?“ fragte sie mit schreckhaft geweiteten Augen. „Eure Götter haben sie getötet?!“

Starr blickten die Statuen und Bilder der Schutzgötter aus dem Düster des Mngon-kang. Der Lama Tsongpon legte den Arm um Helenes Schulter; wieder stahl sich ein unmerkliches Lächeln um seine Lippen.

„Nicht die Götter, Helene – der Tee. Nicht Zauber – sondern Gift. Aber vielleicht hätte ich es verhindern können, wenn die Götter mir zur Seite gestanden hätten … „
Helene machte sich abrupt aus Tsonpons Arm frei.
„Sabotage?!” fragte sie scharf.

Tsongpons Lächeln wurde um eine Spur stärker.
“Diese Versuche sind sehr wichtig für das Kombinat, nicht wahr? Entscheidend wichtig für Eure Siedlungsprojekte in der Antarktis, wenn ich Dich recht verstanden habe?
Und diese Männer waren schon ein ganzes Stück weit auf dem Weg zu Eurem Ziel, nicht wahr? So weit, daß es manchen beunruhigen konnte, der diesem Siedlungsprojekt keinen Erfolg gönnte – ja?
Und gibt es nicht irgendwo auf der Welt Menschen, die so denken?”

Helene Werner richtete sich auf. Ihre Hände fuhren zum Saum der Uniformbluse und zerrten daran.
„Amerika!“ sagte sie mehr zu sich selbst. „Die Kapitalisten in den USA – und ihre Agenten!“ Sie trat auf Tsongpon zu. „Was weißt Du davon?“

Der Lama hob die Hand.
„Wenig genug, Helene. Aber ich weiß, daß die Gedanken eines unserer niederen Mönche in den letzten Monaten seltsame Wege gegangen sind – daß er seltsame Wanderungen machte – und seltsame Menschen traf. Wenn es Dir nützt, werde ich seine Gedanken gründlicher erforschen … „

Helene Werner starrte die Bilder an.
„Amerikanische Sabotage!“ Ihre Fäuste ballten sich. „Bezahlte, bestochene Agenten! Gift und Meuchelmord – nur um uns aufzuhalten, nur um uns dieses karge bißchen Land am Südpol nicht zu gönnen, während sie im Überfluß ersticken! Oh, ich möchte – – – „

Der Mngon-kang versank. Helene Werner sah schlanke, silberne Raketen – feurige Säulen, die sie in den Himmel emporstemmten – sah feingefügte, unerbittliche Me-chanismen und Schaltungen – stumpfgraue Uranhalbkugeln, die sich zusammenschoben – sah die Paläste und Städte des Feindes tief unten liegen – sah plötzlich Glut und violettes Feuer aufblühen – und die langsam, feierlich in die Stratosphäre aufsteigenden Pilzwolken – die Mahnmale der Vergeltung und der Gerechtigkeit …

Wie sangen die Mönche in ihren alten Kulttänzen?
„Oh Vernichter der Feinde, die schuldig sind der zehn Arten von Sünden! Oh Fürst der Wächter dieses edlen Landes! Schützer des Glaubens, oh Mngon-po! Erfülle Dein Versprechen!
Hügel von Toten wirst Du verschlingen, Meere von Blut trinken. Wem sein Leben etwas gilt, der halte sich fern – wer sterben will, trete Dir entgegen: Du wirst den roten Quell seines Lebens versiegen lassen, wirst es darbringen als Opfergeschenk.
Du bist der Rächer, der sich an Blut berauscht! Ruhm und Preis Dir, oh Schützer des Glaubens, Ruhm und Preis dem Mngon-po!“

Ihre Hände verkrampften sich – und lösten sich wieder. Bitter lachte sie auf.
Wo waren die Raketen des Kombinats? Papierene Pläne in verstaubten Archiven! Wo waren die Abschußbasen am Polarkreis? Verwitterte Fundamente gesprengten Betons! Wo war die Rote Armee – wo war der mächtige starke Arm, der die Genossen schützte, vor dem die Feinde zitterten?!

“PAX!“ sagte sie in eiskaltem Zorn. „PAX – Schützer des Friedens, Hoffnung der Welt! Schützt Du uns? Hilfst Du uns?
Oder hast Du uns nur die Waffen aus der Hand geschlagen, damit wir hilflos und machtlos sind?
PAX – verflucht, dreimal verflucht sollst du sein!”

Und dann – sie wußte selbst nicht, weshalb – verzogen sich ihre Lippen zu einem triumphierenden Lächeln.
„Don!“ murmelte sie. „Don! D – o – n !!!”

Der Lama Tsongpon lächelte nicht mehr, als er ihre ohnmächtig zusammensinkende Gestalt auffing. Seine Augen forschten in ihrem Gesicht
„Don?“ wiederholte er nachdenklich.

Die Rechenmaschine

Hellmut Wolfram
Anm. Jula: ein weiteres Pseudonym von Hekate


Cum deus calculat, fit mundus]

LEIBNIZ

Heute setze ich mich nieder, um jenes seltsame Erlebnis aufzuzeichnen, das ich in dem Haus mit der großen Rechenmaschine hatte – und ich weiß nicht, folge ich damit einem eigenen Entschluß, oder ist auch das noch eine zwingende Folge aus den Erlebnissen jener Nacht, die ich nie vergessen werde – eine Folge, deren Eintreten der lächelnde Professor schon im voraus wußte, als ich jenes Haus noch gar nicht betreten hatte? Ich bin so sehr irre geworden an allen meinen bisherigen Überzeugungen von Freiheit und Gesetzmäßigkeit, von Persönlichkeit und Realität, daß ich selbst in den geringsten Dingen kein Urteil mehr zu fällen wage – und hier, wo es um eine Sache geht, die mich wie selten ein Erlebnis erschüttert und verwandelt hat, fürchte ich mich fast schon vor dem Nachdenken. Aber vielleicht ist hier das Handeln befreiender als das Grübeln -und so will ich beginnen.

Es war einer jener Abende, wie sie wohl viele Menschen erleben – einer jener Abende, an denen so viele kühne Entschlüsse gefaßt werden, die man später, wieder untergetaucht in jener lähmenden Halbzufriedenheit des Gewohnten, auszuführen versäumt oder gar belächelt: Einer jener Abende, wo man so sehr unzufrieden ist mit all dem, was man bisher geleistet hat und gewesen ist, wo man aufbrechen müßte in ein unbekanntes Abenteuer, in eine selbstgewählte Gefahr – wo sich die vielen unterdrückten und verborgenen Seiten unseres Wesens hervorwagen und ihr Recht fordern, wo sie genau so gelebt sein wollen wie das, was wir bei Tageslicht unsere Persönlichkeit nennen und wohl auch ein wenig lieben…

Ich hatte – halb unbewußt – den Rand der Stadt erreicht, auf einem jener ziellosen Spaziergänge, mit denen ich diesen Stimmungen nachgebe – vielleicht getrieben von der unbestimmten Hoffnung, jenem fremden Etwas, dessen Fehlen mir so in der Seele brannte, näher zu kommen, wenn ich mein Zimmer mit den Büchern und dem Zigarettenrauch verließ. Nun hielt ich einen Moment inne, ungewiß, ob ich nicht doch umkehren und versuchen sollte, bei einem meiner Freunde in der Stadt vorzusprechen. Aber ich kam davon bald ab – weder Jacques‘ philosophische Weltverachtung, die ihre Nahrung vor allem aus komplizierten Liebeserlebnissen bezog, noch die wagnerhafte Selbstzufriedenheit Waldemars mit seinen ägyptologischen Forschungen paßten zu meiner Stimmung. Der Gedanke an den Diskussionszirkel, den ich in der vorigen Woche auf ihr Drängen besucht hatte, erregte in mir fast einen körperlichen Abscheu, und Jeanette – Jeanette war ja nicht in der Stadt.

Ich suchte in der Tasche nach dem Zettel, auf den sie mir vor ihrer Abreise einen jener kleinen Abschiedsgrüße geschrieben hatte, mit denen eine liebende Frau dem Mann noch einen Hauch ihrer Persönlichkeit zurückläßt, wie den leisen Duft ihres Parfüms auf den Kissen. Es war ein Kalenderblatt, und wie ich es im Schein der Laterne genauer betrachtete, fand ich unten rechts in der Ecke ein paar gedruckte Worte. »Cum deus calculat, fit mundus«, entzifferte ich. Jetzt erinnerte ich mich, daß jedes dieser Blätter einen Spruch trug, der wohl eine Art Tageslosung bedeuten sollte.

Ich versuchte, mit meinen schon recht bröckeligen Lateinkenntnissen den Sinn des Satzes zu erraten: »Weil – oder während Gott rechnet, wird die Welt gemacht«? Das stimmte ersichtlich nicht – und als Losung des heutigen Tages erschienen mir überhaupt alle Aussagen über die Berechnungen Gottes wenig geeignet! Ich barg den Zettel, noch einmal die lieben Worte in der zarten Handschrift Jeanettes überlesend, wieder in der Brieftasche und ging weiter.
Aber während ich mechanisch die Straße verfolgte, entlang der die Häuser immer seltener wurden, beschäftigte sich mein Geist, froh, eine Ablenkung zu haben, weiter mit dem lateinischen Spruch.

»fit. . . fieri . . . fio . . . gemacht werden, entstehen«: »Wenn Gott rechnet, entsteht die Welt«?

Das habe ich mir eigentlich immer anders vorgestellt, dachte ich lächelnd und sah dabei vor meinem geistigen Auge einen weißhaarigen Alten über die Zahlenkolonnen eines riesigen Kontobuchs gebeugt.

»Zu Anfang berechnete Gott Himmel und Erde …«? Nun, in der Tat, am Himmel konnte man ja manches berechnen, Sonnenfinsternisse und so weiter. Vielleicht mußte Gott den Himmel auch erst berechnen, bevor er ihn schuf, wie ein Ingenieur eine Brücke?

Ein kühler Windstoß ließ mich ein wenig frösteln und störte meine Gedankenkette. Ich sah auf und bemerkte, daß ich allein auf der Landstraße stand. Die Sonne war versunken, und ein paar Sterne blinkten schon am dunkelblauen Himmel auf. Wieder hielt ich inne. Die Spannung in mir schien sich ein wenig gelegt zu haben, und mein Alltagsverstand sagte mir, es sei nicht zweckmäßig, sich bei der kühleren Abendluft unnötig auf einer unbekannten Landstraße herumzutreiben. Ich brauchte ja nicht gleich nach Hause zu gehen, sondern könnte in der Stadt ein Lokal oder vielleicht doch Jacques aufsuchen. Schon war ich halb entschlossen, diesen Überlegungen Gehör zu geben, als ich am Horizont ein Licht sah. Schärfer hinsehend, bemerkte ich eine Anzahl langgestreckter Gebäude mitten im freien Feld; eines schien eine Kuppel zu tragen, die mich an ein astronomisches Observatorium erinnerte. Wohnhäuser konnten so einsam nicht gelegen sein, wären wohl auch zu dieser Stunde hell erleuchtet gewesen. Aber was sonst? Ein wissenschaftliches Institut?

Ich weiß heute, daß es eine Täuschung war, als ich mich zu erinnern glaubte, Waldemar habe von einem solchen Institut vor der Stadt gesprochen – er meinte ein in einem Privathaus untergebrachtes Archiv. Aber damals bewog mich diese Erinnerung, zusammen mit einer gewissen Unternehmungslust, die Ausfluß meiner Stimmung war, dem mahnenden Alltagsverstand zum Trotz querfeldein den Weg auf diese Gebäude einzuschlagen.

Dieser Weg war länger, als ich gedacht hatte. Langsam, sehr langsam nur rückten die Gebäude näher. Ich konnte nun schon Einzelheiten unterscheiden. Das mittlere Gebäude, auf dessen Fassade eine im Wind schwankende Laterne unruhige Kurven zeichnete, trug die Observatoriumskuppel, in der ich jetzt deutlich einen Spalt erkennen konnte. Auf das große, bronzene Portal, zu dem viele Stufen emporführten, steuerte ich los. War ich bis jetzt über Wiesen und Heideland gewandert, so ging ich die letzten Minuten über ein planiertes Gelände; doch umgab kein Zaun den Komplex. Einen Augenblick verhielt ich, um nach den letzten Schritten, die ich rasch, fast laufend, gegangen war, wieder Atem zu schöpfen; dann stieg ich die in einer Art Marmor ausgeführte Freitreppe empor.

Das Portal lag ungewöhnlich hoch, fast im ersten Stock, und erschien mir jetzt, da ich vor ihm stand, ungeheuer groß. Mein suchender Blick fiel auf einen Klopfer, den ich betätigte. Lang verhallte der Ton. Dann hörte ich schlurfende Schritte, und der eine Flügel öffnete sich langsam. Ein weißhaariger Alter, in einem langen, weißen hemdartigen Kittel mit einem gewaltigen Schlüsselbund am Gürtel, blickte mich gütig lächelnd an und sagte:
»Gesegneten Abend, Herr Sartorius. Treten Sie ein – der Herr Professor erwartet Sie schon!«

Meine erste Reaktion war maßloses Erstaunen. Woher kannte dieser Pedell oder Nachtwächter mit den buschigen Brauen und dem weißen Apostelbart, den ich gewiß noch nie gesehen hatte, meinen Namen? Und wieso erwartete man mich hier? Eine Verwechslung, überlegte ich rasch.

»Treten Sie nur unbesorgt ein, Herr Sartorius«, forderte mich der Alte auf, der mein Zögern bemerkt haben mochte. So günstig die Gelegenheit war – etwas hielt mich zurück, unter diesen blauen Augen zu lügen.

»Ich heiße zwar Sartorius, aber ich werde bestimmt nicht hier erwartet – das ist unmöglich und sicher ein Irrtum!«

»Die Menschen sind mit dem Wort unmöglich rasch bei der Hand – und was sie nicht begreifen, braucht nicht immer ein Irrtum von uns zu sein!« sagte der Alte mit mildem Verweis. »Treten Sie ein, Herr Sartorius – und all Ihre Sorgen besprechen Sie mit dem Professor selbst. Das ist immer das beste!«

Immer noch im unklaren, wie ich mich weiter verhalten sollte, folgte ich seiner Aufforderung. Durch eine hohe Vorhalle geleitete er mich in ein kleineres Zimmer, wo er mir fürsorglich einen großen Sessel zurechtrückte und mit der Versicherung verschwand, er wolle mir etwas zur Stärkung nach dem langen Fußmarsch holen.
Verwirrt ließ ich mich nieder. Die an Allwissenheit grenzende Genauigkeit, mit der man hier über mich und meinen Besuch unterrichtet schien, bestürzte mich. Woher wußte der Pförtner, daß ich zu Fuß gekommen war?

Ich hatte nicht lange so gesessen, als sich eine Tür im Hintergrund des Raumes öffnete und der Professor eintrat. Ich wußte sofort, daß er es sein mußte: eine hohe, schlanke Gestalt, ein kluges, fast weises Antlitz unter schlohweißem, aber noch vollem Haar. Einen Herzschlag lang überkam mich ein wunderliches Gefühl, das ich seit Kindertagen nur selten mehr gespürt hatte – ich glaube fast, es war Ehrfurcht. Doch dann erhob ich mich und versuchte, mich mit einigen Worten vorzustellen und mein spätes Eindringen zu entschuldigen.

»Aber lieber Herr Sartorius – Sie stören mich ja keineswegs. Ich wußte doch, daß Sie kommen würden!« unterbrach er mein Stammeln. »Doch folgen Sie mir jetzt – Sie können gerade an einer recht interessanten astronomischen Beobachtung teilnehmen!«

Sich noch einmal freundlich nach mir umsehend, ging er durch die Tür voran, und ich beeilte mich, ihm zu folgen. Der Raum, den wir betraten, war fast völlig dunkel, doch ich schloß aus dem Hall unserer Schritte, daß er sehr groß sein mußte.

Einen Augenblick – ich will meinen Assistenten nur für Licht sorgen lassen. Herr Doktor, bringen Sie doch das Licht hierher!«

Ich nutzte die lange Pause, um den Professor zu fragen: »Sie werden die Dringlichkeit entschuldigen, mit der ich immer wieder auf diesen Punkt zurückkomme: Jeder versichert mir hier, mein Kommen sei längst erwartet – und dabei war es ein plötzlicher, ja zufälliger Entschluß, der mich den Weg zu Ihrem Institut einschlagen ließ!«

Früher oder später«, antwortete es aus dem Dunkel, »steht jeder einmal vor mir – und das Wörtchen Zufall hat in unserem Institut keinen guten Klang.«

Er hätte vielleicht noch weitergesprochen, wenn nicht aus dem verdämmernden Dunkel jetzt ein schwankender Lichtpunkt aufgetaucht wäre, der sich, bei uns angekommen, als eine Lampe entpuppte, die der Ankömmling in der Hand trug.

»Mein erster Mitarbeiter!« stellte ihn der Professor vor. »Sie werden sich oben im Observatorium noch näher kennenlernen können. Aber nun rasch hinauf – es ist gleich Zeit!«

Mit einigen Schritten erreichten wir die Kabine eines Aufzuges, der uns rasch in die große Kuppel führte, die ich von außen bemerkt hatte. Es stärkte mein durch so viel Unerwartetes arg beeinträchtigtes Selbstgefühl, daß ich wenigstens mit dieser Vermutung recht behalten hatte, und so musterte ich mit etwas mehr Muße die glitzernden Instrumente, an denen der Assistent hantierte.

Er schien mir jünger als der Professor, hatte noch schwarzes, volles Haar, und sein Gesicht zeigte mehr von jenem wissenschaftlichen Fanatismus als das abgeklärte Gesicht des Professors. Ein wenig eigenartig berührte es mich, daß er nicht wie jener einen weißen Arbeitskittel trug, sondern einen tiefschwarzen, der an einen mittelalterlichen Talar gemahnte.

Um so seltsamer kontrastierte damit ein schmaler Papierstreifen, der mich an die Hellschreiber der Pressebüros erinnerte und den er mir jetzt in die Hand drückte mit den Worten:
»Hier, Herr Sartorius, können Sie sich über das Ereignis unterrichten, das uns jetzt bevorsteht.«

Ich hatte mich nachgerade daran gewöhnt, daß es zum Stil dieses Institutes zu gehören schien, mich sofort mit Namen anzureden, wie einen alten Bekannten, ohne sich jedoch mir vorzustellen. So wandte ich meine Aufmerksamkeit sogleich dem Streifen zu. Unter einem Wust von mir unverständlichen Zahlenangaben entdeckte ich die Worte:
»…Oh 23m 56s Weltzeit Greenwich Auftauchen einer rötlichen Feuerkugel, die Oh 25m 03 Weltzeit Greenwich unter Lichterscheinungen zerplatzt…«

Ich warf einen Blick auf das große Zifferblatt, das an der Kuppelwandung angebracht war: Es zeigte 0 Uhr 23.

Ich fühlte mich auf den Beobachtungsschemel gesetzt und preßte mein Auge an das Okular. Wahrhaftig – da tauchte ein rotes Scheibchen auf. Ich hielt es einige Zeit im Gesichtsfeld, um es dann zerspringen zu sehen. Ich wandte mich zur Uhr – eben passierte der große, silberne Sekundenzeiger den dritten Teilstrich.
»Das ist wirklich eine der erstaunlichsten Leistungen des menschlichen Geistes, die ich bis jetzt miterleben durfte!« sagte ich endlich. Täuschte ich mich, oder spielte bei dem Wort menschlich ein kleines, spöttisches Lächeln um die Lippen des Professors?

»Die Beobachtung war freilich nicht astronomisch präzise«, meinte der Assistent, »aber dafür um so eindrucksvoller für Sie!“

»Ja – hätten Sie dann nicht lieber selbst die Beobachtung sachgemäß ausgeführt?« fragte ich bestürzt. “Gewiß sind mir viele wichtige Einzelheiten entgangen!«

»Es wäre unnötig gewesen, Einzelheiten erst noch zu beobachten, die uns alle bereits vorher bekannt waren«, schaltete sich der Professor ein.

»Aber woher wollen Sie diese Einzelheiten kennen?« fragte ich eindringlich. »In das Auftauchen dieses Meteors gehen doch so viele unkontrollierbare Faktoren ein, daß ich mir kaum vorstellen kann – «

»Ich will Ihnen das gern erklären«, sagte der Professor freundlich. »Aber wir wollen dabei gleich hinunterfahren !«

»Sehen Sie«, fuhr er fort, als wir wieder in der Kabine des Aufzugs standen, »die ganze Welt ist von großen, durchgängig gültigen Gesetzen beherrscht, die ihren Ausdruck in gewissen Formeln finden. Die Formeln erlauben, den zukünftigen Verlauf der Ereignisse vorauszuberechnen, wenn man die zu einem bestimmten Zeitpunkt herrschenden Voraussetzungen, die sogenannten Anfangsbedingungen, in sie einsetzt. Für eine Sonnenfinsternis braucht man wenige, einfache Gesetze und Voraussetzungen – für die Erscheinung, die Sie eben sahen, viele und komplizierte.

Doch da wir diese Gesetze ja selbst…« er verbesserte sich auf ein Räuspern des Assistenten hin: “… diese Gesetze alle kennen und auch noch den Zustand der gesamten Welt zu einem bestimmten Augenblick – dem ihrer Erschaffung übrigens – kennen, so ist es uns auch möglich, alle Ereignisse in der Welt vorauszuberechnen.«

Die Tür der Kabine öffnete sich, und ich sah nun die Halle, die wir vorhin durchquert hatten, in heller Beleuchtung vor mir liegen. Sie war, wie ich vermutet hatte, sehr groß. Was ich aber vorhin nicht hatte sehen können, war eine ungeheure Apparatur, die sie bis zur Decke ausfüllte.

»Die Vorausberechnung” hub der Professor wieder an, “wäre sehr zeitraubend und mühsam für menschliche Hirne. Aber wir haben hier in unserem Institut für diese Zwecke eine große Rechenmaschine, die in sehr kurzer Zeit jedes Ergebnis liefert, das wir benötigen.«

Er wies auf die Apparatur. Ihre glatte, wie eine Hauswand aufragende Vorderfront war in regelmäßige Felder geteilt, in deren jedem sich Myriaden von Buchsen, Schaltern und Signallampen befanden. Dazwischen ragte manchmal ein Spulenkörper hervor, und die weißen Skalen der Meßinstrumente und runde, mit ständig wechselnden Kurvenzügen bedeckte Leuchtschirme blickten mich wie seltsame Augen an. Überall aber an dem Koloß bewegte und veränderte es sich:
Lämpchen verloschen und blitzten auf, Schalter klickten, und wie Eichhörnchen am Baum kletterten bewegliche Schaltaggregate an ihm auf und ab. Ich hätte diesem eigenartigen, geschäftigen Treiben lange zusehen können, aber der Professor berührte meinen Arm und forderte mich auf, mit ihm und dem Assistenten eine Plattform zu betreten, die fest mit der Rechenmaschine verbunden schien.

»Ich kann Ihnen so die Maschine besser erklären«, sagte er erläuternd, »denn diese Plattform ist beweglich und kann vor jeden Teil der Maschine gefahren werden.«

»Sehen Sie zum Beispiel hier«, fuhr er fort, während wir langsam in die Höhe glitten, »die Bahnberechnung des Meteors außerhalb der Erdatmosphäre. Sie geht aus von seiner Entstehung – das liegt etwa zwei Milliarden Jahre zurück. Als sich damals einige Millionen kosmischer Staubteilchen zusammenschlossen – das war ja aus ihren Bahnen vorauszuberechnen -, legten sich drüben, im Archivaggregat im Nebengebäude, Ort und Geschwindigkeit des entstandenen Brockens fest, und regelmäßig wurden alle weiteren Wirkungen, die kosmische Ereignisse auf den Brocken hatten, dort registriert. Nun, als er in die Nähe dieses Planeten kam, schaltete das Zentralsteuerwerk automatisch vom Archivaggregat hier herüber, und in diesem Schaltschrank, an dem wir gerade vorbeikommen, wurde seine Bahn endgültig ausgerechnet. Das Ergebnis wurde dann weitergeleitet und mit den zu erwartenden atmosphärischen Verhältnissen, Luftströmungen und Temperaturen kombiniert, bis es dann mein erster Mitarbeiter dort drüben« – wir hatten uns mit einer schraubenden Wendung um die Ecke geschwungen und fuhren nun waagrecht an der Längsseite der Maschine entlang – »entnahm und mit ins Observatorium brachte.«

Ich hatte nur mit halber Aufmerksamkeit zugehört. Wenn mich auch die nüchterne Realität der Lampen, Spulen und Schalter nach den Worten des Professors in der dunklen Halle, die einen anderen, schwer verständlichen Sinn zu bergen schienen, beruhigte, so drängte doch eine Beklemmung aus der Tiefe meiner Seele herauf. Es war mir, als habe diese Rechenmaschine eine unheimliche Beziehung zu mir selbst, meinem eigenen Ich, und als führe mich die gleitende Plattform immer tiefer in diese Verstrickung hinein. Ich hatte den immer stärker werdenden Wunsch, sie möge stillstehen oder – besser noch – zurückfahren und mich aus dem Bann entlassen, der sich immer fühlbarer um mich zog.

Und sie stand still. Plötzlich machte sie vor einem der Felder halt. Es trug in einem Metallrahmen ein weißes Schildchen, das in sauberen Buchstaben die Aufschrift trug:
SARTORIUS

Ich sah den Professor an. Wieder lächelte er fast unmerklich. »Jetzt, nachdem Sie an einem Beispiel gesehen haben, wie unsere Maschine arbeitet, werden Sie sich leichter erklären können, warum uns Ihr Kommen kein Geheimnis war.«

Mir war es, als hätte ich einen Schlag vor den Kopf bekommen. »Sie wollen doch nicht sagen, Sie konnten mein Kommen genauso vorausberechnen wie den Fall des Meteors!«

»Eben das will ich sagen. Schon am Morgen des Tages hatten wir die Berechnung in der Hand, und daraufhin erst suchten wir nach einem einführenden Beispiel, das wir in dem Meteor entdeckten – «

»Aber – Sie können wohl das Fallen eines Steins in Formeln einfangen, nicht aber meine Gedanken!«

»Das ist nur ein – nun, sagen wir, gradueller Unterschied. Auch Ihr Charakter ist – wenn auch viel komplizierter als ein Planetensystem – eine feste, unveränderliche Einheit aus wohlbestimmten Voraussetzungen und Gesetzen. Sie erinnern sich, daß in Ihnen verschiedene Motive um die Oberhand stritten – der Wunsch umzukehren, Abneigung gegen die Gesellschaft ihrer Freunde, der Drang nach einem ungewöhnlichen Erlebnis … daß verschiedene äußere Anstöße: der kühle Wind, die Lichter unseres Instituts, Ihre Erinnerung an Waldemars Worte, mit in die Bildung Ihres Entschlusses eingriffen. Auch die Motive des menschlichen Geistes und ihr Widerstreit unterliegen Gesetzen, und da unsere Maschine alle « – er sah mich voll an – »alle Gesetze berücksichtigt, auch die von Menschen noch nicht entdeckten, so berechnete sie den Entschluß voraus mit der gleichen Sicherheit wie die Bewegung irgendeines Himmelskörpers. Alle Ihre Handlungen lagen schon im Augenblick Ihrer Geburt fest – denn sie folgen gesetzmäßig aus Ihrer Persönlichkeit und den Anrufen der Außenwelt.”

Etwas in mir begehrte auf.
»Aber – es gibt doch noch einen freien Willen!«

Der Professor – oder wie sollte ich ihn nennen? – lächelte wieder, ein wenig nachsichtig diesmal.

»Nun, vielleicht ist Ihnen eine andere Deutung faßlicher. Vor mir sitzt hier – zweifelsohne – Ihr Körper. Dieser Körper besteht aus Molekülen und Atomen, und wenn er hierher gekommen ist, so ist das eine Folge der zweckvoll zusammenspielenden Bewegungen dieser Atome und Moleküle. Daß diese Bewegungen den Naturgesetzen folgen müssen, geben Sie zu, ja? Daß diese Naturgesetze nur eine ganz bestimmte, zwingende Art zulassen, wie sich eben diese Moleküle in ihrer – Sartorius genannten – Konstellation bewegen können, geben Sie auch zu…ja? Glauben Sie, daß Ihr Wille auch nur ein Atom zwingen könnte, sich diesen Gesetzen zu entziehen? Nein? Gut, und daß die Anfangsbedingungen festlagen, als diese Konstellation Sartorius vor zweieinhalb Jahrzehnten entstand, geben Sie weiter zu? Ja? Dann werden Sie endlich auch zugeben, daß sich die Bewegungen der Atome und Moleküle, also – in summa – Ihres Körpers, vorausberechnen lassen. Im übrigen – ich kann Sie leichter überzeugen. Tun Sie in den nächsten Minuten irgend etwas, was Ihnen gerade einfällt. Die Maschine ist eingestellt. Schalten Sie, bitte, die Schreibvorrichtung an die Abnahmebuchsen!«« wandte er sich an den Assistenten, und wieder zu mir: »In kurzer Zeit werden wir dann die Berechnung in Händen haben, Sie können Ihre Absicht ausführen – und wir vergleichen.«

Mir schwamm es vor den Augen; ich war kaum fähig, einen klaren Gedanken zu fassen. War ich denn tatsächlich nur ein Molekülkomplex, dessen Reaktionen dieser Maschinenkoloß hier mit elektrischen Impulsen und Oszillographen voraussah? Alles in mir bäumte sich gegen diese Vorstellung auf. Hier stand ich, Sartorius, ein Mensch mit all seinen Wünschen, Regungen und Geheimnissen – vielleicht kein Meisterstück, aber doch ein volles, ganzes Individuum mit eigenen Entschlüssen und Gedanken! Ich setzte dieses Individuum gegen die Maschine, gegen Draht und Eisen! Ich wurde ruhiger. Es mußte mißlingen, mir den noch gar nicht gefaßten Entschluß mit Formeln und Anfangsbedingungen schon im voraus aus dem Gehirn zu präparieren.

Aber was sollte ich tun? Nichts Alltägliches, Vorhersehbares – etwas ganz Willkürliches, gar nicht aus der Situation Erklärbares! Der Zettel Jeanettes fiel mir wieder ein und seine Tageslosung. Aber nicht diese Losung selbst wollte ich nennen, sondern ihre vielleicht falsche Übersetzung, die gewiß mein eigener, niemandem sonst bekannter Gedanke war.

Der Assistent hatte einige Schaltungen vorgenommen; aus einem Blechkasten ringelte sich das weiße Band. Der Professor ergriff es, las und betrachtete mich mit der spannungslosen Aufmerksamkeit dessen, der einen seit langem gewohnten Vorgang wieder einmal abrollen sieht.

»Wenn Gott rechnet, entsteht die Welt!«« sagte ich entschlossen. Nicht einmal die Spur eines Triumphes war in seinem milden Blick zu lesen, als er mir den Streifen gab.

»Vp Sartorius sagt 1h 15m 2s Weltzeit Greenwich Wenn Gott rechnet entsteht die Welt«, stand darauf.

Vp – »Versuchsperson« Sartorius. Ja – eine Versuchsperson. Ach, noch weniger, eine überflüssige Molekülansammlung war ich, deren Bewegungen, Worte, Gedanken, deren Freud und Leid, Liebe und Haß viel genauer, als ich selbst sie kannte – mit Angabe der Greenwicher Zeit -, dort in der Maschine festlagen und zum eventuellen Gebrauch auf weißes Papier gedruckt aus den Abnahmebuchsen strömten. Was war ich denn? Wozu gab es mich denn dann überhaupt noch? Wozu gab es denn die ganze Welt noch, wenn man sie doch mit all ihren Meteorstürzen, Besuchen, Kriegen, guten und bösen Taten aus der Maschine dort entnehmen konnte!

Und wozu gab es denn die Maschine selbst, wenn sie nur die zwingenden Folgen ein paar Minuten früher ausrechnete, als sie dann wirklich eintraten?!

»Nein, ich habe mich geirrt!« rief ich plötzlich. »Es müßte heißen: Damit Gott rechnen kann, gibt es die Welt! Denn diese Maschine ist nur ein Spielzeug für Gott – für die Menschen aber ist sie schlimmer als eine Guillotine: Die zerstört nur das Leben – aber diese Rechenmaschine« – ich sah an dem skalenbedeckten Koloß empor – »diese Maschine saugt uns ja bei lebendigem Leibe die Seele aus dem Körper!«

»Freund, Sie sind erregt!« sagte der Professor begütigend. »Ich will deshalb nicht darauf hören, was Sie sprechen. Nur eines: Sie sagten, diese Maschine sei nur für Gott – und Sie sagten das so anklagend. Glauben Sie mir – sie ist wirklich nur für Gott …«

Schmeichelt er sich, so erniedrige ich ihn,
erniedrigt er sich, so schmeichle ich ihm;
und immer widerspreche ich ihm, bis
er begreift, daß er ein unbegreifbares Wesen ist.

PASCAL

Ich kann mich heute nicht mehr erinnern, was ich in jener Stunde alles gedacht habe. Nur soviel weiß ich, daß alle Gedankenketten sich in dem unheimlichen Bewußtsein verloren, daß ja jede Überlegung, jede kleinste Regung meiner Seele gleichsam nicht mehr mein war, sondern vorbestimmt, vorweggenommen und schon gedacht, gefühlt sein mußte in jener unheimlichen Maschine. Aber es war ja nicht mehr die Maschine, mit der ich mich auseinanderzusetzen suchte – sondern dieser Gedanke des unerbittlichen, strengen Determinismus, dessen gewaltiges Symbol sie nur war. Ob sich die Vorherbestimmtheit allen menschlichen Denkens und Trachtens nun in der Prophezeiung eines indischen Yogis offenbarte oder in den Speichern und Schaltaggregaten dieser Apparatur, war ja einerlei; nur daß sie hier, in ihrer aller mystischen Verhüllung entrückten, wissenschaftlich exakten Ausprägung um so unentrinnbarer schien!

Ich weiß nicht, wie lange ich so gesessen habe. Endlich blickte ich auf und sah in das Gesicht des Assistenten, der mich mit einem spöttischen Lächeln – aber, wie mir schien, nicht ohne Anteilnahme – betrachtet hatte.

»Das scheint Sie ja mächtig mitgenommen zu haben«, sagte er. »Nehmen Sie sich erst einmal eine Zigarette – so – und als Fidibus verwenden wir diesen Zettel, der Sie so beunruhigt!«

Damit löste er das Schildchen »Sartorius« aus der Klammer, entzündete es an einem verborgenen Glühdraht seiner Schalttafel und reichte es mir hin.
Mit einem wohligen Gefühl saugte ich den Rauch ein – es war so erlösend, wieder einmal etwas tun zu können, wobei man nicht gleich auf ein neues, unlösbares Problem stieß!

»Und nun wollen wir auch weg von hier«, fuhr der andere fort und drückte, ohne hinzusehen, ein paar Steuerknöpfe nieder. »Mal sehen, wo der Karren hinfährt.«
»Lassen Sie nur«, sagte ich bitter, »wenn wir ankommen, empfängt uns doch ein Papierstreifen mit der genauen Vorhersage unserer Ankunft!«

»Na, Sie hat der Alte ja vollkommen überzeugt«, meinte der Assistent kopfschüttelnd. »Schade, Sie hatten doch vorhin ganz vernünftige Gedanken. Die Maschine ist ein Spielzeug für Gott, sagten Sie doch? Nun ja, alte Männer haben Spaß an Spielzeugen – und so habe ich ihm eben diese Maschine gebaut, was ist weiter dabei?«

»Die Idee zu diesem Apparat stammt also von Ihnen?«

»Die Idee …« wiederholte er gedehnt, »die Idee stammt, glaube ich, von dem alten französischen Astronomen Laplace. ‘Ein Geist, der für einen gegebenen Augenblick alle Kräfte kennt, welche die Natur beleben, und der diese Angaben der mathematischen Analyse unterwirft,’ so sagte er wohl, ‘könnte in derselben Formel die Bewegung des größten Himmelskörpers und des leichtesten Atoms einbegreifen. Zukunft und Vergangenheit wären einem Blick gegenwärtig’ Und vor ihm hat Leibniz etwas ganz Ähnliches behauptet.

Es ist überhaupt so eine Eigenart des Experiments ‘Menschheit’, daß sie immer auf Ideen verfällt, die ihr so sehr zusagen, daß sie sie bis zur letzten Konsequenz durchführt – und diese letzte Konsequenz hält sie eben nicht aus. Alles vorausberechnen – herrlicher Gedanke! Aber wenn dann das liebe Ich – konsequenterweise – auch vorausberechnet werden kann, dann gerät man in große Not!«

Unter diesen Reden war die Plattform in seltsamen Wendungen weitergerückt und hielt nun an einer Stelle, die ringsum von den skalenbedeckten Fronten der Maschine umgeben war.

»Fühlen Sie sich denn nun schon etwas wohler? Ja? Dann will ich Ihnen mal zeigen, daß unsere alte Maschine auch ganz lustig sein kann. Sehen Sie mal dort hinüber!«
Er hantierte am Schaltbrett. An der uns gerade gegenüberliegenden Wand hielten die beweglichen Schaltaggregate, die in ruheloser Geschäftigkeit umhergeklettert waren, plötzlich inne und formierten sich zu einer Reihe.

»Na, nun zeigt mal, was ihr könnt!« rief der Assistent.»Tatata — dam — data
Tatata — da — deram — data
Tatata — dam — data — «
sang er vor sich hin – es war die Melodie eines Schlagers, den alle Welt jetzt gerade sang.

Und im Rhythmus der Melodie begannen sich nun die Aggregate zu bewegen, zwei Schritte hinauf, einen herab, und schwenkten dazu ihre Schaltarme wie eine Truppe Tiller-Girls die Beine.

Der Anblick war so unwiderstehlich komisch, daß ich in lautes Gelächter ausbrach – wenn es auch ein wenig gezwungen klang nach all dem Vorausgegangenen.

»Na sehen Sie – es läßt sich doch leben auf unserer Maschine!« rief der Assistent lachend.

»Wissen Sie«, fuhr er halblaut fort, »diese Maschine ist nämlich gar kein so erhabenes Meisterwerk, wie Sie denken. Der Alte legt ja großen Wert auf das Erhabene – aber wenn etwas wirklich erhaben ist, dann vertragen es die Menschen nicht gut, und wenn es nur erhaben scheint, dann wird es so furchtbar leicht lächerlich. Sehen Sie her…«

Er löste mit einigen raschen Handgriffen ein Stück der Verschalung – ein Gewirr von Drähten, Spulen und Kondensatoren kam zum Vorschein. »Nun nehmen Sie einmal die großmächtige Apparatur unter die Lupe«, fuhr er fort und drückte mir ein Vergrößerungsglas in die Hand, das er aus der Tasche seines schwarzen Kittels gezogen hatte. Und seltsam – wie ich jetzt die Leitungen näher betrachtete, bemerkte ich eine eigenartige Unordnung: Hier liefen einige Leitungen in sich selbst zurück, andere endeten gar frei in der Luft, manche Spulen waren gar nicht angeschlossen, und ein Teil der anderen Geräte war offenbar auch gar nicht in Funktion!

»Na, jetzt wird sich ja Ihr Wunderglaube an die Unfehlbarkeit der Maschine bald geben«, sagte der Assistent spöttisch. »Das und das und das« – er griff in die Drähte und pflückte einige schimmernde Geräte heraus wie Beeren aus den Zweigen eines Busches – »können wir ruhig herausnehmen, das ist doch zu nichts gut – deshalb läuft sie nicht besser und nicht schlechter als vorher.«

»Aber«, sagte ich bestürzt, »die Maschine hat doch vorhin so erschreckend sicher gearbeitet!«

»Nun schon – manchmal, wenn man nicht genau hinsieht, klappt schon alles. Aber das sind doch Zauberkunststückchen!

Übrigens«, sagte er, plötzlich ernst werdend, und mir schien es fast, als sei er dem Professor in diesem Augenblick seltsam ähnlich, »was Sie da vorhin sagten, ‘wenn Gott rechnet, entsteht die Welt’ – das war gar nicht so zufällig, wie Sie glaubten; das war ein sehr, sehr kluges und tiefes Wort, und es paßte gut zu Ihren ganzen Erlebnissen. Aber«, fuhr er nun, ganz in seiner alten Art, fort, »deshalb war auch gar keine Maschine nötig, um das zu prophezeien.

Doch nun kommen Sie, das Beste steht Ihnen noch bevor: Ich will Ihnen das Innere der Maschine zeigen. Oder, da Sie ja sagten, diese Maschine stehe eigentlich an Stelle der ganzen Welt – ich will Ihnen das Innere der Welt zeigen.« Wieder griff er in die Verschalung, und diesmal schwang sich ein ganzes Feld heraus wie eine Tür.
»Treten Sie näher – ins Innere der Welt. Warum zögern Sie?«

»Ich weiß nicht – verzeihen Sie, Sie geben sich gewiß große Mühe, den Eindruck der vorangegangenen Ereignisse auf mich zu verwischen; aber – wenn auch diese Maschine hier, und das müssen Sie, als Ihr Erbauer, ja wissen, verwirrende und unverständliche Mängel aufweist, und – wie Sie mir wohl zeigen wollten – gar nicht fähig ist, das zu leisten, was der Professor behauptete – damit ist doch noch nicht die Idee dieser Maschine widerlegt, die er mir so eindringlich und mit so zwingenden Schlüssen schilderte!«

»Sie kennen mich«, lachte der Assistent, »noch zu wenig, um zu wissen, daß ich mich mit halben Sachen nicht begnüge:
Sie sollen auch von der Idee der Maschine, von der Idee des Laplaceschen Geistes also, erlöst werden, und zwar nachhaltig! Aber eben dazu ist es nötig, daß Sie von der glatten, scheinbar so ordentlichen Außenseite Abschied nehmen und ins Innere der Dinge dringen – also, kommen Sie.«

Ich folgte ihm, als er gebückt durch die niedrige Öffnung verschwand, wieder mit jenem schwachen Abglanz des Gefühls, das mich – wie lange war das her? – bewegt hatte, als ich die Lichter des Instituts am Horizont entdeckte. Wir traten in ein warmes Dunkel, eine Atmosphäre, die etwas Chaotisches hatte, etwas von der Ahnung Tausender noch unerfüllter Möglichkeiten.

»Nehmen Sie meine Hand – ich bin hier zu Hause«, drang die Stimme des anderen aus der Dunkelheit. Wir gingen – doch ich konnte nicht erkennen wohin, und fast hatte ich das Gefühl, wir verließen gar nicht den Fleck, auf dem wir gestanden hatten.

»Mit zwei Gedankengängen«, sagte der Assistent, »wollte Ihnen der Professor den Beweis führen, daß alle Ihre Handlungen vorbestimmt seien. Sie folgten gesetzmäßig aus Ihrer Persönlichkeit, Ihrem Charakter, der so und nur so auf die Anrufe der Außenwelt antworten kann – sagte er nicht so? Nehmen wir die Persönlichkeit unter die Lupe! Nicht gerade Ihre eigene – die können wir schwer objektiv betrachten – sondern die irgendeines Menschen, den Sie gut zu kennen glauben.«

Ich überlegte. Jacques? Lieber nicht! Oder Waldemar – aber der war keine Persönlichkeit, nur eine lebendige ägyptische Mumie. Doch jemand, den ich gut zu kennen glaubte? Wen kannte ich besser als Jeanette, mit der ich doch die geheimsten Stunden geteilt hatte?

»Eine Frau?« sagte der Assistent, und ich spürte im Dunkeln sein spöttisches Lächeln. »Aber wie Sie wollen – haben Sie die Lupe noch, die ich Ihnen vorhin gab? Ja? Dann sehen sie hindurch.«

Ich hob das Rund der Fassung ans Auge. Undeutlich erst in weiter Ferne, dann immer größer werdend, tauchte aus dem Dunkel – in dem dunkelgrünen Kleid, das ich so liebte, mit den hochhackigen Krokodillederschuhen, die ich ihr vor langem einst geschenkt hatte – Jeanettes Gestalt auf. Auch sie schien mich zu sehen, denn über ihr schönes Gesicht glitt ein Schimmer freudiger Überraschung, sie winkte und eilte mir entgegen – da drehte sich plötzlich das Glas in meinen Händen, ein Reigen dunkler, unklarer Gestalten huschte vorüber, und als ich wieder durch die Lupe sah, erblickte ich – mich selbst. Ich kam auf mich zu, in meinem braunen Anzug, ein Lachen auf dem Gesicht, und »Jeanette!« rief mein Doppelbild mir zu. Aber – war ich denn noch ich selbst? Trug ich nicht Jeanettes Kleid, fühlte ich nicht die Seide ihrer Wäsche auf dem Körper, steckten nicht meine Füße in zarten Strümpfen und in den kleinen Schuhen – lief nicht diese seltsam verwandelte Person meinem Spiegelbild entgegen, um es zu umarmen?!

»Was heißt das? Ich bitte Sie, ich beschwöre Sie, was war das eben für ein Spuk?!« schrie ich den Assistenten an und packte ihn am Arm.

»Eine kleine Lektion über das Kapitel Persönlichkeit«, erwiderte er lächelnd. »Haben Sie an der Jeanette, die Sie eben sahen, irgend etwas vermißt? War es nicht ganz die Frau, die Sie zu kennen glauben und eben darum lieben? Und doch waren Sie selbst es – oder vielmehr Ihr eigenes Ich, das sich nur in Jeanette spiegelte. Die ganze Jeanette, die Sie kennen, mit der Sie täglich sprechen, ist eigentlich gar nicht Jeanette – sondern nur das Bild Jeanettes, das sich Herr Sartorius macht. Aber nicht doch – das ist kein Vorwurf! Das ist ganz in der Ord-nung – genau so ist der Sartorius, den Jeanette kennt, eigentlich nur Jeanette, und der, den Ihr Freund Jacques kennt, ist eigentlich Jacques, und Waldemar kennt nur Waldemar!«

»Ich glaube, ich verstehe Sie. Niemand kennt den anderen wirklich, weil er ihn doch nur mit seinem eigenen Maß mißt?«

»So ungefähr – nur müssen Sie noch einen Schritt weitergehen. Es gibt gar keine Jeanette an und für sich, sondern nur eine Jeanette für Sartorius, für ihre Schwester, für ihre Modistin, für ihren Arzt – jedes Mal ist sie eine andere, eine neue und mit allen übrigen unvergleichbare Jeanette – aber niemals die wirkliche -«

Einen Augenblick blitzte aus dem Dunkel ein Bild auf, das ich in seiner Vielfarbigkeit kaum mit einem Blick umfassen konnte: Hunderte, Tausende von Gestalten – und jede von ihnen Jeanette, und war es doch wieder nicht, diese eine nicht, die ich kannte und liebte.

»Und – wenn sie schläft? Wenn sie mit niemandem zusammen ist, der ihr Bild verfälschen könnte?«

»Sie mißverstehen mich noch immer. Es gibt gar keine wahre Jeanette, die man verfälschen könnte – es gibt nur diese tausend verschiedenen Bilder, die in jeder neuen Situation neu und widersprechend hervortreten. Und im Schlaf – kennen Sie die Träume Jeanettes? Glauben Sie nicht, daß sich ihre Persönlichkeit im Traum noch viel nachhaltiger verwandelt, daß noch unbekanntere Seiten hervortreten?«

»Doch, Sie haben recht – aber was soll das alles? Sie wollten mich von meiner Verwirrung erlösen, aber Sie haben mich nur in eine neue gestürzt!«

»Aber, Herr Sartorius, sehen Sie denn das nicht ein? Wenn es gar keine feste, eindeutige Persönlichkeit gibt, dann kann in ihr auch nicht die Zukunft vorbestimmt liegen! Was der Professor Persönlichkeit nannte, ist in Wahrheit nur ein loses Bündel von Möglichkeiten, die nach ihrem Ermessen ins Licht treten.«

Ich antwortete ihm nicht. Aber hatte er nicht recht – war es nicht das, was ich in so vielen Stunden meines bisherigen Lebens empfunden hatte, diese verwirrenden Widersprüche in meiner eigenen Seele und denen der anderen, dieses Gefühl manchmal der engsten Verbundenheit, manchmal tiefsten Verschiedenheit? Gab es nicht Stunden, in denen ich Waldemar verstehen konnte und andere, in denen er mir fremder war als der Bewohner eines anderen Planeten? War ich vielleicht einmal Waldemars Sartorius, das andere Mal ein Fremder, der mit ihm nichts gemein hatte?

»Aber ich – ich selbst bin doch eine feste Persönlichkeit – ich ändere mich doch nicht mit jeder Person, die mir gegenübersteht!« begehrte ich noch einmal auf.
»So – wirklich? Nun, wir werden sehen. Von Ihrem unveränderlichen Charakter, der alle Ihre Handlungen vorausbestimmt, hätte ich Sie jedenfalls erlöst. Nun kommt das andere Gespenst an die Reihe – Ihr mechanisch-kausal funktionierender Körper!

Doch gehen wir erst ein paar Schritte weiter— Ihnen wird ein wenig Ruhe gut tun.«
Aus dem Dunkel schimmerte jetzt irgendwo ein Licht. Wir gingen darauf zu – es kam von einer Lampe, die auf einem einfachen Holztisch stand.

»Setzen Sie sich hierher«, ordnete der Assistent an, als bereite er irgendeinen Versuch vor. »Haben Sie die Lupe noch?«

Ich gab sie ihm. Er nahm sie mit spitzen Fingern, und wie Bälle in den Händen eines Zauberkünstlers vervielfältigte sie sich – zwei, drei, vier Lupen entstanden, die er klirrend auf den Tisch fallen ließ. Es befremdete mich nicht mehr. Alle Gesetze und vertrauten Vorstellungen waren in dieser Nacht aufgehoben, und ich konnte nichts tun, als ihren Zauber hinnehmen.

»Ich will mich mit dieser Sache nicht selbst aufhalten», sagte er, sich zum Gehen wendend. «Diese Fiktion haben schon andere beseitigt. Gehaben Sie sich wohl, bis ich zurück bin.«

Nun war ich doch etwas verblüfft. Sollte ich dieses Problem selbst lösen? Ich versuchte spielend die Lupen, aber meine Hände schienen keine Gewalt über sie zu haben.

»Guten Abend, Mr. Sartorius!« klang plötzlich eine Stimme. Aufblickend gewahrte ich eine Gestalt, die ich bisher im Institut noch nicht gesehen hatte: Ein hagerer, intelligent aussehender Herr in einem grauen Sportanzug, mit einem langen, von lustigen Fältchen durchzogenen Gesicht, in dem ich den Angelsachsen auch vermutet hätte, wenn der leichte Akzent nicht gewesen wäre. Unter dem Arm trug er einen sehr großen, mit Packpapier umhüllten Gegenstand, eine Art Kiste oder Gestell.

»Ich wurde gebeten, Ihnen eine kleine Lektion über Moleküle und Atome zu halten«, fuhr er fort. »Ich habe dazu einen sehr interessanten Gegenstand mitgebracht.« Er deutete auf die Last, die er abgesetzt hatte. »Er besteht aus sehr wenig Materie, weniger als ein Stecknadelkopf groß ist. Aber sie ist in sehr kleine Portionen aufgeteilt, die in sehr großen Entfernungen voneinander im Raum schweben. Sie schweben, weil sehr starke elektrische Kräfte zwischen ihnen wirken und sie in einem gewissen Abstand voneinander halten – aber sie sind dennoch immerfort in sehr heftiger Bewegung. Legt man etwas auf diesen Gegenstand, dann trommeln sie so heftig unten dagegen, daß er in der Schwebe gehalten wird – obgleich er eigentlich auf lauter Nichts liegt. Ein seltsamer Gegenstand, nicht wahr?«

Ein paar Fältchen zuckten um seine Augenwinkel.
»Sie sitzen da vor einem Holztisch, soviel ich sehe. Ein solcher Tisch ist Ihnen von Jugend auf vertraut. Er ist fest, massiv und unproblematisch – er gehört jener wunderlichen Welt an, die man die Realität nennt. Wollen Sie nicht lieber meinen« – er räusperte sich – »meinen Gegenstand dort verwenden? Er würde genau das gleiche leisten wie der Tisch hier. Sie glauben es nicht?«

Er entfernte mit ein paar Griffen das Papier.
»Aber – das ist ja auch ein Tisch! Ich sehe doch genau die Maserung des Holzes!«
»Das«, sagte er gemächlich, »liegt nun wieder an gewissen Verschiedenheiten in der Art, wie meine kleinen Materieportionen auf ankommende elektromagnetische Wellen reagieren. Hier entsteht eine kräftigere, dort eine schwächere Resonanz, diese entstehende Sekundärwelle wird unterwegs mehr geschwächt, jene weniger – und so sehen Sie allerlei Unterschiede in der Lichtstärke, die Ihr Auge und Gehirn sehr phantasievoll zu einer Holzmaserung zusammensetzt. Doch ich langweile Sie.«

Er ergriff die Lupen und hob die erste.
»Das ist eine gewöhnliche Lupe. Sehen Sie hindurch, auf Ihren Tisch, auf meinen Gegenstand. Sie werden keinen Unterschied bemerken. Die Lupe ist eben viel zu schwach.

Die zweite ist eine – nun, sagen wir – magische Lupe. Sie zeigt Ihnen schon die Struktur meines Gegenstandes, und ich bin gespannt, was Sie an Ihrem massiven, realen Alltagstisch erleben werden. Bitte!«

Er gab mir die Lupe. In der Tat – ich erkannte nun die im Leeren schwebenden kleinen Kügelchen seines Gegenstandes, der einem Tisch so ähnlich sah. Sie zitterten unaufhörlich in ruheloser, unregelmäßiger Bewegung hin und her.
Nun wandte ich mich zu meinem Tisch. Aber kaum hatte ich ihn ins Auge gefaßt, als sich seine Konturen verwischten und er wie Nebel zerging.

»Sehen Sie – Ihr Alltagstisch hält diese Lupe eben nicht aus. Unter ihr hat nur mein Gegenstand Bestand – es gibt eben keine durchweg festen, massiven Körper, nur diese losen Gerüste und Netzgewebe aus Molekülen. Das haben Sie doch auf der Schule gelernt – warum verblüfft es Sie so?«

»Ich habe es mir eben nie richtig klargemacht. Es gibt ja auch keine magischen Lupen auf der Schule – «

»Nun – diese magische Lupe ist ja auch nur ein Symbol. Wären wir in meinem Laboratorium, könnte ich Ihnen durch Versuche beweisen, daß es so ist, wie Sie es durch die Lupe sehen – ich könnte andere kleine Körperchen durch den Tisch hindurch¬fliegen lassen, ich könnte – aber lassen wir es bei der Lupe. Nur – merken Sie sich: Jedes Bild, das Sie sehen, ist durch Tausende von Experimenten gestützt und erhärtet. Aber das Bild meines Gegenstandes ist noch zu grob. Nehmen wir doch einmal ein einzelnes Atom heraus.« Er faßte in das wirbelnde Gewirr und griff nach einem Kügelchen. »Was haben wir denn da? Ah, ein Kohlenstoffatom. Nun, die dritte Lupe -«

»Aber – das sieht ja aus wie ein Planetensystem!«

»Allerdings, in jedem Atom kreisen viele Elektronen um einen Kern, wie die Planeten um die Sonne. Aber auch dieses Bild ist noch zu grob.« Er fing eines der kreisenden Kügelchen ein. »Hier ist ein Elektron. Nun passen Sie gut auf.«

Er drückte mir die vierte, letzte Lupe in die Hand. Ich richtete sie auf das Kügelchen — aber, wo war es denn?
»Ich sehe ja gar nichts mehr!«

»Richtig – Sie sind nun auf dem Punkt angekommen, wo man keine Kügelchen mehr sieht. Das Elektron ist gar kein lokalisiertes Teilchen mehr, es hat keinen festen Ort, keine feste Geschwindigkeit – es kann dort sein, oder auch dort – ich weiß es nicht. Ich kann nur noch ausrechnen, daß es vielleicht eher dort ist als da – das heißt, daß ich es in tausend Versuchen eher dort finde und nur hundertmal da. Aber wo ich es in einem bestimmten Versuch finde, kann ich nicht mehr wissen.«
Er verneigte sich lächelnd ein wenig vor mir und ging dann, seinen Gegenstand unter dem Arm, davon, ein Liedchen vor sich hinpfeifend. Es schien ihn gar nicht zu berühren, daß dieser Gegenstand aus Milliarden von Teilchen bestand, die gar nicht da waren oder nur wahrscheinlich da waren, aber nicht sicher – oder die gar keine Teilchen waren. – Mir wirbelte der Kopf.

»Na, an die unerbittlichen Gesetze, denen alle Atome Ihres verehrten Körpers gehorchen, glauben Sie nun wohl auch nicht mehr?« erklang die Stimme des Assistenten.

»Nein, ich glaube nicht mehr an die Persönlichkeit, nicht mehr an die Gesetze, nicht mehr an die Atome – ich glaube höchstens noch, daß ich selbst ich selbst bin!«

»Oh, glauben Sie das? Ich habe hier einen Spiegel und eine meiner Lupen. Wollen Sie nicht auch noch sich selbst – «

»Nein, ich halte das nicht mehr aus, wie mir alles unter den Fingern zerrinnt! Sie haben mich« – ich sah ihn an – »vom Determinismus erlöst, Sie haben alle Gesetze zerstört, alle Formen, aber – Sie haben mich nicht glücklicher gemacht, als ich es vorhin war, als der Professor mich verließ. Ich will heraus aus diesem Dunkel. Ich will nicht auch noch mich selbst verlieren!«

»Bitte«, sagte er spöttisch und öffnete irgendwo im Dunkel eine Tür. Als ich an ihm vorbei hinausstürmte, hörte ich ihn murmeln: »Schade – gerade, wo es interessant wird, geht er. Aber ich sage es ja – die letzte Konsequenz halten sie niemals aus… «

Ich sah mich um. Ich stand auf der Galerie. Das Licht der ersten Dämmerung fiel durch die großen Fenster herein und mischte sich mit den Strahlen der Lampen. Ich lief die Galerie entlang, neben mir die unermeßlichen Fronten der großen Maschine, hinter deren Skalen und Lampen jenes verwirrende Chaos von aufgelösten Persönlichkeiten, schwirrenden Atomen und Elektronen und zerstörten und aufgehobenen Gesetzen lag, dem ich eben entronnen war. Aber war ich ihm entronnen? Konnte ich denn die Erinnerung an die Erlebnisse dieser Nacht loswerden, indem ich entfloh? War denn niemand da, der alle diese Verwirrungen löste?

Da, auf einer breiten, vorgebauten Plattform, im Zentrum seiner Maschine, sah ich den Professor sitzen. Er hielt ein mit Formeln bedecktes Blatt Papier in der Hand, auf dem er eifrig neue, seltsame Zeichen entstehen ließ. Ich hielt inne. Diesem wenigstens wollte ich meine Verzweiflung ins Gesicht schreien, wollte mich rächen für die Qual, die er mir mit seinen unmenschlichen Apparaten bereitet hatte, die mich dem Herrn des Chaos in die Arme trieben.

»Nun, Herr Professor«, rief ich ihn an, »immer eifrig beim Rechnen? Aber schade, daß es gar nicht stimmt, was Sie da rechnen – daß Ihre Maschine gar nicht funktioniert! Was sagen Sie dazu?«

Ich bemerkte plötzlich, daß ich die Lupe noch in der Hand hielt. »Da«, sagte ich, sie erhebend, »schauen Sie sich doch die Maschine an!«

Die Lupe wuchs in meinen Händen, immer größer wurde der Kreis, den ihr Gesichtsfeld umschloß. Und wie ich sie auf die glatte Front der Apparatur richtete, klafften tausend Risse in der skalenbedeckten Wand, die wie ein morscher Verputz zerfiel, die Drähte und Leitungen ballten sich wie ekles Gewürm zusammen und zerstoben, Lampen und Röhren zersprangen wie Raketen und Feuersonnen, und nur ganz im Hintergrund des Raumes wurde eine Gestalt sichtbar, unheimlich groß und triumphierend lachend: der Assistent.

»Und was wird aus Ihnen, Professor, Gott der Maschinen und Formeln, wenn ich Sie durch die Lupe ansehe?!« schrie ich mit überschlagender Stimme und wendete das riesenhafte Rund der Fassung mit letzter Anstrengung auf seine Gestalt.
Das Geländer, an dem er lehnte, zerfiel, die Halle löste sich auf, das Blatt und der Schreibstift verschwanden – aber die Gestalt des Alten blieb unverändert, ja sie wurde größer, strahlender, und ein Leuchten schien von ihr auszugehen.

»Was bedeutet das?« fragte ich tonlos.

»Ich werde es Ihnen erklären – aber Sie müssen zu mir kommen«, sagte er mit milder Stimme.

Wie ohne Willen schwang ich mich durch die Öffnung der Lupe und trat zu ihm.
»Noch einen Augenblick«, fuhr er fort, während ein Gefühl überirdischer Ruhe und Geborgenheit mich überkam, »eines ist noch nötig, aber erschrecken Sie nicht.«
Er entfernte sich von mir; die Gestalt des Assistenten aber kam auf mich zu, immer näher, bis beide zu einer verschmolzen.

»So, nun kann ich mit dir sprechen«, sagte das seltsame Doppelwesen zu mir.
Ich stand starr. Sollten denn die Wunder und Verwirrungen dieser Nacht niemals enden?

»Sei ruhig – es ist die letzte Verwandlung, die du heute nacht erlebst!« fuhr die Gestalt fort. »Und ist es denn nicht das, was du dir wünschtest – einen Ausgleich, eine Synthese aus Gesetz und Freiheit, aus Kosmos und Chaos, aus Professor und Assistent?

Du hast den unerbittlichen Determinismus erlebt – und du konntest ihn nicht ertragen. Du hast die Auflösung des Determinismus, die vollkommen freie, ungeordnete Welt gesehen – und du bist geflohen. Darf ich dir ein drittes Bild vorschlagen? Vielleicht ist es der menschlichen Natur besser angemessen. Bevor du zu uns kamst, lasest du ein altes Wort: Cum deus calculat, fit mundus – Wenn Gott rechnet, entsteht die Welt. Du hieltest es für den Ausdruck des strengen Zwangs, der unausweichlichen Bindung. Aber du kennst die wahre Mathematik nicht, jene wunderbare Wissenschaft, die den Menschen mit Gott verbindet.
Siehst du – jedes mathematische Problem, sobald es gestellt ist, hat eine Lösung – in dem Moment, wo der Mathematiker es hinschreibt, liegt schon fest, was er als Ergebnis erhalten muß.

Das ist das Gesetz. Aber wie er die Lösung findet, welchen Weg er zu ihr einschlägt, das steht ihm frei. Ja, er kann sogar einen ganz neuen Weg gehen, den niemand vor ihm kannte. Er kann natürlich auch die Lösung verfehlen, weil er den falschen Weg wählte. All das kann er tun nach seinem Ermessen. Das ist die Freiheit.

Cum deus calculat, fit mundus – das heißt: Gottes Schöpfung ist wie die Mathematik. In dem Augenblick, wo etwas erschaffen wurde – auch für dich, Sartorius, gilt das wie für alles andere -, liegt bereits fest, was daraus werden, entstehen kann. Das ist das Gesetz.

Aber du könntest den Weg verfehlen, um das, was in dir angelegt ist, wirklich zu werden. Oder du kannst ihn erkennen, du kannst breite, gebahnte Wege zum Ziel gehen oder steile, gefahrvolle; du kannst wenig oder viel erreichen von dem, was dir möglich ist, oder gar nichts. Das ist die Freiheit.

Du – deine Person mit allen ihren Möglichkeiten bist ein Problem, das dir selbst gestellt ist. Mach dich an die Arbeit!

Einmal wirst du wieder vor mir stehen, und wir werden besprechen, ob du es geschickt oder ungeschickt, gut oder schlecht gelöst hast!

Geh nun zurück in die Stadt, in dein altes Leben. Was ich dir hier, unter dem Bild des Instituts mit der Rechenmaschine, sagen konnte, habe ich dir gesagt; aber vergiß nicht, daß dies nur ein Bild unter unendlich vielen ist, in denen du mich findest. Achte darauf – ich begegne dir noch oft, und vielleicht findest du dann Antwort auf die Fragen, die heute ungelöst bleiben. Geh jetzt heim – ich will noch einige neue Probleme ersinnen, die gelöst werden müssen!«

Er wandte sich um und ging langsam davon. Lange sah ich ihm nach.

Dann blickte ich auf zum Himmel über mir, wo eben die ersten Sterne erloschen – Experimente Gottes gleich mir.

Das 10-Tage-Mädchen

Anm. Jula: Es ist ein Fragment, aber so groß, dass ich eher von einem unbeendeten Roman sprechen möchte.

Erstes Kapitel: Erbfolge eines Kleiderschranks

“Statt wie erwartet die Kleider zu meiden
begann sich sofort als Maid er zu kleiden!‘

“Die Kleider da im Schrank werden Dich ja nicht stören …“

Ich hatte meinen Ohren und Augen nicht getraut, als Tante Irma die Tür des billigen weißlackierten Schranks im „Mädchenzimmer“, das ich während meiner zehn Tage Hauswächter-Dienst benutzen sollte, mit diesen Worten öffnete und eine Reihe bunter Damenkleider enthüllte, die da zur Seite geschoben auf der Messingstange hingen.

„Aber -“ erklärte sie weiter, „so sind die jungen Mädchen heutzutage: da hatte sie doch wirklich eine schöne Stellung hier bei uns – aber dann hängt sie sich da an irgendsoeinen Kerl, fährt mit ihm sogar in Urlaub: und dann schreibt sie uns einfach, sie bliebe mit ihm in Spanien – kümmert sich nicht um ihre Sachen hier, schon seit acht Wochen nicht, denkt nicht daran, daß wir hier ohne Hilfe sitzen bleiben: nein – auf und davon ins süße Leben, oder wie man das nennt!“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe doch auch nicht die Zeit, dem dummen Ding noch alles nachzuräumen – ich bin ja so schon mit der Arbeit kaum fertiggeworden – es liegt noch alles wie damals, als sie wegfuhr! Vielleicht kannst Du das ja, wenn Du Zeit hast, mal in einen von den alten Koffern auf dem Boden packen – wenn sie es doch mal abholen will oder so, man hat ja doch immer die Verantwortung … „

In der Tat war der Kleiderschrank des so jäh gen Süden entschwundenen Hausmädchens Lieselotte denn auch das Erste, dem ich mich zuwandte, als Tante Irma endlich – mit tausend Ermahnungen, was alles in ihrer Abwesenheit nicht zu vergessen, jeden Tag zu tun, zu gießen, abzuschließen, reinzuholen, rauszulegen, sauberzuhalten oder nicht schmutzig zu machen sei – abgefahren war.

Aber keineswegs in der Absicht, die Kleidungsstücke des Fräulein Lieselotte in einen alten Koffer auf dem Boden zu packen!

Ich konnte es eigentlich noch immer gar nicht recht fassen, als ich langsam und genußvoll den Inhalt des Kleiderschranks musterte: Ein, zwei, drei, vier karierte, geblümte oder gemusterte Kleider – zwei Blusen und zwei Röcke, auch sorgsam auf Bügel gehängt – ein karierter Wollmantel und ein schimmernder Regenmantel aus Plastik – keine überwältigende Garderobe für eine junge Dame (aber wahrscheinlich war Tante Irma gegenüber ihrem Hausmädchen genau so knauserig wie bei mir gewesen: ganze hundert Mark für die zehn Tage hatte sie mir dagelassen!) – aber für mich war es geradezu ein Traum, soviel Mädchenkleider auf einem Haufen – und zehn Tage lang zur freien Verfügung! – zu sehen …

Aber wenn sie mir nun gar nicht paßten ? Der Gedanke durchfuhr mich mit echtem Schreck: zum Beispiel Tante Irmas Sachen – Größe 52 wären für mich so gut wie nutzlos gewesen; obwohl ich natürlich schon manchmal ein Kleid meiner Mutter übergezogen und, so gut es eben ging, mit Sicherheitsnadeln enger gesteckt hatte. Zu weit würden mir Fräulein Lieselottes Sachen zwar kaum sein – aber wenn sie nun so überschlank gewesen war, daß ich nicht in ihre Kleider hineinpaßte ?! Das wäre natürlich ein ganz böser Schicksalsschlag gewesen: mir erst völlig unerwartet ein Paradies von Mädchenkleidern zu öffnen – und mich dann mit der Schneiderelle der Konfektionsgrößen als Flammenschwert sofort wieder daraus zu vertreiben!

Das ließ mir jetzt keine Ruhe: hastig streifte ich Hemd und Hose ab – die Schuhe auch, als die Hose nicht über sie wegrutschen wollte (ach du lieber Himmel: Schuhe! Ob da auch welche da waren ? Und ob die mir nun wieder passen würden!) und holte prüfend eines der Kleider nach dem anderen aus dem Schrank. Welches anprobieren?

Offenbar hatte Fräulein Lieselotte ja all ihre „guten“ Kleider mit in den Urlaub genommen – das hier waren wahrscheinlich Sachen, die sie im Haus und bei der Arbeit getragen hatte: aber das rotgestreifte mit dem weißen Kragen und den aufgesetzten Taschen sah wirklich niedlich aus.

Wie kam man da nun hinein ? Aha, hier an der Seite war ein kurzer Reißverschluß – den mußte man offenbar aufmachen – hm, und wahrscheinlich ja auch den obersten Knopf vorn, damit man mit dem Kopf durchkam: und nun einfach über den Kopf ziehen!

Das Kleid roch ein bißchen nach Parfüm und Mädchen, als ich da mit meinem Kopf in seinen Falten steckte – natürlich war ein Knopf oben zu wenig gewesen, und jetzt mußte ich erst mit den Armen wieder hinauskommen, um den zweiten Knopf öffnen zu können: aber dann fiel es plötzlich mühelos an mir herunter, ohne irgendwo hängenzubleiben und als ich dann noch den Reißverschluß zuzog, schmiegte es sich perfekt um meine Taille!

Natürlich hatte Tante Irmas „Mädchenzimmer“ keinen großen Spiegel, in dem man sich bei ganzem Leib anschauen konnte – auf Strümpfen lief ich also die Treppe hinunter in die Diele – spürte dabei das wohlig ungewohnte Streicheln des Rocks um meine nackten Knie – und sah mich dann im Spiegel: ein Mädchen? Na ja, noch nicht gerade: da fehlte der Busen, die Hüften waren reichlich schmal, und der Kopf mit dem kurzen Haarschnitt paßte natürlich noch gar nicht – aber aus den kurzen Ärmeln schauten hübsch gerundete weiße Arme, die Beine unter dem Rocksaum waren schlank (wenn sie auch noch in kurzen Jungensocken steckten) und das Kleid saß in der Weite wie angegossen!

Jetzt müßte man wenigstens … an der Dielen-Garderobe hing noch ein grüner Schal von Tante Irma – wenn ich den als Kopftuch umband? Fabelhaft! Das straff um die Wangen gezogene Kopftuch machte mein Gesicht noch schmaler, mädchenhafter – und wenn ich jetzt etwas Haar noch vorne als Stirnwelle herauszupfte? Ja – jetzt war der Eindruck schon richtig der einer hübschen jungen Dame in Sommerkleid und Kopftuch!

Ich drehte mich ein bißchen vor dem Spiegel hin und her – reckte die Arme – stemmte sie in die Seiten – wiegte mich in den Hüften, drehte mich um und versuchte mich über die Schulter von hinten zu betrachten: also – das sah alles wirklich ziemlich echt aus.

Bis auf die Socken, die Haare an den Beinen, die jungenhaften Hüften und die platte Brust natürlich, Aber das konnte man ja ändern!

Genau in dem Moment klingelte es natürlich.

Ich fuhr zusammen. Aber dann fiel es mir wieder ein: in meinem Übereifer, Fräulein Lieselottes Kleider zu probieren, hatte ich natürlich völlig vergessen, daß – laut Tante Irma – irgendein Lieferauto mit Bier und Mineralwasser im Lauf des Nachmittags zu erwarten war!

Ein zweites Mal schrillte die Klingel. Einen Moment lang hatte ich die verrückte Idee, jetzt einfach so die Tür aufzumachen und den Lieferfahrer als junge Dame zu empfangen; aber wenn mir auch bei dem Gedanken ein prickelnder Schauer den Rücken hinunter bis in die Schamgegend lief – ich verwarf ihn sofort wieder: nicht in Jungensocken und ohne Busen!

„Moment – ich mache gleich auf!“ rief ich laut zur Tür hin.

Wie wurde ich das Zeug jetzt am schnellsten los ? Zeit, um das Kleid mit seinen Knöpfen und dem Reißverschluß erst auszuziehen, hatte ich kaum – und dann hätte ich noch immer in Unterhosen und Unterhemd dagestanden! Aber – mein Blick fiel auf Onkel Antons Lodenmantel an der Garderobe – etwas drüberziehen konnte ich natürlich Bei Onkel Antons Figur reichte mir der Mantel sowieso fast bis zu den Füßen, so daß man nicht sah, was ich darunter anhatte – also (der Kerl klingelte schon wieder!) Kopftuch runter, Lodenmantel an und zur Tür:
„Entschuldigen Sie – ich war gerade dabei, mich zum Baden auszuziehen!“ erklärte ich dem Fahrer, der mich etwas befremdet musterte, Offenbar waren Lodenmäntel als Badekleidung hier nicht üblich – und wahrscheinlich auch die Schamhaftigkeit, sich als Mann vor fremden Blicken derart einzumummeln, selbst wenn man nicht ganz voll angezogen war!

Innerlich war ich anscheinend schon viel mehr in der Rolle eines Mädchens . . .

Dennoch schleppte der Fahrer ohne weiteres Befremden die Kästen in die Diele und nahm die anderen, die Tante Irma noch vorsorglich vor der Haustür bereitgestellt hatte, mit.

„Wir zahlen das beim nächsten Mal mit!“ verabschiedete ich ihn groß zügig (wunderbar – die zwanzig Mark, die Tante Irma für diesen Zweck bereitgelegt hatte, blieben mir dann noch als Notreserve für andere unvorhergesehen Fälle!) und schälte mich, tief atemholend, wieder aus dem Lodenmantel.

Ich warf noch einen Blick in den Spiegel: sehr hübsch – aber so war mir das zu unsicher; wenn alle fünf Minuten jemand klingeln konnte …

Während ich langsam die Treppe wieder hinaufstieg, knöpfte ich schon das Kleid wieder auf und öffnete den Reißverschluß: mit weiteren Experimenten würde ich lieber warten, bis es Abend war – zumal ich mich jetzt noch an ein ellenlanges Programm vom Blumengießen bis zum Wegstellen der Bierkästen erinnerte, das mir Tante Irma aufgetragen hatte.

Es war ganz gut, daß ich mich – wieder in meinen Jungensklamotten – um all das kümmerte: denn ein plötzlich losbrechender Aprilregenschauer hätte ganz schönes Unheil an Tante Irmas auf der Terrasse ausgebreiteten Decken und Kissen stiften können, wenn ich zu der Zeit wiederum in Mädchenkleidern gesteckt hätte, so daß ich mich nicht ins Freie trauen konnte!

Aber gegen sechs hatte ich alles erledigt – und mir während der ganzen Hausarbeit (zu der ja im Grund Fräulein Lieselottes Kostüm viel besser gepaßt hätte!) bereits das Programm für meinen ersten Abend Punkt für Punkt ausgemalt. (Daß ich von diesem Programm durchaus noch waghalsig abweichen würde, ahnte ich zu der Zeit noch nicht).

Als erstes machte ich Inventur im Mädchenzimmer: da waren ja im Kleiderschrank auch noch Wäschefächer – nicht gerade zum Bersten gefüllt, aber immerhin: zwei rosa Seidenwäschegarnituren, eine in hellblau, eine in weiß – der passende hellblaue Unterrock und ein anderer, sogar aus glänzendem Satin, in rosa – ein paar Hüfthalter und Strumpfhaltergürtel, rosa, weiß und bleu – drei Büstenhalter – und eine Plastiktasche mit säuberlich zusammengerollten Damenstrümpfen; in den oberen Fächern einige Pullover mit langen und kurzen Ärmeln, zwei Seidenschals und schließlich noch zwei Nachthemden in rosa und bleu – eigentlich alles, was man verlangen konnte!

Im Hutfach über den Kleidern entdeckte ich zwar keine Damenhüte, aber dafür eine Umhängetasche aus schwarzem Lackleder und eine kleinere schwarze Handtasche – unten im Schrank standen ein Paar weiße Sandalen (erfreulicherweise mit ziemlich flachen Absätzen und ein Paar schwarzglänzende Regenstiefel, Die Sandalen, die ich probeweise über die Socken streifte, paßten – sogar recht bequem, vielleicht, weil Fräulein Lieselotte (wie mochte sie eigentlich mit Nachnamen gehießen haben ? Lieselotte von der Pfalz ? Lieselotte Gänseschmalz ? Lieselotte Schwanenhals ? Lieselotte Andernfalls ?) sie bei der Hausarbeit redlich ausgetreten hatte.

Hochhackige Schuhe fehlten zwar (wahrscheinlich waren sie mit ins Urlaubsgepäck gewandert), aber ich wußte sowieso nicht, ob ich in denen hätte laufen können, ohne dauernd umzuknicken, Daß in der Schrankecke auch noch ein plastikbespannter Schirm stand, machte die Regenausstattung vollkommen – offenbar hatte Tante Irma ihre Hausangestellte oft in Wind und Wetter Einkaufen geschickt!

Neben dem Bett stand noch ein Nachttisch. Seine Schublade lieferte allerhand Kosmetika – zwei Lippenstifte, eine Packung Puder und ein Plastikdöschen mit verschiedenfarbigen Pasten, die ich nach einigem Überlegen als „Lidschatten“ identifizierte – genau wie ich etwas, das ich erst für einen Bleistift gehalten hatte, später als dunkelbraunen Augenbrauenstift erkannte. Dazwischen lagen noch eine Tüte Bonbons, ein paar Tablettenröhrchen, Haarspangen und -nadeln und ein einzelner Ohrring, zu dem ich trotz allen Suchens den zweiten nicht entdecken konnte. Anderen Schmuck hatte Fräulein Lieselotte entweder nicht gehabt oder – wahrscheinlicher – auf ihre Reise in den Süden („mit irgendsoeinem Kerl“ ) mitgenommen.

Aber für Schmuck konnte ich – da er nicht an Konfektionsgrößen gebunden war – zur Not immer noch auf Tante Irmas Toilettentisch zurückgreifen,
Ich überlegte eine Weile – dann breitete ich ordentlich auf dem Bett die Sachen aus, die ich heute abend anprobieren wollte: alles, entschied ich mich, in mädchenhaftem Rosa – den Strumpfhaltergürtel („Strapsgürtel“ nannten das die Frauen ziemlich unpoetisch), den Büstenhalter („BH“ – als wenn die Zeit zu knapp wäre, das voll auszusprechen!) s ein rosa Seidenhemdchen und Höschen mit ebenso schmalem wie billigem Spitzenrand und den, im Gegensatz dazu, richtig luxuriös aussehenden schimmernden Satin-Unterrock.

Dann zog ich – nicht ohne gewisse Feierlichkeit – meine bisherige Kleidung aus und legte sie ebenso ordentlich über den einzigen Stuhl des Zimmers. Ich probierte kurz, ob eigentlich auch der Hüftgürtel um meine Taille paßte – ja, ganz genau! – aber: anziehen wollte ich diese hübschen Sachen noch nicht.

Erst einmal ging ich zwei Türen weiter in das hochherrschaftliche Badezimmer – schwarze Kacheln und so weiter – und ließ schönes warmes Wasser in die vornehme Wanne laufen. Mit einer ordentlichen Dosis teuren parfümierten Badesalzes – das konnte Tante Irma schon ab! (Zehn Mark pro Tag für diesen ganzen kombinierten Hausmeister- und Hausmädchendienst – irgendwo musste da ja die ausgleichende Gerechtigkeit einsetzen, und wenn es beim Baden war!).
Ich massierte meinen Körper wohlig mit dem sahnigen Schaum der wohlriechenden Badeseife („meinen klaren Teint verdanke ich nur der regelmäßigen Pflege mit…“). Es war ein angenehmes Gefühl, sich in dem warmen duftenden Wasser zu dehnen und seinen Leib zu pflegen wie eine vornehme Luxusdame – Dodo oder Chichi oder Mirabell.

Oder, dachte ich, während ich mit Onkel Antons Rasierapparat vorsichtig die Haare von meinen Schienbeinen abrasierte, wie der berüchtigte Hochstapler und Juwelenspezilist Conny der Schöne, der seine tollsten Coups bekanntlich als elegante Dame verkleidet ausführte – obwohl, zu meinem Bedauern, in den Heften niemals geschildert wurde, wie er sich eigentlich dafür vorbereitete: meist erfuhr man immer bloß hinterher, daß die angebliche Contessa di Rimini oder die geheimnisvolle verschleierte Dame in Wirklichkeit der schöne Conny gewesen war, der seinem Widersacher, dem dicken Inspektor Bull von Scotland Yard, wieder mal ein Schnippchen geschlagen hatte – „raffiniert verkleidet“ schrieb der Autor und machte es sich damit, fand ich, ziemlich bequem: woher nahm man denn zum Beispiel „üppige Hüften“ oder einen „verführerischen Busen“? Gab es die irgendwo – vielleicht in einem Geschäft für Hochstapler – und Verbrecherbedarf?! – zu kaufen, naturgetreu aus fleischfarbenern Gummi imitiert? Oder bastelte Conny der Schöne sie in seinen freien Stunden „in seinem luxuriösen Appartement an der Cote d’Azur“ selbst aus Luftballons und Schaumgummi zusammen?

So – vielleicht der Sicherheit halber auch noch die Haare unter den Achseln: es war zwar unwahrscheinlich, daß jemand dort nachsehen würde – aber irgendwie war es eine Frage des Stils, wenn man sich schon (wie hieß das:) „sorgsam von allem verräterischen Haarwuchs befreite“, wie das Conny laut seinem Chronisten zu tun pflegte, keine Stelle auszulassen. Glücklicherweise war mein Oberkörper bis auf zwei drei Zentimeter lange schwarze Haare, die ich pflichtschuldigst abrasierte – sowieso glatt wie bei einem Mädchen: und mit Bart im Gesicht hatte ich auch noch nicht zu tun („da er glücklicherweise bartlos war“: hieß das nun, daß er sich eben bloß keinen Bart stehen ließ – oder ersparte das Schicksal Conny auch in späteren Jahren den, für eine Contessa di Rimini ja zweifellos recht störenden, Bartwuchs ?).

Triefend stieg ich aus der Wanne, nachdem ich mich nochmal schön warm abgeduscht hatte, um die fröhlich im Badewasser umherschwimmenden Härchen loszuwerden, und rubbelte mich mit dem großen weissen Badetuch trocken.
Sahnige „BODY LOTION“ und parfümierter Körperpuder – irgendwie fand ich es abscheulich, daran zu denken, daß Tante Irma all diese wunderbaren Sachen auf ihren fetten Leib schmierte! – aber für mich waren sie natürlich die richtige Fortsetzung auf dem Weg zur schönen jungen Dame.

Junge Dame – Junge-Dame ! Ich mußte über das Wortspiel lachen,
„Ich bin die schöne Junge-Dame
und Lieselotte ist mein Name… „
sang ich mehr laut als schön vor mich hin, während ich über den Flur in mein „Mädchenzimmer“ – auch ein sehr passender Name – hinüberging:
„… für mich macht jedermann Reklame
wenn ich ’ne schöne Frau nachahme…”
und dann fiel mir außer „Flame“ und „Same“ nichts mehr ein – und beides schien mir in den Vers nicht recht zu passen.

Aber der Strumpfgürtel („Strapsgürtel“!!!), den ich mir jetzt um die Hüften legte, paßte wunderbar. Doch das war eigentlich nicht in Ordnung – denn wenn meine Vorgängerin Lieselotte breitere Hüften gehabt hatte, müßte er ja eigentlich für mich zu weit gewesen sein ? Ich sah mir den Hüfthalter nochmal genauer an und merkte, daß er seitlich Einsätze aus einem dehnbaren Gewebe hatte – da paßte also noch was rein („üppige Hüften“, die man „verführerisch wiegen“ konnte – sofern man welche hatte); aber woher nehmen? Ich sah mich suchend um. Irgendwas Flaches, Weiches, Gerundetes – da hatte ich doch vorhin unten im Nachttisch ein paar Schulterpolster aus Schaumstoff gesehen, die Fräulein Lieselotte wohl in irgendein Kleid hatte einnähen wollen; wenn man die jetzt in der richtigen Lage unter den Hüftgürtel schob?

Es brauchte einige Experimente – sogar einen Weg bis zum Spiegel in der Diele, um den richtigen Sitz für diese Hilfshüften zu finden: aber dann waren sie, wenn auch noch nicht gerade „üppig“, doch schon ganz hübsch gerundet und bestimmt viel „mädchenmäßiger“ als vorher.

Nun kam als nächstes der Büstenhalter, den hinter dem Rücken richtig zusammenzuhaken sich auch als Kunststück erwies. Aber was hatte er zu „halten“? Im Moment blähten sich seine beiden Halbkugeln etwas lächerlich leer vor meiner Brust. Einen „Gummibusen“ verwendete der hübsche Conny in solchen Fällen – aber woher nehmen ? Ich mußte mich mit irgend zwei kugeligen Polstern behelfen – vielleicht zwei Paar zusammengerollter Damenstrümpfe ? Ich probierte es aus – aber ich war mit dem Effekt nicht zufrieden: Fräulein Lieselotte mußte da erheblich mehr „Holz vor der Hütten“ gehabt haben, wenn ich nach dem Format der Büstenschalen urteilte!

Also – warum nicht die erheblich derberen Männersocken aus meinem Koffer? Jawohl – das waren jetzt richtige Wonnehügel: wenn auch, sofern man sie mit der Hand befühlte, von etwas unnatürlicher Konsistenz. Ich hatte sogar schon eine Idee, wie man das besser machen könne – aber dazu mußte ich morgen erst in der Stadt Luftballons auftreiben; für heute Abend mußten die Socken genügen.
Nachdem ich das glatte Seidenhemdchen übergezogen hatte, sah der Mädchenbusen sogar ausgesprochen naturgetreu aus, wie ich selbst in dem kleinen Wandspiegel des Mädchenzimmers feststellen konnte. Auch der Seidenschlüpfer bot keine besonderen Probleme – wenn man nicht meinen Pimmel, der irgendwie angeschwollen war und sich gegen die knappe Seide preßte, als solches bezeichnen wollte. Aber als ich noch den Unterrock übergestreift hatte, war auch diese undamenhafte Stelle zunächst mal dem Blick entzogen.

Unerwartet schwierig erwies sich dagegen das Anziehen der seidenen Strümpfe: erst einmal blieben sie überall am Bein hängen, dann gab es dauernd Falten in der Knöchelgegend, und als ich die endlich durch viel Zerren beseitigt hatte, saß die Strumpfnaht plötzlich statt hinten an der Innenseite meines Oberschenkels! Resigniert zog ich den ganzen Strumpf wieder aus und probierte es jetzt so, wie ich mich jetzt erinnerte, es mal in einem Film gesehen zu haben, in dem irgendein Gangsterliebchen ihre Leichtlebigkeit dadurch bewies, daß sie sich gähnend ihre Strümpfe anzog, während sie mit dem kessen Ede – oder wie ihr Freund hieß – über seine Einbruchspläne redete: nämlich, indem man den Strumpf erst bis zum Fuß aufrollte, in diesen Fußteil schlüpfte und nun den Strumpf wie eine Harmonika sorgfältig gesteuert – und auf die Naht achtend – Stück um Stück nach oben zog.
Dort allerdings ergaben die Strumpfhalter (die „Strapse“) neue Probleme: irgendwie hingen sie nie dort, wo sie sein sollten – zogen den Strumpfrand keineswegs straff (bis ich ihn wutentbrannt einfach doppelt umkrempelte) – und waren dann auch nur mit Kunst richtig, nämlich durch kräftiges Reinschieben der vom doppelten Strumpfrand umwickelten Knöpfe in die Metall-Ösen, zu befestigen. Wenn ich eine Frau gewesen wäre, hätte ich schon lange etwas praktischeres für diese tägliche Arbeit erfunden, dachte ich – aber zunächst mußte man sich ja den herrschenden Sitten anpassen!

Nun kam das rotgestreifte Kleid, mit dem ich – glaubte ich – ja schon Erfahrung hatte: nur, wie ich alsbald merkte, Erfahrung ohne Busen! An diesen („üppigen“)Vorsprüngen verfing sich das enge Kleid nämlich jetzt unerwartet ganz gewaltig – und da ich auf der gleichen Höhe zur gleichen Zeit ungeschickterweise auch noch die Arme in dem knappen Stoffschlauch stecken hatte knackte es verdächtig in den Nähten, bis ich endlich aus dem Gewand wieder mit Kopf und Armen zum Vorschein kam.

Dann allerdings hatte ich auch den Lohn, der mich für alle Unbill entschädigte: Jetzt straffte sich das Oberteil erst richtig über meinen Mädchenbrüsten – und als ich mit einiger Eile, und noch auf bloßen Seidenstrümpfen, wieder zum Dielenspiegel lief, war ich von dem Anblick regelrecht überwältigt Hatte das vorhin – über meinem normalen Körper – schon recht appetitlich ausgesehen: so war es jetzt „ein Kleid, das ihre jugendlichen Formen betonte“ (so der Chronist Connys des Schönen) – und, wie ein Blick nach unten zeigte, waren auch die Beine in den „zarten Seidenstrümpfen“ einwandfrei mädchenhaft!

Wieder griff ich nach Tante Irmas Seidenschal, um ihn um den Kopf zu winden – aber dann überlegte ich es mir anders: jetzt sollte ich doch erst noch was für das make-up tun!

Leider stellte ich, als ich wieder im „Mädchenzimmer“ vor dem Wandspiegel stand, fest, daß ich darüber auch nicht gerade allzuviel wußte – eigentlich nur, daß man sich mit Lippenstift die Lippen rot machte und sich dann Nase und Wangen puderte. Ich tat erst das eine – und war verblüfft über die Veränderung, die so ein knallroter Mund bereits in meinem Gesicht auslöste; ich schmierte mir – mehr schlecht als recht – kräftig Puder auf Nasenspitze und Backen, stellte fest, daß ich danach mehr wie ein Clown als wie eine junge Dame aussah, und wischte den Überschuß mit der Puderquaste wieder breit. Jetzt allerdings wirkte das recht gut – machte das Gesicht zarter und weicher.

Und als ich nun einen von Fräulein Lieselottes Schals um den Kopf band, war der Effekt geradezu überwältigend echt! Wieder lief ich in die Diele vor den großen Spiegel – und holte tief Atem: d a s war jetzt aber wirklich eindeutig, überzeugend und zweifelsfrei eine ausgesprochen hübsche junge Dame, die mir da aus dem Glas entgegenblickte!

Natürlich – stellte ich fest, während ich mich kritisch in allen Einzelheiten betrachtete – sah ich als Dame einige Jahre älter aus: aber gerade um so viel, daß ich kein „Backfisch“ mehr war, sondern eine voll ausgewachsene Zwanzigjährige – und das war mir sehr recht, denn ich hatte es bereits leid genug, als Junge immer „noch nicht alt genug“ für dies und jenes zu sein: als Mädchen wenigstens wollte ich mal endlich „erwachsen“ (oder wie sagte man da? „voll erblüht“?) sein ! Wieder drehte ich mich hin und her – machte „mädchenhafte“ Gesten (oder was ich dafür hielt) – und spürte, wie mir allmählich das Blut in den Adern zu klopfen begann: jetzt war es endlich tatsächlich Wahrheit, was ich mir in unzähligen Tagträumen immer wieder ausgemalt hatte – ich hatte mich als Mädchen verkleidet! Und zwar als ausgesprochen hübsches Mädchen – mit „allem dran“ – und wie ich mich auch drehte und wendete, ich sah immer wie eine junge Dame aus und nicht mehr wie ein halbwüchsiger Junge!

Irgendwie stieg mir regelrecht ein kleiner Schwindel zu Kopf, und ich ließ mich in den Korbsessel in der Diele fallen. Ich sah auf meine Knie, die hübsch gerundet in den Seidenstrümpfen unter dem Rocksaum hervorschauten, und senkte den Blick noch weiter auf meinen falschen Busen, der sich stramm und provozierend hervorstreckte: wie ein Mädchen – aber wirklich alles wie bei einer junge Dame, einer von denen, die ich so oft neidvoll mit meinen Blicken verfolgt hatte.

Ich lehnte mich zurück und verschränkte die Arme im Nacken, spürte dabei, wie sich das Kleid fast bis zum Platzen über den unechten Brüsten spannte – kam dann plötzlich auf die Idee, daß ich mir das ja auch im Spiegel ansehen könne, wenn ich den Sessel dorthin rückte: entdeckte dort die Möglichkeit, die Beine mehr oder minder elegant übereinanderzuschlagen – und rannte dann, um die Sache perfekt zu machen, wieder nach oben, um die Sandalen anzuziehen.

Als ich jetzt die Treppe hinunterstieg, spürte ich bis ins Rückgrat den eigentümlich veränderten Takt, wenn man in Damenschuhen ging – und begann nun in der Diele vor dem Spiegel überhaupt das „mädchenhafte Gehen“ auszuprobieren, bei dem man (so hatte ich das irgendwo gelesen) versuchen mußte, die Füße hintereinander auf eine gedachte Linie zu setzen. Aber ob das wirklich richtig aussah, konnte man im Spiegel wieder nicht recht feststellen, weil man nach drei Schritten zu weit weg war, um die eigenen Füße noch ins Spiegelbild zu bekommen.

Es war alles ziemlich ungeschickt – aber ich hatte mich noch nie in meinem Leben so wohl gefühlt wie jetzt, da ich hier in Fräulein Lieselottes rotgestreiftem Fähnchen vor dem Spiegel posierte!

Eigentlich hätte ich ja nun einmal dieses Kleid wieder ausziehen und die anderen anprobieren können – aber war es nun die Erinnerung an das reichlich umständliche Überziehen des Kleids, oder das Faible, das ich schon immer für glatte Damenregenmäntel gehabt hatte: ich kam jetzt erst einmal auf die Idee, noch diesen Mantel – aus rötlichem, metallschimmernden Plastikstoff – überzuziehen. Als ich ihn vom Bügel nahm, entdeckte ich zu meiner Freude, daß unter ihm auch noch ein Kopftuch aus dem gleichen Plastikstoff hing: also konnte ich in diesem Regenkostüm auch noch den schon bewährten Kopftuch-Effekt weiter ausnutzen!

Dann aber auch gleich richtig, dachte ich und streifte die Sandalen ab, um auch noch die glatten schwarzen Regenstiefel überzuziehen. Sie saßen wie angegossen und umschlossen meine Füße in den glatten Seidenstrümpfen mit einem strammen, aber noch nicht unangenehmen Druck; da ihre Absätze etwas höher waren als die der Sandalen, hatte ich in ihnen, wie ich im Spiegel mit freudiger Überraschung feststellte, ausgesprochen zierliche, schmale Damenfüßchen.
Und der Mantel war phantastisch: Unter dem glatten, schimmernden Plastikmaterial zeichneten sich meine Mädchenbrüste, wenn ich den Stoff straff durch den Gürtel nach unten zog, aufregend gerundet ab – und das Plastik-Kopftuch umschmeichelte meine Wangen so glatt, daß mein Gesicht noch hübscher aussah als zuvor!

Fräulein Lieselotte hatte bei diesem Mantel nicht, wie bei den meisten anderen Kleidungsstücken, gespart: das konnte ich sehr genau beurteilen, weil ich nie an einem solchen Mantel in einem Schaufenster vorübergegangen war, ohne Machart und Preis gründlich zu studieren: Das hier war keiner von den billigsten Regenmänteln, die man um zehn oder zwanzig Mark bekam – nein, dieser Mantel hatte ein weites, schwingendes Unterteil, das beim Gehen angenehm um die Hüften und Knie raschelte – and oben ein ausgearbeitetes Oberteil, das den Busen ordentlich herauskommen ließ! Ich ging nochmal nach oben und holte mir auch noch den Plastikschirm – spannte ihn auf und paradierte damit vor dem Spiegel hin und her: jetzt war ich wirklich eine schicke junge Dame, wetterfest und modisch gekleidet, jederzeit bereit, im Regen spazierenzugehen!

Und wenn ich das jetzt wirklich täte ?!

Der Gedanke traf mich (das sagt man öfter, aber diesmal war es wirklich so) wie ein Schlag. Ich mußte tatsächlich erst einmal Luft schnappen, so unerwartet und gewagt – aber auch so reizvoll war der Einfall:

Es war schon ziemlich spät geworden – fast neun Uhr abends. Zu der Zeit waren bestimmt nicht mehr viele Menschen auf der Straße – erst recht nicht bei dem Regen, der zwar nachgelassen hatte, aber noch immer in feinen Tropfen gefallen war, als ich das letzte Mal aus dem Fenster gesehen hatte – und nicht in dieser ruhigen Vorstadtgegend. Daß mich also jemand aus der Nachbarschaft sah, wenn ich aus dem Haus ging oder zurückkam, war unwahrscheinlich. Und wenn schon: wußte denn jemand, wen Tante Irma gerade zu Besuch hatte ? Das konnte ja genau so gut auch eine junge Dame sein, die da wegging oder kam…

Und daß mich jemand auf der Straße anhalten oder ansprechen würde, war auch kaum zu erwarten, Wahrscheinlich würde ich noch nicht mal jemand begegnen – und wenn schon: was würde er sehen ? Eine hübsche junge Dame in Regenkleidung, die es eilig hatte, wieder irgendwo ins Trockene zu kommen!

Aber mal den schlimmsten Fall gesetzt, daß mich – na, sagen wir, die Polizei anhalten und nach meinem Ausweis fragen würde (den mußte ich natürlich mitnehmen): Was konnte mir schon passieren ? Ich hatte mir eben einen Jux gemacht. Wegen einer Wette. Oder um Bekannte oder Verwandte zu veralbern, Strafbar war das ja nicht – ich tat niemand etwas Böses, wollte auch nicht, wie der schöne Connny , Juwelen oder Geheimakten stehlen (was sowieso niemand von einem halbwüchsigen Jungen erwartet hätte); das Schlimmste könnte sein, daß man mir einen ernsten Verweis gab, solchen Unfug nicht zu wiederholen.

Aber warum sollte die Polizei eigentlich um neun Uhr abends im Regen eine harmlose junge Dame anhalten ? Doch höchstens, wenn ihr etwas an dieser jungen Dame verdächtig vorkam: Und sah ich irgendwie verdächtig aus ? Sah ich vielleicht gar wie ein verkleidetes männliches Wesen aus, das irgendwelche finsteren Pläne ausführen wollte ? Na also das zeigte mir ein Blick in den Spiegel: wenn ich aussah wie ein verkleideter Jüngling, dann sahen 50 Prozent aller wirklichen Mädchen noch viel verdächtiger aus!

Die Sache begann mich immer mehr zu reizen. Ich wünschte mir jetzt fast – nicht gerade eine Polizei-Kontrolle, aber ein paar Leute, die mir begegnen würden:: bloß um mal auszuprobieren, ob ihnen irgendwas auffallen würde! Daß ein kleines Risiko dabei war, machte dieses Experiment nur umso spannender: zumal das Risiko auch im ärgsten Fall keine ernste Sache war. Eher würden sich selbst die Polizisten amüsieren, daß da ein Jüngling als fesches Dämchen einherspazierte.

Trotzdem mußte ich dieses Risiko so klein wie möglich halten, Das hieß: ich mußte perfekt sein – so, daß niemand auch nur die Idee eines Verdachts kommen konnte! Was fehlte dazu noch ? Eigentlich nur noch eines, ohne das eine junge Dame schwerlich auf die Straße gehen würde: eine Handtasche Noch während ich das überlegte, stieg ich – zum wievielten Male an diesem Abend ? – ins Obergeschoß hinauf, um mir die Umhängetasche aus dem Schrank zu holen.

Und was noch ? Ach ja – Handschuhe wären noch ein hübsches Detail: Hände waren – hatte ich mal irgendwo gelesen – verräterisch, und wenn man sie unter glatten Damenhandschuhen verstecken konnte, sollte man auch dieses Risiko nicht laufen, Nur hatte Fräulein Lieselotte keine Handschuhe. Aber vielleicht Tante Irma?

Bei uns zuhause lagen Handschuhe immer in irgendeiner Schublade in der Diele herum. Hier war es glücklicherweise auch so: nach kurzem Suchen entdeckte ich ein Paar schwarze Damenhandschuhe aus schwarzem Nappaleder, die mir – natürlich, bei Tante Irmas Wurstfingern! -ohne weiteres paßten. Ich zog sie über, straffte das Leder nocheinmal zwischen den Fingern, wie ich das irgendwo gesehen hatte – sehr hübsch! Nun noch ein letzter Blick in den Spiegel: Kopftuch sitzt richtig – Stirnlocke schaut hervor – Tasche hängt flott über der Schulter – ach so, du dummer Hund, willst Du mit dem aufgespannten Regenschirm durch die Tür spazieren ? Zumachen – und draußen vor der Tür wieder auf!

So – der Vorsicht halber das Licht ausmachen (man braucht einen neugierigen Nachbarn nicht mit Gewalt aufmerksam zu machen!) – hast Du Deinen Ausweis? Ein paar Mark Geld – falls Du es brauchst? Und den Hausschlüssel?

Alles da. Ich straffte die Schultern – Bauch herein, Brust heraus (Brüste heraus!), tief Atem holen:
Und so ging ich zum erstenmal in meinem Leben als junge Dame auf die Straße.

Vielleicht hätte ich es lassen sollen: dann wäre vieles anders gekommen.

Zweites Kapitel: Spaziergang mit Folgen

„Er kam als Girl so echt geschlendert
als hätt er das Geschlecht geändert!”

Der Regen hatte fast aufgehört – aber die ganze Straße lag noch in glänzender Nässe und spiegelte die spärlich entlang der einsamen Straße verteilten Laternen wieder.

Ich hatte mich, als ich auf die Straße getreten war, erst einmal rasch nach rechts und links umgesehen – alles war völlig menschenleer. Dann hatte ich den Schirm aufgespannt (wenn ich ihn einmal mitgenommen hatte, wollte ich ihn auch aufspannen – und außerdem hatte ich dann wenigstens mit der einen Hand etwas zu tun: denn es wollte mir jetzt beim besten Willen nicht einfallen, was junge Damen auf der Straße mit den Armen machten: schlenkerten sie die beim Gehen hin und her ? Oder ließen sie sie reglos nach unten hängen? Das eine kam mir so unnatürlich vor wie das andere!) und erst einmal mit ein paar raschen Schritten – die ich aber doch möglichst mädchenhaft klein hielt – die Nähe der Haustür verlassen: falls jetzt jemand mich sah, konnte er lange überlegen, aus welchem Haus ich wirklich gekommen war …

Die Luft war nach dem Regen frisch und ziemlich kühl. Irgendwie war es ungewohnt, interessant und ein wenig erregend, zu spüren, wo eigentlich Luft an den Körper einer jungen Dame kam: da wehte es fremdartig kühl zwischen die Oberschenkel, die ja sonst wohlverpackt – selbst bei einer kurzen Männerhose – unter dickem Stoff steckten, jetzt aber nur von den dünnen Seidenstrümpfen umkleidet waren; andererseits war der Kopf unter dem Plastiktuch so ungewohnt eingepackt, daß sich sogar meine Schritte auf der Straße anders anhörten – oder lag das an der Art, wie ich den Fuß aufsetzte?

Machte ich das überhaupt richtig ? Jetzt, auf der harten glatten Straße und vor das Problem gestellt, wirklich mehr als drei Schritte zu gehen wie vorhin vor dem Spiegel, überfielen mich plötzlich die ärgsten Zweifel: Gut, ich bemühte mich, kleine kurze Schritte zu machen – und dabei die Füße möglichst hintereinander auf eine imaginäre Linie zu setzen (kam daher der Ausdruck „auf den Strich gehen“?! ) – aber irgendwie kam beim Aufsetzen des Fußes immer der ungewohnt hohe Absatz zuerst mit einem kleinen Ruck auf den Boden – und dann erst kippte die Fußspitze nach, War das in Ordnung ? „Ihre hohen Hacken klapperten auf dem glatten Marmor der Hotelhallee“ – na schön, aber klapperten sie, weil „sie“ zuerst mit den Hacken auftrat ? Wäre sie da nicht ganz schön auf dem glatten Marmor ausgerutscht?

Ich bemühte mich, den Fuß anders aufzusetzen – aber nach ein paar Schritten hatte ich dabei das Gefühl, wie ein Storch im Salat zu gehen. Zum Teufel, wie ging denn nun eine junge Dame wirklich?! Hm – wie kommen Sie mit ihren ganzen Beinen zurecht, Herr Tausendfüßler?

Wahrscheinlich war das, was ich da machte, die dümmste Methode: wenn es eines gab, was eine junge Dame beim Gehen ganz bestimmt nicht tat – dann war es, bei jedem Schritt zu überlegen, wie sie gehen müsse! Ich entschloß mich, es darauf ankomrnen zu lassen: wenn ich nur darauf achtete, die Schritte etwas kürzer wie gewohnt zu machen – und im übrigen vor allem daran dachte, daß ich eine hübsche junge Dame sei, die an einem kühlen Abend, mit verständlicher Eile, irgendwo hin gehen wollte: dann würde ich auch, eher jedenfalls als mit allen Experimenten, den richtigen Gang herausbekommen!

Aber wohin wollte die junge Dame denn eigentlich?

Bis jetzt war ich erst einmal einfach die Straße entlanggegangen. Aber die war ja zweifellos irgendwo einmal zuende. Sollte ich dann einfach kehrt machen und wieder heimgehen? Das gefiel mir ehrlich gesagt gar nicht: irgendwo wollte ich ja nun doch – natürlich in gebührender Distanz – an irgendeinem anderen Menschen vorbeikommen und, wenigstens aus der Ferne, wirklich für eine junge Dame gehalten werden!

Besonders gut kannte ich mich in der Gegend zwar nicht aus. Aber in der Nähe der Autobus-Haltestelle, an der ich heute morgen – so kurze Zeit war das erst her, und da hatte ich noch nicht geahnt, daß ausgerechnet Tante Irma mir meinen jahrelangen Traum erfüllen würde! – ja, also dort, wo ich heute morgen ausgestiegen war, gab es wenigstens ein paar Läden mit Schaufenstern: und da sowohl Bushaltestellen wie Schaufenster für Leute da sind, mochte wohl dort auch die Chance am größten sein, an irgendwelchen Leuten vorbeizukommen!
Also – wie war das gewesen: in der richtigen Richtung ging ich zweifellos schon – Tante Irmas Haus lag ziemlich am Ende der Straße. Dann war ich links um die Ecke gebogen – also mußte ich jetzt, in entgegengesetzter Richtung, rechts abbiegen, Das war auch noch eine Straße mit Wohnhäusern – größeren mehrstöckigen zwar; und die mündete dann auf die eigentliche Verkehrsstraße, die nach links in die Stadt führte – nach rechts, wenn ich mich richtig erinnerte, dagegen in ein Gebiet, das zur Zeit erst bebaut wurde. Irgendwo ganz hinten mündete sie – nach einem kleinen Waldstück – dann in einen Ort, der neuerdings in die Stadt eingemeindet worden war. Na ja, bis dorthin wollte ich gewiß nicht marschieren – aber da führte die Autobus-Linie hin, die an der Haltestelle stoppte: „Törn“ oder so ähnlich hieß der Ort.

Hinten an der Ecke, wo die jetzige Straße auf die Hauptstraße mündete, lag ein Restaurant. Anscheinend – nach dem Eingang und dem großen Transparent zu urteilen – keine einfache Gastwirtschaft, sondern schon etwas „Gehobeneres“: „Fichtenhof“ oder so ähnlich. Ich war vielleicht hundert Meter von der Ecke entfernt, als die Tür des Lokals sich öffnete und eine ganze Gesellschaft – drei Pärchen schienen es zu sein – herauskam.

Du gehst stur weiter, befahl ich mir, Du bist eine junge Dame auf dem Heimweg, und diese Leute interessieren Dich so gut wie gar nicht. Denk überhaupt nicht an sie – denk daran, daß Du jetzt schon eine Viertelstunde zu spät dran bist, und daß – na ja nun, wer ? Deine Mutter, Deine Tante, Dein Mann ( ja, warum zum Teufel sollte ich nicht jung verheiratet sein ?!) – also daß Dein Mann sowieso schon auf Dich wartet –

Jetzt war ich bis auf ein paar Meter an die Gruppe herangekommen, Sie machten aus dem Heimgehen einen furchtbaren Umtrieb, die drei Frauen – übrigens hatte keine von ihnen einen so schicken Regenmantel wie ich: – drängelten sich unter dem überdachten Eingang, während einer der Herren mit viel Umstand ein Auto aus einer Parklücke herauszumanövrieren suchte und die beiden anderen etwas gelangweilt herumstanden.

Ich rauschte – eilige junge Dame mit züchtig kurzen, aber schnellen Schritten – knapp einen halben Meter an dem einen von ihnen vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen; dann fiel mir ein, daß soviel Desinteresse nun auch schon wieder unnatürlich war – und ich warf, natürlich ohne den Kopf zu wenden, wenigstens einen Blick auf den anderen, Er war ihn, wie ich feststellte, kaum wert: ein blaßblonder junger Mann mit einem runden, (vielleicht vom Alkohol) hochroten Kopf – und da er sich auch noch gerade in diesem Augenblick zu den Frauen unter dem Eingangsdach umdrehte, konnte ich wirklich nicht feststellen, ob er mich überhaupt mit Verstand gesehen hatte.

Das ärgerte mich irgendwie: und deshalb drehte ich – freilich ohne im Gehen zu zögern – nun doch den Kopf wenigstens zu den Frauen und schaute sie einen Moment lang an: eine war strohblond und ziemlich dick, die andere rothaarig und hager, die dritte allerdings auffallend hübsch, mit langen schwarzen Locken. Wenn die drei mich allerdings zur Kenntnis nahmen (und angeblich sieht jede Frau jede andere, die an ihr vorbeigeht, kritisch an): dann ließen sie es sich nicht anmerken. Bestimmt jedenfalls stieß keine von ihnen die andere an und fragte: Du, geht da nicht ein verkleideter Mann?!

Dennoch hatte ich das Gefühl, Blicke im Rücken zu spüren, als ich mich wieder von der Gruppe entfernte – aber es machte mich nicht nervös: der schimmernde Regenmantel umschloß mich wie ein Zauberpanzer, dem die kritischsten Blicke nichts anhaben konnten…

Ich bog um Ecke. Jetzt, da mich die Gruppe nicht mehr sehen konnte, verminderte ich mein Tempo ein wenig – hier waren nun ja auch schon ein paar Schaufenster, in die ich einen Blick werfen wollte:

Ein Radiogeschäft – Fernsehapparate, Stereogeräte mit Knöpfen und Skalen wie Computer in Teakholz, Autoradios – wenig interessant für eine junge Dame. Ein Selbstbedienungsladen mit groß plakatierten Sonderangeboten – wenn ich eine Ahnung gehabt hätte, ob drei Mark fünfundvierzig für ein Pfund Rinderbraten billig oder teuer war! Aber wahrscheinlich würde eine jungverheiratete Frau – die Rolle faszinierte mich inzwischen ein wenig – als tüchtige Hausfrau so etwas mit Interesse zur Kenntnis nehmen: allerdings nicht mit soviel Interesse, daß sie extra stehenblieb Das war beim nächsten Geschäft – drei Häuser weiter – schon wahrscheinlicher: ein Schuhgeschäft mit Stiefeln, Schuhen, Sandalen – „die Frühjahrsmode für den Fuß“ – da konnte man einen Augenblick stehenbleiben und die Modelle und Preise betrachten.

Hinten an der Haltestelle hielt der Autobus. Ein paar Leute stiegen aus und kamen die Straße herunter, Ich kalkulierte einen Augenblick: sollte ich die hier erwarten und an mir vorbeigehen lassen? Nein, das dauerte zu lange – so ewig blieb kein vernünftiger Mensch an einem Schaufenster stehen, Also weiter, marsch – aber schön langsam, denn ich wollte schon gern vor einem hellerleuchteten Schaufenster stehen, wenn diese Leute an mir vorbeigingen.

Na – da kam ja auch das Richtige: ein Mieder– und Wäschegeschäft. Da konnte sich eine Frau schon ein paar Minuten in den Auslagen verlieren – und das waren ja auch wirklich verdammt raffinierte Sachen: dieses gelbe Nachthemd mit den schwarzen Spitzen und dem dazu passenden Negligé – oder das rote dort drüben! – und dann diese Büstenhalter und Korsettchen und Strumpfhaltergürtel (nein, „Strapsgürtel”!) – oder im anderen Fenster die Bademoden: Bikinis und Einteilige mit unerwarteten Öffnungen, die mit schwarzem Wollnetz überspannt waren, Badehauben mit Blumengärten aus Gummi – oder hinten heraushängenden falschen Locken – da brauchte ich nicht wie beim Supermarkt weibliches Interesse zu heucheln, das interessierte mich ja wirklich, vielleicht mehr als manche Frau!
In dem Schaufenster mit den Badeanzügen war eine mit Spiegeln umkleidete Säule: ausgezeichnet, um – während ich die Auslagen zu studieren schien – auch die Passanten zu beobachten. Erst kamen zwei junge Mädchen – furchtbar jung, fast noch Kinder – die sich kichernd irgendwas zu erzählen hatten und mich anscheinend darüber völlig übersahen, Dann ein junges Paar – der Mann offenbar völlig mit seiner Begleiterin beschäftigt. Aber der nächste, ein junger Mann in einem Trenchcoat, wandte sogar nocheinmal den Kopf nach mir um, als er schon vorüber war!

War jetzt irgendwas nicht in Ordnung an mir – oder war „zu viel“ in Ordnung?! Ich spürte jetzt doch ein bißchen Nervosität, als der nächste Passant – ein älterer Herr mit einem schlohweißen Bürsten-Schnurbart und einer Hornbrille – mich auch ausgesprochen interessiert musterte: sooo sensationell konnte ja nun eine junge Dame, die sich ein Schaufenster ansah, auch wieder nicht sein?!

Dann kamen zwei altere Damen – Typ Tante Irma – die in der Tat auch vor dem Schaufenster haltmachten (warum, wußte der Himmel – von all den ausgestellten Sachen paßte für sie bestimmt nichts!). Sie unterhielten sich dabei ungeniert – allerdings war nicht festzustellen, worüber: nur „daß es eine Schande sei“ und „man sich ja geradezu genieren müsse”. Meinten sie nun die Modelle im Schaufenster? Anscheinend nicht, denn für die hatten sie zwischendurch lobende Worte – „die Ida hat auch so einen – für Teneriffa jetzt“; oder warfen sie tatsächlich verstohlene Seitenblicke auf mich?!

Aber wieso zum Teufel? Natürlich mochte es nach Meinung solcher Klatschtanten eine Schande sein, wenn ein männliches Wesen in Mädchenkleidung spazierenging – eventuell „genierten sie sich geradezu“, wenn sie so etwas sahen: aber wenn sie keine Röntgenaugen hatten, dann konnten sie doch nicht in den zwei Minuten, die sie mich überhaupt gesehen hatten, bereits endgültig mein wahres Geschlecht festgestellt haben? Sooo unmöglich sah ich doch nun bestimmt nicht aus: da hätte man die hagere Rothaarige vorhin am Lokal weitaus eher für einen verkleideten Mann halten können als mich!

“- auch so eine von denen?” hörte ich die eine der beiden – offenbar etwas lauter als beabsichtigt – noch murmeln, als ich mich kurz entschlossen abwandte und weiter die Straße hinunterzustiefeln begann: ewig konnte ich ja sowieso nicht vor dem Schaufenster stehenbleiben!

Hatten die jetzt mich gemeint? Und wenn ja, in welchem Sinn? „Eine von denen“ deutete ja nicht gerade darauf hin, daß sie mich nicht für ein weibliches Wesen hielten – wenn sich das auf mich bezog: aber „eine von welchen“? Eine von denen, die Regenmäntel trugen? Das war ja keine ”Schande”. Eine von denen, die sich Schaufenster ansahen? Das taten die Tanten, ohne sich zu „genieren“, ja selbst. Also eine von denen, die abends spazierengingen? Das taten die Ollen doch auch – allerdings, ohne dabei von Männern angestarrt zu werden…

Ich war unbewußt immer schneller gegangen und kam jetzt schon in die Nähe der Haltestelle, Dort standen immer noch – in ein tiefsinniges Gespräch mit einem Freund versunken, der sie anscheinend mit dem Fahrrad erwartet hatte, einige halbwüchsige Jungen – erheblich jünger als ich. Als sie mich herankommen sahen, drehte sich der eine um, murmelte den anderen etwas zu, und alle brachen in unterdrücktes Gelächter aus.

Ich brauchte wirklich meine ganzen Nerven, um unbeirrt weiterzugehen – hing mir irgend etwas verkehrtes heraus? War das Kopftuch verrutscht? Oder was fanden diese Jungens an mir so komisch?!

„Hallo – Törner Wald!“ rief einer von ihnen mit kicksender Stimme, worauf die anderen in erneutes Gelächter ausbrachen.

Was zum Teufel war nun das wieder?! Offenbar nichts an mir oder meiner Kleidung: „Törner Wald“ war wahrscheinlich das Waldstück, das da die Straße hinunter auf dem Weg nach Törn lag. Aber was war am Törner Wald so Lustiges – insbesondere in Verbindung mit mir? Beziehungsweise mit einer jungen Dame mit Schirm und Regenmantel, die abends zu einer Autobushaltestelle kam?

Es mißfiel mir irgendwie, noch weiter auf diese albernen Kerle zuzugehen. Aber kehrt machen und gewissermaßen vor ihnen davonlaufen wollte ich natürlich erst recht nicht! Also machte ich eine kühne Schwenkung zur gegenüberliegenden Straßenseite, wo die Bushaltestelle zur Stadt lag.

Was ich dort sollte oder wollte, war mir zwar auch nicht klar – aber zumindest war es eine elegante Art, den Jungens da auszuweichen. Drüben angekommen, fiel mir nichts Besseres ein, als die Tafel mit den Abfahrtszeiten zu studieren: Nicht, daß ich ernstlich Autobus hätte fahren wollen – obwohl die Idee gar nicht so ohne Reiz gewesen wäre – aber was kann man schon an einer Bushaltestelle viel anderes tun als schauen, wann der nächste Bus fährt?

“ ’s is Feier-ooohmt, ‘s is Feier-ooohmt, die AAAhrbeit is vollbracht!“ grölten die Jungens drüben auf einmal im Chor und warfen mir dabei verstohlene Blicke zu.
Wieso hatten die jetzt plötzlich ihren Sinn für schlesische Volkslieder entdeckt?

Jedenfalls hatte ich keine Lust mehr, mich von diesen Spaßvögeln weiter anpflaumen zu lassen! Ich warf noch einmal einen Blick auf die Tafel an der Haltestellensäule – konsultierte dann pantomimisch meine Armbanduhr (in Wirklichkeit hatte ich gar keine um), zuckte die Achseln („Dauert mir zu lange“) und ging davon – wieder in meine alte Richtung zurück.

Dabei versuchte ich, mir einen Raum auf die bisherigen, etwas seltsamen Vorgänge zu machen: Daß jemand Feierabend macht – meinetwegen auch erst um halb zehn Uhr abends – weil er seine Arbeit vollbracht hat, ist ja nun auch nicht so arg spaßig: selbst wenn diese Arbeit irgendwo in der Gegend des Törner Waldes – was immer das im einzelnen sein mochte – stattfand. Auch schändet Arbeit – meinetwegen Schichtarbeit mit Schluß um neun Uhr Abends -nicht und veranlaßt auch niemand, sich zu genieren, wenn er eine solche Arbeiterin sieht.

Es sei denn – und damit begann ein Gefühl ungeheuren Spaßes in mir aufzusteigen – wenn diese Arbeit von einer ganz bestimmten Art ist, die überwiegend von Damen im Freien ausgeübt wird: ich konnte es zwar noch immer nicht recht glauben – aber die hielten mich für eine Nutte! Eine Nutte, die ihre „Schicht“ am Törner Wald – anscheinend ein Begriff für alle (wir hatten zuhause auch so Gegenden am Stadtrand, wo beschäftigungslose Damen am Rain einer Autostraße herumstanden) – beendet hatte und nun, zum Ärgernis der braven Bürger, durch moralisch einwandfreie Straßen heimtrippelte!

Wenn das so war – und anders konnte ich mir diese ganzen seltsamen Reden tatsächlich nicht erklären: dann – ich mußte mich tatsächlich innerlich vor Lachen schütteln – bezweifelten die meine Weiblichkeit keineswegs, sondern dachten vielmehr gerade das Gegenteil! Konnte ich mir einen schöneren Triumph für die „Echtheit“ meiner Aufmachung vorstellen?!

Was mochten die sich denn nun alle nur so im Einzelnen gedacht haben: der junge Mann km Trenchcoat ? Wieviel die wohl für einmal nimmt ? Ob die’s gut kann? Stramme Titten hat sie ja – was die wohl für ’ne Möse hat? Oder der alte Lustmolch mit dem Schnurbart: Ob der überlegt hatte, ob er nicht doch auch mal ’nen Abendspaziergang zum Törner Wald machen sollte? Vielleicht sogar – wegen mir? Und die Klatschtanten: weit entfernt davon, die Wahrheit zu ahnen, hatten die mich „mit dem untrüglichen Instinkt der erfahrenen Frau“ sofort als „eine von denen“ identifiziert! Nein war das köstlich!!

Ganz durchschaute ich allerdings damals die Zusammenhänge doch noch nicht. Der eigentlich springende Punkt an der Sache war nämlich der: durch die Eingemeindung Törns waren die Sperrbezirke, die eine löbliche Stadtverwaltung für die Tätigkeit dieser Damen festgelegt hatte, verschoben worden – mit dem Effekt, daß angestammte Plätze verwaisten und dafür andere, wenn auch zunächst recht illegal und probeweise, ins Geschäft zu kommen begannen. Speziell entlang der Autostraße nach Törn begann sich die Front der Sünde allmählich stadteinwärts zu verschieben – die abends unbelebten Baustellen vor dem Törner Wald boten da so manches verschwiegene Eckchen – so daß die Entrüstung der alten Tanten über das Auftauchen einer kessen Puppe mitten in ihrem Wohnbezirk gar nicht so unverständlich war.

Dagegen gab ich mich ganz dem prickelnden Gefühl hin, das meine Entdeckung in mir auslöste: Ich – eine Nutte ! Keineswegs also eine brave Ehefrau, die heim zu ihrem Mann eilte – im Gegenteil, eine gar nicht brave Stundenfrau, die von (wer weiß wie vielen!) Männern zurückkam! Was die mir so alles zutrauten – da mußte ich doch wirklich höchst naturgetreu aussehen…

In meinen Gedanken hatte ich gar nicht darauf geachtet, wie weit ich inzwischen schon auf der anderen Straßenseite weitergegangen war – ich schreckte erst auf, als ich neben mir überhaupt keine Häuser mehr sah. Ich mußte schon längst an der Einmündung der Straße, die nach Hause führte, vorüber sein!

Ich ging unwillkürlich etwas langsamer, als ich jetzt versuchte, mich wieder zu orientieren: rechts von mir war ein Grasstreifen, und dahinter in einigen Metern Abstand ein Drahtzaun, hinter dem sich irgendwelche nur unklar zu erkennenden Stapel abzeichneten – ein Lagerplatz? Oder schon eine von den Baustellen, die da nach Törn zu lagen? Und links, auf der anderen Straßenseite, lag zwar ein langgestrecktes Gebäude, aber ohne Fenster – eine Art Lagerhalle oder Fabrikgebäude? Jedenfalls ging ich hier entschieden verkehrt! Es war ganz natürlich, daß ich mich jetzt nach links über die Schulter umsah, ob ich eigentlich dort hinter mir irgendwo die Leuchtschrift des „Fichtenhofs“ entdecken könne, an dem ich offenbar in Gedanken vorbeigelaufen sein mußte.

Nur konnte man unglücklicherweise mein langsameres Schlendern und diesen Blick über die Schulter auch völlig anders interpretieren! Das merkte ich allerdings erst, als plötzlich ein Auto, das bisher ganz normal die Straße entlang gefahren war, sein Tempo verlangsamte und scharf rechts an den Gehsteig heranfuhr Jemand kurbelte die Scheibe herunter, und eine gemütliche Männerstimme fragte:
„Na Frolleinchen – wohin denn so alleine?“

Was ich in dem Moment dachte, konnte ich mir auch später nicht mehr ganz zurechtsortieren – aber automatisch beschleunigte ich meine Schritte, starr geradeaus sehend, wieder. Die Idee, die dem zugrundelag, war wohl, dadurch anzudeuten, ich sei keine „von denen“ – sondern vielmehr ein anständiges Mädchen, das es eilig habe, nach Hause zu kommen. Das war soweit schon in Ordnung – nur hatte es einen entscheidenden taktischen Fehler: Ich strebte nämlich in solcher Eile keineswegs den Wohngebieten anständiger Mädchen entgegen – sondern vielmehr dem Törner Wald, dem Revier der weniger anständigen Mädchen!!

Und genau so faßte das der Mann im Auto seinerseits auf: wahrscheinlich auch nicht ganz im Klaren darüber, wo denn nun das „jagdfreie“ Gebiet der Törn Waldnymphen wirklich beginne, unterstellte er wohl in schönem Optimismus, ich wolle bloß noch etwas weitergehen, um dann in Ruhe in nähere Verhandlungen mit ihm eintreten zu können – und fuhr am Straßenrand im Schrittempo hinter mir her!

Ich spürte seinen Blick geradezu im Rücken, während ich mit steifem. Rückgrat weiter so schnell wie möglich die Straße hinuntertrippelte. Dabei wurde mir kühl und schwül zugleich – und das Herz klopfte mir ‚ nicht nur vom schnellen Gehen bis zum Halse: ich war mir jetzt klar darüber, daß ich genau in die verkehrte Richtung lief – aber wenn ich jetzt kehrt gemacht hätte: mußte der Freier im Auto das nicht erst recht für ein Eingehen auf seine Absichten halten? Er fuhr immerhin so weit hinter mir, daß er ohne weiteres Zeit gehabt hätte, dann auch noch einladend die Tür zu öffnen oder gar auszusteigen!

Nach rechts vom Gehsteig konnte ich auch nicht weg – da war nach zwei Metern der blödsinnige Drahtzaun. Die einzige Möglichkeit, die ich sah, war noch die: rasch – und möglichst ohne daß man meine Absicht vorher erkennen konnte – die Straße zu überqueren und dann auf der anderen Seite eilends, am besten sogar in undamenhaftem Laufschritt; wieder in belebtere Gegenden zu gelangen!

Erstens, dachte ich, würde das dem fehlgeleiteten Freudensucher im Auto – unmißverständlicher als jetzt – zu verstehen geben, daß ich nichts mit ihm im Sinn hatte; und selbst wenn er das nicht verstehen sollte oder wollte, hätte er sein Auto erst wenden müssen, um mir auf der anderen Straßenseite und in entgegengesetzter Richtung zu folgen – was ihn jedenfalls (da er aller Voraussicht nach kein waghalsiger Auto-Gangster, sondern ein im Grunde braver Verkehrsteilnehmer war) etliche Zeit aufgehalten hätte: lange genug jedenfalls, um mir einen guten Vorsprung zu sichern.

Was ich bei diesem an sich ganz logischen Plan nicht bedachte, war, daß auch der Mann im Auto sich, während er da die Törner Straße entlangstrebte, seine Gedanken machte: wollte sie nun – oder wollte sie nicht ? So im Schrittempo hinter der enteilenden Schönen herzuzuckeln, war ja wirklich im Grunde albern – jetzt wollte er endlich wissen, woran er war!

Zu diesem Zwecke beschloß er, mich in einem raschen Spurt zu überholen und dann – ein paar Meter vor mir – anzuhalten, um die Sache, gewissermaßen Auge in Auge, endgültig zu klären.

Daß wir beide unsere Pläne genau im gleichen Moment die Tat umsetzten, hätte beinahe zu einer Katastrophe geführt, auf die keiner von uns vorbereitet war: Genau, als der Autofahrer durchstartete, sah er mich plötzlich völlig unerwartet direkt vor seinem Kühler auf die Straße stürzen – und ich sah seine Scheinwerfer wie die feurigen Augen eines gierigen Untiers auf mich losschießen!

Glücklicherweise – denn bremsen hätte er auf die kurze Entfernung kaum mehr rechtzeitig können! – hatte ich die Geistesgegenwart, mich mit einem völlig unmädchenhaften Satz auf die andere Straßenseite zu retten: dort allerdings kam ich mit meinen Gummistiefeln auf dem regenglatten Asphalt hoffnungslos ins Schliddern – und landete der Länge nach im Rinnstein.

Daß bei alledem auch noch ein Hund wie irr angefangen hatte zu kläffen, kam mir erst zum Bewußtsein, als ich – nachdem ich einige lange Sekunden tief atmend auf allen Vieren verharrt hatte, eine sympathische Männerstimme sagen hörte:
„Ruhig, Strupps, verdammt nochmal, ruhig!“ Und dann besorgt:
„Haben Sie – äh – ist Ihnen etwas passiert?!“

Ich hob den Kopf (da ich noch immer auf allen Vieren dalag, muß ich dabei wohl wie eine dressierte Sphinx im Plastikregenmantel ausgesehen haben) und schüttelte ihn schwach. Dann zog ich ein Knie an und versuchte, mich aufzurichten.

„Warten Sie – ich helfe Ihnen!“ Eine kräftige Hand streckte sich mir entgegen, Sie gehörte zu einem jungen Mann in einem blauen Nylonregenmantel, an dessen anderer Hand; mit kurzgefaßter Leine, ein noch immer aufgeregter Foxterrier zappelte.

„Danke – es geht schon!“ hörte ich mich sagen, während ich mich dankbar von dem kräftigen Männerarm emporziehen ließ.

Später wurde mir klar, daß ich in diesem Moment ein Problem gelöst hatte, das mir vorher die schlimmsten Sorgen gemacht hatte: das der Stimme, Ich war fest entschlossen gewesen, unterwegs kein Wort von mir zu geben, um mich nicht durch eine undamenhafte Stimmlage zu verraten – denn der Versuch, mit „hoher“ Stimme zu sprechen, hatte nur ein klägliches Kicksen geliefert; aber in diesem Augenblick war ich noch so durcheinander, daß ich alle guten Vorsätze vergaß und einfach zu reden begann.

Nun sprach ich ganz gewiß nicht im Sopran – aber, wie jedermann am Telefon oder im Radio hören kann, tun eine ganze Menge Mädchen das auch keineswegs, sondern haben eine tiefere, manchmal sogar ausgesprochen jungenshafte Stimme: was ihnen aber nicht die geringsten Sorgen macht, weil sie ja wissen, daß sie Mädchen sind (die Sorgen beginnen erst, wenn man keins ist!). Natürlich sind solche Stimmen trotzdem weich – aber genau die Situation, in der ich meine ersten Worte sagte, entschuldigte jede Heiserkeit oder Rauheit, die jemand vielleicht sonst aufgefallen wäre. So stutzte denn auch mein unerwarteter Helfer keineswegs, sondern war offensichtlich nur erleichtert, daß ich wieder auf den Beinen stand.

Mein erster Griff, als ich jetzt wieder etwas klarer dachte, war allerdings zum Kopftuch: saß das noch richtig? Für meinen Helfer, der ja nichts von meinen speziellen Problemen ahnte, muß es allerdings mehr so ausgesehen haben, als habe sofort die sprichwörtliche weibliche Eitelkeit wieder die Oberhand gewonnen, wie ich da sofort Frisur und Kopfschutz kontrollierte!

„Alles in Ordnung ?“ fragte er, noch immer Besorgnis in der Stimme. Ich nickte – stumm, denn inzwischen war mir das ganze Tonlagenproblem plötzlich siedendheiß wieder bewußt geworden – und versuchte zum Ausgleich ein schüchternes, dankbares Lächeln: wobei ich instinktiv – wenn auch aus den völlig verkehrten Gründen! – genau das tat, was auch jedes echte junge Mädchen in dieser Situation getan hätte.

„Hier – Ihr Schirm“ Er bückte sich und sammelte den noch immer aufgespannten Schirm, den ich beim Sturz losgelassen hatte, aus dem Rinnstein auf.

“Wie ist denn das passiert ?“ fragte er, während er mir den Schirm wieder in die Hand drückte.

Ich schob erst einmal das Band der Umhängetasche, das mir auf den Arm heruntergerutscht war, wieder über die Schulter. Jetzt mußte ich ja – verdammt noch einmal – etwas antworten, wenn ich ihn nicht wirklich stutzig machen wollte. Aber wie? Jetzt hohe Töne zu versuchen, hätte bestimmt eine weitere Katastrophe gegeben!

Er sah mich noch immer fragend an, mein Zögern wohl als Verlegenheit auslegend.

ch faßte einen Entschluß: wenn ich ziemlich tonlos sprach, kam die Tonlage kaum zum Tragen – und so hauchte ich:
„Der Mann – da im Auto – hat mich belästigt – “ (was wiederum, ausversehen, so „rollenecht“ herauskam, daß ich es auch nach langen Proben nicht besser geschafft hätte!)

„Auto ?“ wiederholte er und sah die Straße hinunter, die jetzt menschenleer dalag.

„Der hat sich schnellstens verdrückt!“ stellte er kopfschüttelnd fest. „Man sollte die Kerle doch – „

Er unterbrach sich und sah mich wieder vor ober bis unten an:
„Und Ihnen ist wirklich nichts passiert ?“

Das hatte ich inzwischen auch überprüft: Ich hatte mal wieder mehr Glück als Verstand gehabt. Im Dreck war ich zwar gelandet – aber das ließ sich von Mantel und Handschuhen leicht wieder abwaschen; die Handschuhe hatten auch verhindert, daß ich mir die Hände irgendwie aufgeschunden hätte. Mit dem rechten Schienbein war ich zwar gegen die Bordkante gerammt – aber das hatte wiederum der Regenstiefel aufgefangen –

„Laufmaschen – “ hauchte ich wieder und versuchte dazu erneut ein Lächeln. Es muß entzückend mädchenhaft gewirkt haben.

„Laufmaschen!“ wiederholte mein Retter ernsthaft, als sei dies nun in der Tat eine Mitteilung, die ihn zutiefst erschüttere. Dann gab er sich – selbst für mich spürbar – innerlich einen Ruck und sagte bestimmt: „Ein Mädchen wie Sie sollte wirklich nicht um diese Zeit allein hier herumlaufen! Wenn es Ihnen recht ist, dann begleite ich Sie lieber den Rest des Weges!“

Ich schlug die Augen nieder. Wie werde ich den jetzt bloß wieder los, dachte ich fieberhaft.

„Aber nein – das ist wirklich nicht nötig -“ protestierte ich, aber wegen der verdammten Stimmlage wieder so tonlos, daß man es beim besten Willen nicht ernst nehmen konnte.

Und das tat er denn auch nicht:
“Doch, doch – hier treiben sich neuerdings die seltsamsten Gestalten herum!”

Zum Beispiel Jünglinge in Damenregenmänteln, mußte ich unwillkürlich im Stillen denken!) “Es ist wirklich kein Problem – ich führe sowieso bloß Strupps spazieren! Wohin wollten Sie denn?”

“Also gut -” gab ich nach (ich konnte in diesem Flüsterton ja keine endlosen Dialoge mit ihm halten) “bis zum Fichtenhof – da an der Ecke – von da komme ich dann schon allein weiter -”

Wenn mein Begleite beobachtet hatte, daß ich vorher sehr energisch in die genau entgegengesetzte Richtung gestrebt war – dann überging er das jedenfall jetzt mit Stillschweigen. Er trat galant auf meine linke Seite (ich war ja jetzt eine Dame mit all deren Privilegien!) und wir brachen auf.

Es war irgendwie ein angenehmes Gefühl, als ritterlich beschütztes Mädchen neben einem netten Herrn zu gehen – denn nett war der junge Mann zweifellos: mit einem intelligenten, offenen Gesicht – eher ein bißchen schüchtern als allzu forsch – aber mit einer von Herzen kommenden Hilfsbereitschaft und erstklassigen Manieren. Ganz bestimmt interessierte ihn diese junge Dame, die er da aus dem Rinnstein aufgelesen hatte, verständlicherweise auch – aber statt sie mit den Augen halb auszuziehen, wie der junge Kerl im Trenchcoat vorhin, ging er sittsam neben mir her, seinen Strupps an der Leine, und wandte den Kopf zurückhaltend gerade nur so weit zu mir, wie es erforderlich war, um höfliche Konversation zu machen:

“Das muß ein ganz schöner Schreck für Sie gewesen sein – hat Ihnen denn niemand gesagt, daß man hier neuerdings ein bißchen vorsichtig sein muß, wenn man abends allein spazierengeht?”

Konversation nun war allerdings gerade das, worauf ich keineswegs erpicht war – ich hatte noch immer ständig Angst, daß mir ein falscher Ton herausrutschen könnte – aber nur mit Kopfschütteln und Nicken kan ich ja auch nicht durch! Ich mußte mich eben darauf verlassen, daß er eine unerwartete Rauheit der Stimme noch der soeben zitierten Aufregung zugutehalten würde…

“Ich bin ja nur für ein paar Tage hier zu Besuch!” gab ich kund.

“Dann müssen Sie ja einen schönen Eindruck von unserer Gegend bekommen haben! Sie müssen nämlich wissen – “

Mit vorsichtigen Umschreibungen, um meine (von ihm selbstverständlich unterstellten) keuschen Gefühle nicht zu verletzen, bemühte er sich, mir zu erklären, inwiefern man hier die anständigen Spaziergängerinnen nicht mehr so leicht von den weniger anständigen unterscheiden könne – was ich mir nicht allein der Information halber gern anhörte, sondern auch, weil es mir erlaubte, mit gelegentlichem Nicken, “ach” und “ah so” die Strecke bis zum Fichtenhof zu überbrücken, ohne zu langen Antworten verpflichtet zu sein.

Als wir vor dem Lokal angekommen waren, blieb ich stehen:
“Vielen Dank, das war wirklich sehr nett von Ihnen – “ begann ich mich zu verabschieden – aber da ich in meine hauchzarten Worte überhaupt keinen bestimmten Ton legen konnte, überging mein Begleiter das großzügig:
“Aber das kommt gar nicht in Frage – jetzt will ich auch wissen, daß Sie wohlbehalten zuhause angekommen sind!” erklärte er liebenswürdig, aber nachdrücklich. Ich war nicht ganz überzeugt, daß es nur Pflichtbewußtsein war, das ihn antrieb – zusätzlich wollte er wohl auch gern herausfinden, wo ich wohnte: und genau das wollte ich natürlich nicht!

Aber – ein Mädchen zu sein, ist in solch einem Falle ein schweres Handicap: und erst recht, ein Mädchen zu sein, das sich nicht trauen darf, ein lautes Wort zu sagen!

Ich neigte also ergeben meinen Kopf – und wir gingen weiter. Daß ich jetzt um die Ecke zu biegen beabsichtigt hatte, war leicht zu erraten – also schwenkte er ganz selbstverständlich neben mir in die Seitenstraße ein. Nachträglich wurde mir klar, daß dieses stete hauchzarte Protestieren, gefolgt von sofortigem Nachgeben, typisch wie die Koketterie eines wohlbehüteten “Mädchens aus besseren Kreisen” wirken mußte – etwas unzeitgemäß, aber dafür umso reizvoller! Deshalb wurde mein Begleiter – in seiner zurückhaltenden Art – wahrscheinlich auch immer kühner:

“Dort drüben – “ er zeigte auf den Eingang eines modernen Hauses, “wohne ich übrigens!” Er unterbrach sich: “Oh, verzeihen Sie, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt: Alexander Mertens!” Er hielt dazu tatsächlich inne und machte eine kleine korrekte Verbeugung, die ich mit gnädigem Neigen des Köpfchens und einem herzlichen Lächeln erwiderte – äußerst herzlichem Lächeln, um mich dadurch der Verpflichtung zu entziehen, nun auch meinerseits irgendeinen verzweifelt ausgedachten Namen (“Lieselotte Schwanenhals”? “Lieselotte Gänseschmalz”?) zu nennen.

Natürlich hatte dieses Lächeln unvermeidliche Folgen:
“Und wenn Sie wieder einmal abends allein über die Törner Straße müssen – dann klingeln Sie einfach im Vorbeigehen: und in einer Minute bin ich unten!” Das schien ihm jetzt nachträglich doch etwas zu kühn vorzukommen: “Mit Anstandswauwau natürlich!” fügte er rasch hinzu und wies mit einem fast verlegenen Lächeln auf den Terrier Strupps.

Dieser Herr Mertens war wirklich ein netter Kerl – und hätte in der Tat, dachte ich, etwas besseres verdient als ausgerechnet eine Mogelpackung wie mich! Das Lächeln, mit dem ich seine Worte – wiederum in gezielter Stummheit – beantwortete, war durchaus ehrlich gemeint: und so faßte er es, wie sich später herausstellen sollte, auch auf…

Jetzt waren wir an der Ecke meiner Straße angelangt.

“Also dann – “ versuchte ich aufs Neue, loszukommen.

“Aber – die paar Schritte bringe ich Sie nun auch noch!” schnitt er mir mit einem Ton, der gerade wegen seiner Herzlichkeit keinen Widerspruch zuließ, das Wort ab. Ich ergab mich in mein Schicksal: was machte es schließlich aus, wenn Herr Alexander Mertens, der bestimmt nichts mit Tante Irma und Onkel Anton zu tun hatte, sah, in welches Haus ich ging! In ein paar Tagen war ich – das hatte ich ihm ja ausdrücklich gesagt – sowieso wieder weg.

In bester Tanzstundenmanier brachte er mich bis zur Haustür. Ich überlegte den ganzen Rest des Weges, was ich ihm zum Abschied noch Nettes sagen könnte – aber mehr als:
“Und noch einmal – vielen Dank!” (plus liebem Lächeln) brachte ich nicht zusammen.

“Aber – das war doch selbstverständlich!”
Er verbeugte sich nocheinmal korrekt – blieb aber eisern auf der Straße stehen, bis ich meinen Schlüssel aus der Tasche gefingert und die Tür aufgeschlossen hatte.

Ich fühlte mich verpflichtet, ihm in Hineingehen nocheinmal – wie Queen Elisabeth – zuzuwinken: dann schloß sich die Tür hinter mir, und ich holte tief Luft.

Seitdem der Mann im Auto mich angesprochen hatte, hatten sich die Ereignisse so überstürzt – hatte ich dauernd irgendein aktuelles Problem bewältigen müssen – daß ich die Hauptsache überhaupt nicht mit Verstand genossen hatte:
Als Mädchen war ich ein durchschlagender Erfolg.

Nicht nur, daß mich die verschiedensten Leute einem Beruf zugeordnet hatten, der weiß Gott typisch weiblich war: Wenigstens ein Mann war sogar offensichtlich willens gewesen, Zeit und Geld zu opfern, um von mir solche typisch weiblichen Leistungen einzutauschen – und ein zweiter hatte mich, obwohl er mich mitten aus dem Rinnstein aufgelesen hatte, mit allen Ehren als schutzbedürftiges Weib behandelt (und, das wurde mir jetzt erst richtig klar, in seiner zurückhaltenden Art einen regelrechten Flirt mit mir begonnen!).

Ich schaltete das Dielenlicht an und trat vor den Spiegel:
Ja – ich sah aber auch reizend aus. Die frische Luft hatte meine Wangen unter dem Puder noch ein wenig gerötet, die Stirnlocke war jetzt richtig ungezwungen zerzaust, auf dem glatten schimmernden Plastikstoff von Kopftuch und Mantel glänzten ein paar Regentropfen, der Stoff straffte sich keß über den wohlgerundeten Brüsten – und wenn ich jetzt mit den vollen roten Lippen einmal so in den Spiegel lächelte, wie ich Herrn Alexander vorhin angelächelt hatte: dann hatte ich selbst Lust, dieses hübsche Mädel mitten auf den appetitlichen Mund zu küssen!

Ob ich das hätte tun sollen: Einen schnellen, unerwarteten Abschiedskuß für den selbstlosen Retter – und dann rasch ins Haus laufen?

Oder – ich schaute nochmal kritisch in den Spiegel – wie wäre denn so ein richtiger langer, schöner Abschiedskuß gewesen? Einer, bei dem er seinen Arm leicht – oder auch fest? – um meine Taille gelegt hätte, bei dem ich den Kopf in den Nacken zurückgelehnt und meine Brüstchen an seine Brust geschmiegt hätte?

Oder — wenn ich jetzt dem Mann im Auto nicht entkommen wäre? Wenn der jetzt tatsächlich vor mir am Straßenrand gehalten und mich in seinen Wagen gezogen hätte – um mit fiebrigen Händen an meinen Armen, meinen Schultern, meinen Brüsten herumzufummeln, die sich da so aufreizend unter dem Mantel abzeichneten? Aber was – ganz woandershin hätte der gegriffen: hier zwischen die Beine, wo Mantel und Rock hochgerutscht wären, um das weiße Fleisch über den Strumpfrändern an meinen Oberschenkeln freizugeben –

Wenn mir vorhin kühl und schwül zugleich geworden war – jetzt wurde mir heiß und schwindlig. Wie benommen ließ ich den Mantel, den ich bis zu den Hüften hochgeschoben hatte, wieder heruntergleiten und ging zwei schwankende Schritte bis zum Fuß der Treppe – preßte meine Schenkel von rechts und links gegen den Pfosten des Treppengeländers, rieb den vorgewölbten Unterleib kreisend am Pfosten, während ich mit der Rechten die stramme Kugel der linken Brust unter dem glatten Mantelstoff streichelte – spürte einen heißen Schauer nach dem anderen über den Rücken hinunterlaufen, bis er kühl in meinen Hoden prickelte – unter dem Plastikkopftuch dröhnte es mir in den Ohren, Lichter tanzten vor meinen geschlossenen Augen – ohne sie zu öffnen, zog ich mich am Treppengeländer hoch, tänzelte Stufe um Stufe nach oben, während ich spürte, wie mein Glied, heiß und prall angeschwollen, den seidenen Schlüpfer spannte, Rock und Mantel hob, die es bei jedem Schritt streichelten und umschmeichelten – ich spürte plötzlich keine Stufe unter den Füßen mehr, riß die Augen wieder auf und taumelte hinüber zur Tür des Mädchenzimmers, riß sie auf und ließ mich stöhnend, erleichtert vornüber auf das Bett fallen, mit beiden Händen die strammen falschen Brüste umspannend.

„Frolleinchen – “ (Frolleinchen … !) „wohin denn so alleine ?!“ wiederholte ich genußvoll und wühlte mich tiefer in die weichen Kissen. „Eine von denen—!“ zischelte die Stimme der Klatschtante lüstern, „eine – von – denen!“ – „ein Mädchen wie Sie -“ klang Alexander Mertens Stimme mit sanftem Vorwurf, “ sollte wirklich nicht alleine hier herumlaufen!“ – alleine – wohin denn so alleine, Frolleinchen – Frolleinchen – Mädchen – ein Mädchen wie Sie! – (ein Mädchen wie i c h!) – ein Frol – lein – chen – !

Wohlig zog ich die Beine an und schob mich – mit dem glatten Mantel rutschte ich leicht wie ein Schlitten über das Federbett – mit vollem Leib auf das Lager, dessen stramme Daunenkissen sich um meinen Körper schmiegten. Beim Vornüberfallen hatte sich mein Glied, das unter Rock und Schlüpfer steil emporgestiegen war, platt zwischen Bauch und Kissen gepreßt – jetzt drückte es heiß und klopfend wie ein Stück fremden Fleischs gegen die kühlere Haut meines Unterleibs unter der dünnen Mädchenwäsche, die es bei jeder Bewegung gleitend umstreichelte – ich streckte die Beine lang aus und rutschte dabei ein Stück nach oben über das Daunenbett – spreizte die Knie auseinander und packte mit den Oberschenkeln das üppige Kissen, preßte es zwischen die glatten Seidenstrümpfe – rutschte dabei wieder ein Stück< nach unten – streckte die Beine, ohne das Kissen loszulassen -glitt auf meinem glatten Mantel wie auf Öl über die schwellenden Polster –
„Frol – lein – chen – wo – hin – denn – so – al – lei – ne – ! – “ kicherte ich im Rhythmus des Auf- und Abgleitens in mich hinein und knetete im gleichen Takt die weichen Kugeln unter dem glatten Plastik – „Frol – lein – chen – du – Klei – ne – wo – hin – so – al – lei – ne – ? “ keuchte ich und hielt wieder – schwer atmend – inne, während mir ein süßer Schauer nach dem anderen über den ganzen Leib jagte, von den Zehenspitzen in den engen Gummistiefeln bis zum Nackenwirbel unter dem glatten Kopftuch, in dem mein Kopf, zur Seite gelegt, über das Kopfkissen geglitten war, als streichle mit jemand die Wange. Langsam verebbte der letzte kühle Schauder, wieder spürte ich die pulsierende Hitze in meinem Glied unter dem flachgepreßten Bauch klopfen- genau wie mein Herz schlug und mein Atem ging, das Blut in meinen Ohren dröhnte und goldene Schleier vor meinen Augen wogten…

Ich wälzte mich etwas auf die Seite und zerrte mit den Zähnen erst den einen Handschuh von meinen Fingern, dann den anderen. In den bloßen Händen lagen die falschen Brüste unter dem glatten Plastik des Mantels wie kühles, nacktes Fleisch gegen meine Handflächen. „Glat-te-Tit-ten-Wat-te-Tit-ten-die-glatt-glit-ten- “ begann ein neuer Rhythmus in meinem Kopf zu hämmern, während meine Hände über die glatten Kugeln zuckten – „net-te-Tit-ten-Nut-ten-tit-ten-Tit-ten-ei-nes-Trans-ves-ti-ten-“ und mein Leib begann im gleichen Takt mit zu wippen – „-und-die-net-te-Nut-te-hat-te-glit-sche-glat-te-Tül-len-tit-ten-toll-aus-Wat-te-“ und dann hörten die Worte auf, aber mein Körper ruckte immer weiter in dem aufreizenden kurzen Rammeltakt über das Kissen – das Bett knarrte bei jedem Ruck mit -aber ich konnte nicht mehr aufhören, als sei ein toller Motor in meinen Hüften — ! — ! — ! — ! — !

Und dann – ohne daß der Ruckeltakt aufhörte, er lief wie der Rhythmus einer Musikstücks weiter – floß plötzlich eine köstliche, sanfte Woge wohliger Wärme über mich hin – breitete sich aus, verrann – aber da kam schon die nächste, noch höher, noch schöner – ich riß den einen Arm hoch und preßte das kühle Plastiktuch des Ärmels, unter dem straff und weich das Fleisch meines Oberarms zu spüren war, in den aufgerissenen Mund – saugte mit hungrigen Lippen die kühle Rundung in mich hinein, spürte die Glätte des Mantels wie eine Liebkosung auf meiner Zunge – und dann hörte ichlich ganz nahe an meinem Ohr eine Stimme sagen: „Komm – Liebste – wir wollen ficken!“

Und in einer dröhnenden Woge von Gold und Wärme und Süße begann die Welt um mich zu versinken, während ich spürte, wie ein heißer öliger Strom aus meinem schwellenden Glied schoß …

Danach lag ich noch endlose Zeit auf dem Bett: ohne Gedanken – ohne mich zu rühren – leer und doch noch voll von den Gefühlen, den Sinnenreizen, die ich Herzschlag für Herzschlag immer wieder nachzuerleben schien – ohne Anstrengung, mich bewußt an irgendetwas zu erinnern: nur so, wie sie von selbst in meinen Gliedern, meinen Nervenenden, meinem Fleisch nachzuklingen schienen – – –

Endlich spürte ich das Glitschige, Klebrige an meinem Leib doch so stark, daß ich mich – widerwillig und fast noch verschlafen -auf den Rücken wälzte. Langsam erwachte ich wie aus einem Traum. Gab es das ? Konnte der Leib eines Menschen wirklich all diese irren, süßen, unfaßbaren Dinge empfinden ? M e i n Leib?
Langsam löste ich meine Hand von der Brust, die sie immer noch zärtlich umschloß, und ließ sie langsam über den kühlen Plastikstoff des Mantels nach unten gleiten. Nicht mein Leib — dieser fremde, glattgepanzerte Mädchenleib, in den ich ihn verwandelt hatte, war es gewesen, der all das empfinden konnte!
Jetzt verstand ich auch, warum ich immer den. Drang gehabt hatte, diese zauberhafte Verwandlung zu vollziehen!

Noch immer halb in dem Erlebnis der vergangenen Stunde befangen, setzte ich mich auf und schwang langsam die Beine vom Bett. Mir war noch ein bißchen ’schwindlig – aber nach ein paar Sekunden erhob ich mich doch und tastete mich durch das dunkle Zimmer zum Lichtschalter neben der Tür.

Die Helligkeit ließ mich mit den Augen blinken – aber dann begrüßte mich aus dem Spiegel über dem Waschbecken gleich wieder das nun schon vertraute hübsche Mädchenantlitz; zwar auch ein wenig unordentlich, das Kopftuch schief gerutscht , der Lippenstift verschmiert – aber mit blitzenden Augen, geröteten Wangen und von einem warmen, glücklichen Lächeln umspielt.

„Das war etwas – was ?!“ sagte ich laut zu meinem Spiegelbild.

Die banalen Worte brachten mich wieder richtig auf die Erde zurück. Ich warf einen Blick auf das zerwühlte Bett: das sah ja schön aus! In meinem Rausch hatte ich natürlich mit keinem Gedanken mehr an meinen Sturz in den Rinnstein gedacht – und jetzt war das frische weiße Bettzeug mit dem, sorgfältig einmassierten, Straßendreck von Mantel und Stiefeln von oben bis unten verschmiert; auf dem Kopfkissen zeigten sich dafür rosafarbene und knallrote Schmierer von Puder und Lippenstift!

Mit mir selbst sah es auch nicht um soviel besser aus: Kopftuch und Mantelärmel klebten mir vor Schweiß auf der Haut – und von meinem Bauch kleckerte jetzt, wo ich stand, kaltes Sperma auf die Oberschenkel herunter.

Merkwürdigerweise ernüchterte oder bedrückte mich das alles gar nicht: Ich konnte mich nicht erinnern, mich jemals so wohl gefühlt zu haben! Gutgelaunt und kopfschüttelnd ging ich daran, die Folgen meiner Orgie – jetzt konnte ich mir etwas unter den Worten „orgiastische Kulte“ vorstellen! – wieder zu beseitigen:
Mantel und Kopftuch warf ich erstmal, nachdem ich sie ausgezogen hatte, über den Stuhl neben dem Bett. Das Kleid, unter dem Mantel zwar etwas verdrückt und mit zwei großen Schweißflecken unterAchseln, hatte wenigstens keinen Saft abbekommen – ich zog es, nachdem ich Reißverschluß und Knöpfe weit geöffnet hatte, vorsichtig über den Kopf und hängte es gleich auf seinen Bügel.

Beim Unterrock hatte ich (wie so oft an diesem denkwürdigen Abend) wieder mal mehr Glück als Verstand gehabt: Offenbar war mein Glied so gut in den Schlüpfer eingepackt gewesen, daß nur ein wenig Feuchtigkeit, aber kein Schmierfleck auf den glänzenden Satin gekommen war. Schlimm allerdings sahen Hemdchen und Höschen aus: ich weichte sie gleich, als ich sie vom Leibe hatte, im Waschbecken mit etwas warmem Wasser ein und versuchte, mit Toilettenseife und einer Nagelbürste die stickigen Flecken herauszubekommen. Glücklicherweise hatte aber das Hemd wieder den Hüftgürtel geschützt, so daß ich nur mit einem Waschlappen das entfernen mußte, was mir die Oberschenkel hinunter bis zu den Strumpfrändern gelaufen war. Mein Glied wusch ich auch gleich mit Seifenschaum ab – es fühlte sich ganz wohlig an, die glatte Eichel mit dem weißen Schaum zu massieren, aber es war kein Vergleich zu dem völlig aus dieser Welt entrückten Erlebnis vorhin! – und trocknete alles mit einem Frottierhandtuch nach, ohne Strümpfe und Hüfthalter abzulegen.

Das nasse Hemdchen und Höschen hängte ich neben dem Handtuch über die Stange — sollte es bis morgen früh wieder trocken werden! — und sah nochmal in den Spiegel: nein, Lippenrot und Puder blieben drauf — das Kopfkissen war einmal verschmiert.

Ich ging zum Schrank und holte das rosa Nachthemd heraus, schlüpfte hinein – die geraffte Brust modellierte sich hübsch über meinem Wattebusen – setzte mich auf die Bettkante und zog endlich die Stiefel aus. Jetzt war es doch ganz angenehm, die Zehen wieder spreizen und bewegen zu können – und einen blauen Fleck hatte ich auch am Schienbein, wo ich gegen die Bordkante geprallt war …

Ich stand nocheinmal auf, löschte das Licht und kuschelte mich dann wohlig unter die Kissen: saubermachen würde ich das alles morgen!

Die glatte Seide des Nachthemds fühlte sich angenehm über den Seidenstrümpfen an meinen Beinen an, als ich mich mit angezogenen Schenkeln auf die Seite drehte und wieder mit der Hand die kugelige Wölbung an meiner Brust umschloß.

Eines stand jedenfalls fest für mich, als ich das Daunenbett über meine nackten Schultern zog und langsam in den Schlaf hinüberdämmerte: keine Minute der kommenden zehn Tage wollte ich anders als in diesen entzückenden, berückenden, streichelnden, schmeichelnden Mädchenkleidern verbringen !

Drittes Kapitel: Geometrische Progression

“Er dachte nicht dran, irgendwie sexuell‘ anzubandeln
doch nachher begann es ihn bisexuell anzuwandeln:
es rührt sich in ihm etwas Weibliches schrill
das etwas ganz Unbeschreibliches will…“

Dem Wortlaut nach wurde ich diesem Gelübde schon am nächsten Tage untreu: denn am späten Vormittag saß ich – in konventioneller Männerkleidung – im Autobus, der in die Stadt fuhr; aber da ich darunter, bis auf den Unterrock, völlig in Damenwäsche – selbst Strümpfe und den, freilich inhaltsleeren, Büstenhalter – gehüllt war, fühlte ich mich fast genau so wohl.

Ein ungeheures Wohlbehagen, das bei jedem Gedanken an jede Einzelheit der vergangenen Nacht in mir aufstieg, war überhaupt das Grundmotiv dieses ganzen Tages gewesen; zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich durch und durch alles getan, was ich wollte – und Minute für Minute war ich dafür mit neuen, ungeahnt erregenden Erlebnissen belohnt worden!

Selbst die aufregenden Augenblicke vor dem Auto des unerwarteten Freiers waren jetzt, in der Rückschau, abenteuerlicher und spannender als alle erdichteten Erlebnisse des schönen Conny mit seinen sowieso etwas nach Papier riechenden Brillantenkolliers und Safe-knackereien: sollte mir erst einmal jemand nachmachen, aus einem simplen Abendspaziergang im Regen soviel an aufregenden Erlebnissen herauszuholen, wie ich es schon am ersten Abend geschafft hatte! Die ganze Welt sah plötzlich, selbst im trivialsten Detail, faszinierend anders aus, wenn man sie durch die Augen eines Mädchens (oder noch exakter, durch die Augen eines als Mädchen Verkleideten!) ansehen konnte!

Schon das Aufwachen am Morgen war ungewohnt und herrlich gewesen: nach tiefem, erquickendem Schlaf, an dessen Träume ich mich nur noch unscharf erinnerte – ein Detail nur, isoliert und unverständlich, aber gerade deshalb Anregung zu faszinierenden Spekulationen, war mir im Gedächtnis geblieben: Irgendwer hatte sich mir mit einer rosafarbenen Visitenkarte als „Contessa die Rimini“ vorgestellt, (aber wer? Ich konnte mich beim besten Willen nicht mehr erinnern!) – aus solch erholsamem Schlaf also zu erwachen und als erstes die schmeichelnde Seide eines Damennachthemds zu spüren – sich wohlig in ihr zu dehnen und an den Beinen das unbeschreibliche Gefühl von über Seide gleitender Seide zu genießen: was konnte sich – als Beginn eines Tages – damit vergleichen ?!

Dann: ein langes, genußvolles Bad in Tante Irmas Luxus-Badezimmer – und anschließend wieder das festliche Anlagen hübscher Wäsche aus Fräulein Lieselottes Schrank – darüber, das war nun eine neue lohnende Idee gewesen, ein seidener, bestickter Morgenrock aus Tante Irmas Schränken (bei solch einem losen Gewand störte es kaum, daß sie eine um ein rundes Dutzend größere Kleidernummer hatte!) – und dann ein luxuriöses Frühstück mit knusprigen, vorsichtig durch den Türspalt hereingeholten Brötchen, duftendem Bohnenkaffee und dreierlei Marmelade, zu dem ich es mir nicht nehmen ließ, mich in dem rotseidenen Kimono in die tiefen Polstersessel des Wohnzimmers zu lümmeln und mich dabei als „Hausherrin“ zu fühlen.

Dann allerdings hatte der „Ernst des Lebens“ begonnen: Nachdem ich eine Kittelschürze aus Fräulein Lieselottes Schrank übergeworfen hatte, zog ich erst einmal das Bett ab – sein Überzug sah aus wie ein Schaustück aus einer Waschpulver-Reklame „… und nun wollen wir testen, ob auch diese stark verschmutzte Wäsche …“! – und ich machte mich daran, die Waschmöglichkeiten des Hauses zu explorieren.

Im Keller gab es eine vollautomatische Waschmaschine, alle nötigen Waschmittel und – als Zusatz-Überraschung – ein geblümte Gummischürze, die ich natürlich als erstes einmal umband: sie raschelte fast so angenehm um die Oberschenkel wie der Mantel gestern abend – und straffte sich, wenn man die Gummiband-Träger richtig anzog, auch ähnlich wirkungsvoll über der Brust (obwohl ich da – gegenüber der jetzigen Watte – noch große Verbesserungsmöglichkeiten sah!).
Dergestalt als Hausfrau uniformiert, widmete ich mich sachlich dem Studium der „Waschprogramme“, die bemerkenswert übersichtlich auf einer Klappe der Maschine angegeben waren – und als ich diese Informationen noch durch die Anpreisungen auf den Packungen ergänzt hatte, fühlte ich mich technisch in der Lage, von Bettwäsche bis zu spinnwebzarten Spitzen so ziemlich alles auf der Welt farbschonend, ohne Grauschleier und – soweit möglich – blendend-strahlend weiß zu waschen.

Nachdem die Maschine rumpelnd in einen der mehreren von mir als zweckmäßig erachteten Vorwaschgänge eingetreten war, ließ ich mich – in einem neuen Anfall hausfraulichen Pflichtbewußtseins – in der Diele nieder, um auf dem Notizblock neben dem Telefon eine Liste all der Verrichtungen aufzustellen, die ich (trotz aller privaten Pläne) offenbar nicht vernachlässigen durfte, wenn ich meine hundert Mark für die zehn Tage ehrlich verdienen wollte. Zwischendurch schielte ich allerdings immer wieder einmal zum Dielenspiegel hinüber und freute mich über den Anblick der jungen Hausfrau in ihrem blauen Kittelschürzchen mit der tomatenroten Gummischürze, dem karierten Kopftuch und den roten Lippen.

Ärgerlich fand ich es freilich, daß ich auch im Haus mit einem Kopftuch herumlaufen mußte – zumal mir das im Nacken gebundene Tuch nicht ganz so gut gefiel wie das unter dem Kinn geknotete von gestern! Und – wenn ich wirklich kritisch vor den Spiegel trat und mein Gesicht genau besah: mit dem make-up ließ sich offensichtlich auch noch mehr tun als jetzt! Man müßte bloß genau wissen, was – und wie!

Kurz entschlossen kehrte ich zu meiner Liste zurück und setzte fein säuberlich all das in Klammern, was ich heute jedenfalls nicht tun wollte — um Zeit zu gewinnen, einen Einkaufsbummel in der Stadt zu machen. Ebenso radikal beschloß ich, die zwanzig Mark „Reserve“, die ich gestern bei den Bierkästen eingespart hatte (heute hätte der Biermann klingeln sollen – dann hätte ich ihn stilecht empfangen können!), auf das Konto „Schönheit und Körperpflege“ zu transferieren.

Der dritte Entschluß fiel mir schwerer – aber nüchtern betrachtet gab es da keine andere Wahl: diese Einkäufe konnte ich nicht in Mädchenkleidern machen. Erstens war ich mir noch nicht so ganz sicher, ob ich mir bei Tageslicht all das leisten konnte, was gestern bei Laternenschein durchgegangen war – zweitens regnete es nicht, so daß ich kein rechtes Motiv für Regenmantel und vor allem Regenkopftuch gehabt hätte – und drittens gab es vor allem bei so einem Einkauf so viel zu fragen und zu verhandeln, daß ich lieber ohne ständige Stimm-Probleme auftreten wollte.

Ich probierte noch einmal – mit Sprechen, Flüstern, Singen und Kreischen – alle Möglichkeiten durch und kam zu dem Ergebnis: Flüstern und tonlos sprechen konnte ich natürlich. Andererseits gelang mir auch ein – meiner Meinung nach zumindest – recht naturechtes Quieken und Kreischen im höchsten Sopran: doch das war nur für Sonderfälle – etwa beim Anblick einer Maus oder falls ich mal tun Hilfe rufen müßte! – geeignet. Singen konnte ich – auf einer oben und unten zu kurzen Tonleiter – etwa so eindrucksvoll wie ein Schuljunge im Stimmbruch, was mir in jeder Beziehung wenig nützte: dennoch nahm ich die Gelegenheit wahr, auf diese Weise irgendwelche Schlager zu „trällern“, während ich mich ums Blumengießen und ähnliche , unaufschiebbare Hausarbeiten kümmerte – man konnte nie wissen, wofür es gut war (später stellte ich fest, wofür: um einen schmerzenden Hals zu bekommen).

Das Problem war und blieb das normale Sprechen. Echt in eine höhere Tonlage konnte ich es nicht transferieren, ohne in einen ausgesprochen komisch wirkenden Charleys-Tanten-Alt mit gelegentlichem totalem Stimmausfall zu geraten: aussichtslos! Andererseits war es möglich, normal – mit nur ganz wenig angehobener Tonlage – ziemlich scharf auf der Grenze zwischen „männlich“ und „weiblich“ zu sprechen: und es gab sogar Schauspielerinnen und Sängerinnen, die in einer solchen Stimmlage ausgesprochen „sexy“ wirkten! Nur hatten die natürlich den entscheidenden Vorteil, daß von vornherein niemand an ihrem weiblichen Geschlecht zweifelte …

Also führte alles auf das ursprüngliche Problem zurück: wenn ich sonst in jedem Detail überzeugend wie ein Mädchen wirkte, konnte ich es wahrscheinlich auch riskieren, zu sprechen – wie der gestrige Abend ja schließlich bewiesen hatte. Aber mit diesen Details haperte es – genau besehen – noch an allen Ecken und Enden; und deshalb mußte ich, gerade um hier etwas in Ordnung zu bringen, schweren Herzens nocheinmal für meinen Einkaufsgang in Männerkleider zurück.

Als ich mich umzog und zugleich das Mädchenzimmer noch etwas aufräumte, machte ich zufällig eine neue Entdeckung, deren Tragweite ich – in jeder Beziehung – allerdings erst später erkennen sollte: unten in Fräulein Lieselottes Nachttisch lag ein Stoß billiger Heftromane – „Bedrohtes Glück“, „Lindas Geheimnis“, „Um eine Grafenkrone“ und so weiter – die mich, bei aller Liebe zum Mädchendasein, bisher herzlich wenig interessiert hatten. Aber vielleicht war doch irgendein Krimi darunter, den ich auf der langweiligen Busfahrt als Lektüre mitnehmen konnte ? Den fand ich zwar nicht – dafür aber ein nicht besonders geschickt mit einem Umschlag aus Zeitungspapier versehenes, broschiertes Buch, das sich beim Aufschlagen als das „Kama-sutra – das Lehrbuch der indischen Liebeskunst“ entpuppte.

Dem Inhaltsverzeichnis nach war es so unterschiedlichen Themen wie „den vierundsechzig Künsten“ (nicht etwa Liebeskünsten, sondern unter anderem „Tätowieren“, „Chemie und Mineralogie“ oder „die Kunst, Menschen zu verkleiden oder ihr Aussehen zu ändern“ – darüber hätte mehr drinstehen dürfen! -, „den verschiedenen Arten, Frauen zu schlagen, und den dies begleitenden Lauten“ oder „dem Benehmen eines Mannes, der mehrere Frauen sein eigen nennt“ gewidmet. Ich konnte mir zunächst nicht recht vorstellen, daß es die Erwartungen Fräulein Lieselottes – was immer sie im Einzelnen gewesen sein mochten – erfüllt hatte: aber als Autobus-Lektüre war es vielleicht doch noch interessanter als „Lindas Geheimnis“.

Auch für mich erwies sich das Kamasutra zwar als interessant (begann es doch mit einem philosophischen Dialog zwischen Meister und Schüler über die Grundlagen des Glückes auf dieser Erde), doch die nerventötende Pedanterie des alten Vatsyayana – etwa im Stile von „spreitzt jedoch die Frau, während sie den Mann auf die rechte Backe küßt, den linken kleinen Finger ab, so nennt man dies ‚dea Kuß mit abgespreitztem linken kleinen Finger‘ “ – verhinderte nachhaltig, daß mich der Text irgendwie unziemlich erregte; bis er mir völlig unerwartet – ausgerechnet unter dem unwahrscheinlichen Titel „Auparishtaka“! – einen echten Schlag unter die Gürtellinie versetzte. „Es gibt zwei Sorten von Eunuchen oder Hermaphroditen -“ stellte er gleich im ersten Satz wie selbstverständlich fest, „die einen, welche die Rolle von Männern wählen, und die anderen, die es bevorzugen, sich als Frauen zu verkleiden.“ Mit steigender Erregung las ich weiter: „Die Eunuchen, die sich als Frauen kleiden, ahmen das schöne Geschlecht in jeder Weise nach, in Kleidung, Sprache, Manieren, Freundlichkeit, Schüchternheit, Sanftheit und Bescheidenheit – und die höchste Erfüllung der Liebe, welche Frauen in den sanften Tiefen der Yoni empfangen, bewillkommnen diese Eunuchen in ihrem Munde. Dies – “ natürlich wieder die unvermeidliche Klassifizierungssucht des ollen Inders! – „nennt man Auparishtaka,“ Es ging noch weiter: „Diese ‚weiblichen‘ Eunuchen – “ zum Teufel mit seinen ‚Eunuchen‘! – „empfinden beim Geschlechtsverkehr im Munde sinnliche Erregung , und verdienen zugleich auf diese Weise einen angenehmen Lebensunterhalt, und sie führen das Leben von Kurtisanen.“

Ich las gespannt noch ein paar Absätze weiter – doch da verlor er sich wieder in technisch detaillierte Gebrauchsanweisungen und Klassifikationen (“die siebte Stufe nennt man das Essen des Mangos”) und schließlich sogar in einen Gelehrtenstreit darüber, welche Gesellschaftsschichten miteinander „Auparaishtaka“ treiben dürften (zwischen Mann und Frau natürlich) und ob dies dem Essen von Hundefleisch gleichzusetzen sei – Fragen, die mich nicht mehr im geringsten interessierten!

Wenn ich einmal annahm, daß „Eunuchen“ nicht – wie ich das bisher wußte – „kastrierte Männer“ bedeutete, sondern ein Übersetzerfehler war (und darauf schien mir die Gleichsetzung von „Eunuchen“ und „Hermaphroditen“ verdammt hinzudeuten!): dann gab es da also im alten Indien irgendwelche Männer (ob nun mit oder ohne Hoden), die zunächst einmal eine ähnliche Neigung gehabt zu haben schienen wie ich – nämlich. Frauenkleider anzuziehen. Das konnte ich ihnen nachfühlen, denn die indische Frauenkleidung, den „Sari“ nannte man sie wohl, fand ich ausgesprochen hübsch. Und daß diese Sari-Männer dann auch in Sprache und Manieren das schöne Geschlecht nachahmten, war eigentlich die selbstverständliche Konsequenz.

Was mich daran erschütterte, war zweierlei: erstens, daß der alte Inder von diesen Menschen wie von einer ganz normalen Gesellschaftsklasse – Brahminen, Kshatrias oder Vaishyas – redete, ohne in irgendwelche Entrüstung auszubrechen und die Flüche irgendwelcher Gottheiten auf solche Widernatürlichkeit herabzubeschwören.

Und zweitens, daß diese nachgemachten Frauen offenbar den Mund als Yoni benutzten und damit “das angenehme Leben von Kurtisanen“ führten.

Die wären also – dachte ich unwillkürlich sofort – gestern abend am Auto nicht davongelaufen. Im Gegenteil: die hätten sich mit „Auparishtaka“ einen schönen Abend gemacht und dafür noch Geld kassiert!

Aber die Frage, der ich kaum ausweichen konnte, war: wie stand es in dieser Beziehung nun eigentlich um mich?!

In der Vergangenheit war es mir gelungen, die zwei Themen „Frauenkleidung“ und „Geschlechtsverkehr“ in wasserdicht getrennte Abteilen aufzubewahren: da gab es natürlich – wie ich aus flüchtig gehörten Bemerkungen oder gelegentlichen, zurückhaltend umschreibenden Zeitungsberichten wußte – „abartig veranlagte“ Individuen, „warme Brüder“ oder „Schwule“, die als Männer Männer „liebten“; aber wie sie das eigentlich machten, darauf wies bloß der Ausdruck „Arschficker“ hin: eine bei dem Mangel an sonstigen geeigneten Öffnungen verständliche, aber für mein Gefühl doch ziemlich unappetitliche Methode, der ich keinen besonderen Reiz abgewinnen konnte. Zudem schienen diese Homosexuellen aber in der Mehrzahl überhaupt kein Interesse für Frauenkleider zu haben – im Gegenteil von Muskeln, „griechischen Jünglingskörpern“ und „schönen Knaben“ (was immer das im einzelnen bedeuten mochte) zu schwärmen.

Man konnte — hatte ich bisher geglaubt – von der Idee, sich wie ein Mädchen zu kleiden, fasziniert sein, ohne das Geringste mit diesen Männern zu tun zu haben. Daß man sich allerdings bereits nicht mehr in Mädchenkleidung auf die Straße wagen konnte, ohne unerwartet rasch mit dem Problem erotischer Kontakte konfrontiert zu werden – das hatte mir der gestrige Abend ziemlich handgreiflich bewiesen. Und nun meinte der alte Herr Vatsyayana – gerade wegen seiner Pedanterie eine Autorität, die man nicht leichthin beiseiteschieben konnte! – Männer, die ein Faible für Frauenkleider hätten, bezögen zugleich auch „sinnliche Erregung“ daraus, die Schwänze anderer Männer in den Mund zu nehmen!

Daß das für den Besitzer des Schwanzes ein angenehmes Gefühl sein mochte, konnte ich mir schon ausmalen (insbesondere, wenn ich die detaillierte Schilderung des achtstufigen „Auparishtaka“ mit meinen Gefühlen von heute nacht verglich … ) – aber „erregte“ mich nun etwa auch der Gedanke, meinerseits so (wie nannte der Inder das:) „am Mango herumzuknabbern“? Im Moment erregte die Vorstellung, jemandes – möglichst gar noch ungewaschenen und nach Heringslake riechenden – Schwanz halb herunterzuschlucken, bei mir weniger „Sinnenlust“ als Übelkeit! Oder kam etwa auch dabei, wie der Volksmund es hatte, „der Appetit beim Essen“?!

Ich war nicht ganz undankbar, daß der Autobus gerade, als ich an dieser Stelle angekommen war, hielt – und ich mich anderen Problemen zuwenden mußte: ich kannte mich in der Stadt kaum aus – aber irgendein großes Kaufhaus müßte eigentlich alles, was ich suchte, zu bieten haben. Glücklicherweise sah ich auch gleich von der Haltestelle aus jenseits des Platzes eines liegen.

Jetzt, am späten Vormittag, herrschte dort nur mäßiger Andrang – einkaufende Hausfrauen, ein paar junge Leute, vereinzelt alte Rentner; ich konnte mich erst einmal in Ruhe umsehen. Hier, ziemlich nahe am Eingang, waren gleich die Kosmetik-Stände: ein paar lange Gondeln mit den billigeren Angeboten – an der Wand Theken, hinter denen junge Damen, nachdem sie offenbar vollen Gebrauch von allen denkbaren Produkten (angefangen bei falschen Wimpern und endend bei falschen Fingernägeln) gemacht hatten, gelangweilt auf Interessenten für die unzähligen teureren Marken-Serien harrten. Ich strich – etwas unbehaglich: denn was hatte ein junger Mann hier in diesem Arsenal weiblicher Schönheit eigentlich zu suchen – zunächst einmal zwischen den Regalen herum, um. mir eine Vorstellung von den Preisen machen zu können. Das schien ja zu gehen: da konnte man offenbar für ein paar Mark schon allerhand erwerben – die Frage war nur, was!

Doch auch dafür hatte ich schon meine Ideen: Kürzlich, auf dem Bahnhof, als ich ankam, war mir an einem Zeitschriftenstand „Das große Schönheitsheft“ einer Frauenzeitschrift aufgefallen, das versprach, „alles über make-up, Schönheitspflege, Frisuren für den Sommer“ zu vermelden. Auf der Suche nach einem Zeitschriften-Stand entdeckte ich allerdings erst einmal das, was mich am meisten faszinierte: den Stand mit den Damen-Perücken – oder „Zweitfrisuren“, wie ein großes Transparent verkündete.

Der Freude über diese Entdeckung folgte allerdings die Enttäuschung auf dem Fuße: „350,- DM“ – „275,- DM“ – „185,- DM“ – ja selbst ein paar einzelne Locken zur Verlängerung einer Frisur kosteten (abgesehen davon, daß sie mir überhaupt nichts genützt hätten) noch über hundert Mark! Ich wäre – in wilder Mißachtung aller finanziellen Vorsicht – bereit gewesen, den größten Teil meiner insgesamt hundertzwanzig Mark für eine schicke Damenfrisur zu opfern: aber so konnte ich nicht einmal „in Versuchung“ geraten – soviel Geld hatte ich einfach nicht.
Diese Erkenntnis mußte ich erst einmal verdauen. Ohne Perücke war ich – was immer ich sonst schaffte – darauf angewiesen, meinen Kopf durch ein Tuch oder einen Schal zu verhüllen; das hatte zwar gestern im Regenmantel ausgesprochen hübsch ausgesehen – aber schon heute morgen war ich nicht voll zufrieden gewesen, und irgendwann kam bestimmt eine Situation, in der es überhaupt keinen Anlaß mehr gab, sich etwas um den Kopf zu wickeln! Zudem war es – meinem Empfinden nach – zutiefst unnatürlich, wenn eine junge Dame ihre Haare ständig vor den Blicken der Umwelt versteckte: unnatürlich und damit irgendwie verdächtig – und verdächtig zu sein, konnte ich mir mit meiner zweitklassigen Stimme schon erst recht nicht leisten!

Außerdem wollte ich wissen, wie ich mit einer vollen Damenperücke aussehen würde: denn daß das erst die Krönung jeder Verkleidung war, und alle andere nur eine halbe Sache, stand fest! Ich überlegte: welche Möglichkeiten, dieses Problem zu lösen, gab es ? „Kaufen Sie gleich – benutzen Sie unseren bequemen Kunden-Kredit!“ forderte ein Schild an der Wand auf. Schon gut — aber in einer wildfremdem Stadt, ohne Referenzen, ohne nachweisbares Einkommen würde man mir kaum einen solchen Kredit nachwerfen (ganz abgesehen davon, daß ich nicht gewußt hätte, wie ich ihn je zurückzahlen sollte); und selbst wenn das alles geklappt hätte, wäre endgültig selbst der großzügigste Bearbeiter stutzig geworden, wenn ich Kredit ausgerechnet für den Kauf einer Damenperücke aufgenommen hätte! Diese Idee konnte ich getrost vergessen.

Genau so unpraktikabel waren alle anderen Gedanken, mit Anzahlungen, Umtausch oder ähnlichen Tricks wenigstens für ein paar Stunden in den Besitz einer solchen Perücke zu kommen: „Aus hygienischen Gründen sind Zweitfrisuren vom Umtausch ausgeschlossen“ verkündete ein weiteres Schildchen. Nein – was ich brauchte, war Bargeld auf den Tisch: und dann möglichst schnell und endgültig verschwinden, ehe jemand anfing, darüber nachzudenken, was ich mit einer Damenperücke wohl vorhaben mochte!

Nachdem das so weit klar war, sollte man – dachte ich – zumindest feststellen, wieviel Bargeld. Ich kehrte an den Perücken-Stand zurück und sah mir die lockige Pracht näher an:

„Meine Schwester – “ erklärte ich der freundlichen, korpulenten Dame hinter dem Stand, die etwas gelangweilt an den Lockenköpfen herumbürstete, mit überflüssiger Ausführlichkeit, „wollte wissen, was Sie da so an Perücken dahaben. Gibt es da einen Prospekt oder sowas?“

Es gab natürlich, wie ich vermutet hatte, keinen – so daß ich mir mit einer Mischung aus Genuß und Qual eine lange Lektion über Echthaar, Kunsthaar, maschinentressierte und handgeknüpfte Scheitel oder Ansätze, Stretchbasis und Toupierung anhören mußte – wobei es mir unter anderen Umständen bestimmt Spaß gemacht hätte, daß die Verkäuferin schon im dritten Satz in ihren gewohnten Jargon -„so etwas können Sie natürlich auch als Abendfrisur tragen“ – verfiel und ich sie richtig aus dem Takt brachte, als ich vorsichtig protestierte: „Also – ich vielleicht weniger!“. Aber im Grunde bestätigte das Ganze nur, was ich schon wußte: je schöner, desto teurer – und im Ganzen alles unerschwinglich für mich! Ich verabschiedete mich mit vielem Dank und versprach, „meine Schwester“ nun selbst vorbeizuschicken.

Weitergekommen war ich dadurch keinen Schritt: ich wußte zwar, daß ich schon für hundertfünfundsiebzig Mark – hübsch passender Preis, dachte ich grimmig – eine gutaussehende Perücke bekommen könnte, aber leider hatte ich hundertfünfundsiebzig Mark ebensowenig wie dreihundertfünfzig!

Natürlich: wenn ich sämtliche Sachen Fräulein Lieselottes in ein Leihhaus gebracht hätte (wenn es sowas heutzutage überhaupt noch gab, was ich gar nicht genau wußte, und wenn ich es hier finden würde), dann hätte man mir dafür vielleicht Geld gegeben – aber ob genug, und selbst wenn, dann hätte ich zwar eine Perücke, aber wieder nicht zum Anziehen gehabt! Ich entschloß mich mit einem inneren Ruck, das Problem erst einmal zurückzustellen, und kaufte am Zeitungsstand – für drei Mark fünfzig, allerhand Geld, aber durchaus noch in meinem geplanten Etat von zwanzig Mark – das „Schönheitsheft“.

Das Kaufen war nicht allzu schlimm – schließlich brachte man eher seiner Schwester Zeitschriften mit als zum Beispiel Perücken! – aber dann rollte ich das dicke Heft doch lieber zur Rolle zusammen, um nicht mit einem solchen Titel unter dem Arm irgendwen bei meinen weiteren Käufen auf falsche (exakter gesagt: richtige!) Ideen zu bringen; mein nächster Einkauf zum Beispiel war an sich harmlos – aber in Verbindung mit ungewöhnlichem Interesse für weibliche Dinge vielleicht doch verdächtig: ich besorgte mir nämlich in der Spielzeugabteilung einige Luftballons – „extra große“, wie ich mit einer Story über einen Kindergeburtstag begründete.

Neben der Spielzeug-Abteilung im Obergeschoß war der Erfrischungsraum – und das brachte mich auf die Idee, dort gleich eine Kleinigkeit zu essen und dabei in Ruhe die Zeitschrift zu studieren, um für meine restlichen Einkäufe besser „theoretisch vorbereitet“ zu sein. Das Essen war dort – wie meist in Kaufhäusern – durch einen „WerbeZuschuß“ besonders preiswert: und das tat meinem Etat gut. Freilich waren auch andere Leute auf diese Überlegung gekommen, so daß ich erst nach einigem Suchen einen leeren Tisch in einer Ecke fand, wo ich – ungestört von einem neugierigen Gegenüber – meine Schönheitsstudien treiben konnte; ich bestellte ohne langes Suchen das Tagesmenü und schlug dann das Heft auf.
Die drei Mark fünfzig hatten sich, wie ich bald erfreut feststellte, gelohnt: mit wissenschaftlicher Gründlichkeit begann das Heft bei den Gesichtsformen – oval, rund, dreieckig, viereckig – und Teint-Grundfarben, schritt dann über Haar- und Hautfarbe zu den passenden Kleiderfarben fort und lieferte dann detaillierte Beschreibungen des Schminkens von Gesicht, Mund und Augen – mit speziellen Hinweisen für die „Korrektur“ kleiner Fehler, wie einer zu breiten oder zu spitzen Nase und so fort. „Unentbehrlich für diesem Sommer : die Zweitfrisur!“ erklärte es dann, rücksichtslos kaum vernarbte Wunden wieder aufreißend, und demonstrierte wiederum in Skizzen das Zusammenspiel von Gesichtsform und Frisur.

Es war – stellte ich fest, als mein Essen kam und ich das Heft beiseitelegen mußte – fast so gründlich in seiner Art wie das Kamasutra bei der Schilderung des Auparishtaka.

Inzwischen hatte ich nun doch einen Tischgefährten bekommen: einen Herrn mittleren Alters mit einer dunklen, eckigen Hornbrille und etwas künstlerischer Frisur, der mir irgendwie bekannt vorkam – hatte er nicht irgendeinem Stand auch schon mal neben mir gestanden? Doch kümmerte er sich seinerseits überhaupt nicht um mich, sondern versank gleich, nachdem er sich gesetzt und sein Essen bestellt hatte, in das Studium irgendwelcher Akten, die er aus einem eleganten Köfferchen geholt hatte.

Während des Essens kamen mir drei Ideen zum Perückenproblem. Die erste beruhte darauf, daß – wie ich aus der Zeitschrift entnommen hatte – offenbar auch Versandhäuser Perücken anboten. Nun könnte ich – unter dem Namen des abwesenden Fräulein Lieselotte, deren Nachnamen ich ja irgendwie herauskriegen würde – dort eine Perücke auf Ratenzahlung bestellen (ich wußte, daß die Formulare dafür keine allzugenauen Auskünfte verlangten); sie für die paar Tage, die ich sie brauchte, benutzen – und dann, Umtauschverbot oder nicht, einfach wieder zurückschicken. Das kostete mich nur die Anzahlung – sagen wir, 35 Mark auf 175 – und aller Voraussicht nach würden die Leute, wenn ich das Ganze unter dem Motto „die Bestellerin ist nicht mehr da“ zurückschickte, nichts mehr unternehmen (und wenn, dann war Fräulein Lieselotte in Spanien – und sie durften sich mit Tante Irma herumschlagen): alles etwas am Rande der Legalität, aber eigentlich nichts Böses – für mich sogar ein ausgesprochenes Verlustgeschäft, was mir die Sache subjektiv sowieso erlaubt erscheinen ließ! Der Haken daran war nur der Zeitfaktor: wenn ich erst einen Katalog anfordern mußte – der erst in drei Tagen kam – und dann die Lieferung nochmal länger dauerte: dann bekam ich die Perücke genau am Tag meiner Abreise und konnte noch fünfunddreißig Mark dafür blechen!

Die zweite Idee war, irgendwo eine Perücke zu leihen. Im Karneval ging das auf jeden Fall – und auch jetzt würde man, unter dem Vorwand einer Theater-Aufführung oder so, eine Perücke für einige Tage ausleihen können. Die Frage war nur, wo und wie in einer wildfremden Stadt!

Die dritte Idee – verdammt noch mal, war nicht gestern abend jemand eigens mit dem Auto hinter mir hergefahren, um sein Geld bei mir loszuwerden ?!

Der Gedanke war natürlich verrückt und aller Voraussicht nach aus siebzehn Gründen, die mir noch einfallen würden, undurchführbar – aber es prickelte reizvoll, ihn genau so wie die anderen durchzudenken! Jemand aufzugabeln, war – erwiesenermaßen – nicht schwer. Mit ihm im Flüsterton zu verhandeln, auch nicht. Dann allerdings…

Ich stand erst einmal auf, um auf die Toilette zu gehen. Dort stellte ich, etwas nervös, fest, daß mein Glied schon wieder wie gestern abend stand. War da also.an dieser Auparishtaka-Sache doch was dran? Aber Unsinn! Zudem hatte ich nicht die geringste Ahnung, was die Damen da im Einzelnen taten – und was sie dafür kassierten: Fünf Mark? Oder fünfzig? Und wie oft wollte ich denn das machen, bis ich hundertfünfundsiebzig Mark zusammenhatte?!

Nein – die aussichtsreichste Idee, beschloß ich, während ich an den Tisch zurückkehrte, war doch das Leihen. Neben dem Aufzug war ein öffentlicher Telefon-Apparat – da mußte es ein Telefonbuch geben, in dem man vielleicht die richtigen Adressen fand! Ich zahlte und ging, ohne daß mein Gegenüber aufblickte.

Unter „Kostümverleih“ oder „Theaterfriseur“ fand ich nichts im Branchenteil des Telefonbuchs – wohl aber unter „Perücken“ etliche Aressen, die sich allerdings mehr auf Handel als auf Verleih zu beziehen schienen. Immerhin konnte ich dort ja einmal anrufen – aber das kostete wieder Geld, während ich es von Zuhause aus umsonst tun konnte…

Unentschlossen stand ich unter der halboffenen Kuppel und überlegte, ob ich mir nicht wenigstens die Adressen und Nummern aufschreiben sollte – der Himmel wußte, ob das Telefonbuch zuhause auch einen Branchenteil hatte! Aber jetzt merkte ich, daß ich nichts zum Schreiben bei mir hatte …

„Wollten Sie sich was notieren ? Bitte – „
Der Herr von meinem Tisch stand neben mir und hielt mir einen goldenen Kugelschreiber hin. Wo kam der auf einmal her ? Ach so, nebenan war ja der Lif. Ich dankte freundlich und begann etwas nervös die Nummern und Straßen abzuschreiben – guckte der mir dabei über die Schulter ? Na und wenn schon – von der Geheimpolizei, die Dich wegen Deiner nächtlichen Eskapaden überwacht, wird er wohl nicht gleich sein, spottete ich innerlich über meine Nervosität.
Dennoch war ich froh, als ich meinem unbekannten Helfer seinen Kugelschreiber zurückgeben konnte und ihn mit dem gerade angekommenen Lift entschwinden sah. Ich gab mir einen Ruck und fuhr – auf alle Fälle – lieber mit den Rolltreppen ins Erdgeschoß zurück, obwohl ich dabei (aus kaufhauspsychologisch wohlerwogenen Gründen) jedesmal ein Stück durch die einzelnen Etagen laufen mußte. In der Abteilung „Damenoberbekleidung“ lächelten mich fünf Dekorationspuppen – alle mit lockigen Perücken, .zum Teufel! – in den verschiedensten Lederkostümen träumerisch an; am liebsten hätte ich einer von ihnen die Locken abgenommen, wenn das nicht auch wieder einigermaßen auffällig (und noch dazu illegal) gewesen wäre!

Na – aber wenigstens für das make-up wußte ich jetzt, was ich wollte: mit meiner neuen Story – „wir brauchen da für eine Aufführung…“ – besorgte ich mir einen Satz preiswerte falsche Wimpern, ein Fläschchen flüssigen „Eye-Liner“ mit einem feinen Pinsel, eine Tube make-up-Creme und, als ich feststellte, daß das Geld noch reichte, künstliche Fingernägel, die wie Blättchen an einem Plastik-Stiel aufgereiht waren, und eine Flasche roten Nagellack. Fast zehn Mark ausgegeben – aber dafür brauchte ich dann heute eben kein Essen mehr!

Als ich zahlte, war es mir für einen Augenblick, als tauche hinter einer Spiegelsäule nocheinmal die eckige Hornbrille meines Tischnachbarn von vorhin auf – aber bis ich mich vergewissern konnte, war niemand mehr zu sehen. Und wenn schon – schließlich hatte der gute Mann ja auch das Recht, hier im Kaufhaus hin- und herzugehen, soviel er wollte? Begann ich schon Gespenster zu sehen?

Ich fragte die Dame, die mich – freundlich, aber offensichtlich ohne tief über meine Story nachzudenken – bedient hatte, noch nach dem Weg zu der ersten Adresse meines Perücken-Zettels: aber das schien ausgerechnet am anderen Ende der Stadt zu sein! Ich hatte heute kein Glück mit dieser Sache, konstatierte ich, und begann mich auf den Heimweg zu machen.

Der Bus war, wie das Busse so an sich haben, natürlich gerade weg, als ich an der Haltestelle ankam. Dafür entdeckte ich aber etwas anderes, als ich während des Wartens die Schaufenster studierte: in einer Drogerie lagen, in durchsichtige Plastikrollen verpackt, Kunsthaar-Zöpfe zum unwahrscheinlich billigen Preis von acht Mark! War das ein Wink des Himmels? Ich ging hinein und erstand, wieder “für eine Aufführung”, einen schwarzen Zopf. Keine Perücke, aber wenigstens irgendetwas Haarähnliches! Jetzt konnte ich doch ein kleines bißchen zufriedener nach Hause fahren …

Auf der Heimfahrt blätterte ich wieder im Kamasutra – aber der ansonsten so geschwätzige Autor kam nie mehr auf das Thema seiner als Damen verkleideten „Eunuchen“ zurück: lediglich bei der Behandlung der Chancen, Frauen königlicher Harems zu verführen, erwähnte er nocheinmal flüchtig, daß sich junge Männer natürlich als Frauen verkleiden könnten, um sich dort einzuschleichen – verzichtete aber, ganz entgegen seiner sonstigen Art, darauf, nun sämtliche dieser Möglichkeiten im Einzelnen aufzuführen und mit Fachausdrücken zu belegen. Denn er hatte ein weitaus besseres Rezept: die beste Methode von allen sei nämlich, meinte er, sich mit einer Salbe aus der Asche vom Herzen eines Ichneumons, der Frucht des Tumbi und Schlangenaugen zu bestreichen, wodurch man überhaupt völlig unsichtbar werde …

Was mir, da ich weder Ichneumons noch Tumbi zur Verfügung hatte und eigentlich auch gar keine indischen Haremsdamen verführen wollte – obwohl, wie er vertraulich verriet, die Frauen des Königs der Aparatakas ausgesprochen schlampig bewacht würden! – alles herzlich wenig nützte. Immerhin schien es so, als müsse das Tragen von Frauenkleidung nicht unbedingt mit Auparishtaka einhergehen – was mich wiederum einigermaßen beruhigte…

Zuhause angekommen, ging ich als pflichtbewußter Mensch als erstes zur Waschmaschine im Keller, die sich zwar vollautomatisch abgeschaltet hatte, aber natürlich immer noch unter Strom stand – nahm die Bettwäsche heraus, die in der Tat wieder ziemlich sauber geworden zu sein schien, und hängte sie auf der Terrasse – regengeschützt, denn es hatte wieder begonnen, sich zu umziehen – auf den Trockenständer.

Dann allerdings wandte ich mich – aufatmend aus meinen Männerkleidern schlüpfend – den Errungenschaften des heutigen Tages zu. Da waren zunächst einmal meine Luftballons, die ich sorgsam aufblies, bis sie mir die richtige Größe zu haben schienen – nur mißlang der Versuch, sie etwa auch in dieser Größe luftdicht abzubinden, immer wieder!

Aber gerade das brachte mich auf eine grandiose Idee: wenn ich die Dinger statt mit Luft am Hahn des Waschbeckens vorsichtig voll Wasser laufen ließ, konnte ich sie – an dem über den Wasserhahn gezogenen Ansatz – in aller Ruhe hängen lassen, bis ich mit dem Abbindefaden zur Hand war!

Nachträglich erwies sich das aber nur als der kleinste Vorzug – denn wassergefüllt bekamen die Ballons jetzt genau das Gewicht und die Konsistenz einer üppigen Mädchenbrust; und als ich sie in die Schalen des Büstenhalters schob, entdeckte ich noch ein Drittes: über den elastischen Blasen konnte ich die – glücklicherweise keineswegs eisenharten! – Muskeln meines Brustkorbs so zusammenschieben, daß sich ein geradezu erschreckend naturgetreuer Buseneinschnitt aus echtem Fleisch ergab!

Diese Entdeckung faszinierte mich so, daß ich der Reihe nach alle drei Büstenhalter Fräulein Lieselottes ausprobierte und schließlich bei dem blieb, der das beängstigend weiblichste Dekolleté ergab: so echt, daß die zarten, appetitlichen Rundungen, die erst unter dem Stoff völlig unmerkbar in die künstlichen Gummibrüste übergingen, mich selbst spürbar zu erregen begannen …
Fing ich jetzt an, mich in mich selber zu verlieben? Oder vielmehr in meinen neuen, weiblich ausstaffierten Körper? Langsam kannte ich mich selbst nicht mehr aus – aber es war auch viel schöner, nicht nachzudenken und nur diese strammen, schweren Mädchenbrüste genußvoll unter dem glatten Stoff zu streicheln …

Es fehlte nicht viel – und ich hätte mich gleich wieder , am hellichten Tag, aufs Bett geschmissen, um dieses neue wollüstige Gefühl voll auszukosten – doch da schrillte (glücklicher- oder unglücklicherweise, wie man will) plötzlich unerwartet in der Diele unten das Telefon.

Bis ich mich aufgerafft hatte und unten angekommen war, hatte allerdings der unbekannte Anrufer bereits wieder aufgehängt. Wer konnte das gewesen sein? Nun – vielleicht irgendein Anruf für Onkel Anton oder Tante Irma, die sowieso nicht da waren; also hatte der Anrufer , nichts versäumt. Immerhin hatte er mich aber so weit abgelenkt, daß ich mir wieder bewußt wurde, wieviel ich heute noch auszuprobieren hatte, und etwas ruhiger wieder nach oben stieg – nicht ohne dabei freilich genußvoll zu spüren, wie die schweren, weichen Gummiblasen vor meiner Brust bei jeder Treppenstufe ein wenig hüpften wie bei einem strammbusigen Mädel!

Wie erst die Büstenhalter, so probierte ich jetzt alle Kleider im Schrank durch, bis ich das fand, in dem der Ausschnitt am tiefsten war: ein blaukariertes, dirndlähnliches Hauskleid, über dessen viereckig ausgeschnittenem Mieder genügend Raum frei blieb, um mein neugeschaffenes Dekolleté höchst wirkungsvoll zu präsentieren …

Dann ging ich in Badezimmer hinüber, um dort auf dem Waschtisch, vor dem dreiteiligen Spiegel, meine Kosmetika und ihre Gebrauchsanweisung, das Schönheitsheft, auszubreiten. Wie vorgeschrieben, begann ich, ein Handtuch um die Haare gewickelt, mit der Analyse der Gesichtsform – und stellte erfreut fest, was ich eigentlich schon seit gestern abend wußte: ich kam verheißungsvoll nahe an die Idealform – „oval“ – heran. Die Nase war vielleicht ein bischen zu breit – die Brauen sahen natürlich, genau besehen, auch zu schwer aus: aber das konnte man ja alles korrigieren.

Tante Irmas Kosmetik-Ausrüstung war zwar …alles andere als raffiniert – aber wenigstens hatte sie eine Pinzette, mit der ich, über Onkel Antons Rasierspiegel gebeugt, die stärkeren schwarzen Brauenhaare auszuzupfen begann: und dann feststellte, daß ich fast nicht mehr aufzuhören wußte, bis ich endlich alle zu tief oder zu hoch sitzenden Härchen losgeworden war und nur noch eine schmale Braue über einem beängstigend hohen Brauenbogen übrigblieb.

Dann wusch ich das Gesicht gründlich mit Tante Irmas teurer Toilettenseife und begann nun – „hauchzart“, wie das Schönheitsheft es verlangte – die Teintcreme aufzutragen, sie sorgsam nach unten zum Halsansatz hin verstreichend. So, das war auch geschafft.

Zum Problem entwickelten sich jedoch die Wimpern, die zunächst überall kleben blieben – nur nicht da, wo sie hingehörten: und das Anbringen eines Lidstriches wurde zur echten Tortur.

Die sich allerdings lohnte: denn als ich jetzt noch etwas grünen Lidschatten auf den Augenlidern verteilt hatte, strahlten meine Augen faszinierend unter den schweren falschen Wimpern hervor wie bei einer der Damen in den zahlreichen Werbeanzeigen des Hefts.

Mit etwas mehr Routine zog ich jetzt nocheinmal die Brauen – vorsichtig genug der zurechtgezupften neuen Form folgend – nach: und traute meinen Augen nicht.
Allerdings nicht wegen des Effekts – sondern weil ich plötzlich, quer mit Kugelschreiber an den Rand der entsprechend Seite des Heftes geschrieben, die ich zur Kontrolle aufgeschlagen hatte, dort die Worte:

„Telefon 35 78 22 ab 18 Uhr“

entdeckte.

Ein Reklame-Eindruck – wie ich im ersten Moment noch dachte – war das bestimmt nicht: denn man sah deutlich, wie sich die Kugelschreiberschrift auf der Rückseite und der folgenden Seite durchgeprägt hatte.

Und wenn es ein Kugelschreiber war – dann kannte ich auch diese ausgefallene blaugrüne Farbe: Ich sprang auf und suchte nebenan in der Tasche meines Jacketts den Zettel mit den Perücken-Adressen – kein Zweifel, das war der gleiche Kugelschreiber; und diese Telefonnummer mußte der Mann mit der Hornbrille – jetzt stand mir das wieder ganz klar vor Augen – auf die aufgeschlagene Seite des Zeitschriftenhefts geschrieben haben, während ich auf der Toilette gewesen war!

Einen Augenblick lang spürte ich im Unterleib das gleiche Gefühl wie in einem nach unten startenden Aufzug: und er hatte mitangehört, wie ich mir am Stand im Erdgeschoß die Perücken zeigen ließ! Hatte wahrscheinlich auch in der Spielzeugabteilung meinen Kauf der Luftballons beobachtet! Und hatte dann – ganz bestimmt – auch im Erdgeschoß gewartet, bis ich mit der Rolltreppe hinunterkam, um auch noch meine letzten Einkäufe mitzuerleben!

Irgendwo hatte einmal etwas über einen „untrüglichen Instinkt“ gelesen, mit dem „abartig Veranlagte“ einander überall erkennen. Wenn es einen solchen Instinkt gab – und wenn er auf mich „angesprochen“ hatte: dann war es verständlich, daß der Mann mit der eckigen Brille mir weiter nachgegangen war, um Schritt für Schritt meine verräterischen Einkäufe zu verfolgen – schon der dauernde Wechsel der „ Story von der Schwester zum Kindergeburtstag und dann zur „Aufführung” sprach ja Bände! – und wenn er dann noch, als ich draußen war, gesehen hatte, daß ich ein „Lehrbuch der indischen Liebeskunst“ mit mir herumtrug. . . !

Einen Moment später wich meine Panik allerdings wieder kühlerer Überlegung: gut – wenn er das alles getan und beobachtet hatte, was hatte er daraus für Folgerungen gezogen ? Daß ich „einer von denen“ sei? Wahrscheinlich. Daß ich mich als Frau verkleiden wollte ? Ganz bestimmt. Und was hatte er dann gemacht? Eigentlich ja etwas ungemein Diskretes und Zurückhaltendes: er hatte mir seine Telefonnummer aufgeschrieben. Er hatte mich nicht angesprochen – oder vielmehr doch, aber völlig unverfänglich, als er mir den Kugelschreiber borgte – hatte mich nicht angerührt und war auch, das wußte ich nun ganz bestimmt, nicht etwa außerhalb des Kaufhauses hinter mir hergekommen.

Das hieß: er hatte mir – wahrscheinlich in allerbester in solchen Kreisen üblicher Form – die Entscheidung überlassen, ob ich auf seine Telefonnummer zurückkommen würde oder nicht. Wenn ich es nun eben nicht tat, dann kannte er mich nicht – ich ihn nicht – und in ein paar Tagen würde ich sowieso wieder weg sein. Sollte es doch dann irgendeinen Menschen hier in der Stadt geben, der wußte, daß ich ein paar ungewöhnliche Einkäufe gemacht hatte – was ging mich das an‘?! Außer dem allerdings beängstigenden Gefühl, daß ich neuer-dings – ob nun in Mädchen- oder Männerkleidern – einen stetig wachsenden Strom von mehr oder minder eindeutigen Offerten hinter mir herzuziehen begann: und war das nicht irgendwo auch ein Kompliment? – war das alles überhaupt kein Grund zur Beunruhigung.

Ich sah wieder in den Spiegel und klapperte probeweise ein paarmal mit den wimpernschweren Lidern: ich wollte mich jetzt bei meinem Vergnügen nicht stören lassen!

Die obere Gesichtspartie sah jetzt schon ganz phantastisch aus – nun mußte ich noch den Mund richtig hinkriegen. Auch das wurde, trotz Schönheitsheft, eine harte Arbeit, bei der ich immer wieder mit Fettcreme alles abschminken mußte, weil ich irgendwo zu weit herausgepatzt hatte und mehr down- als damenhaft aussah: aber endlich war auch das geschafft – und vollendet!

Ein paar Millimeter nach außen verlegter Schwung der Oberlippe – Bruchteile eines Millimeters verstärkte Unterlippe: was das ausmachte ! Aus einem ganz alltäglichen Männermund war da jetzt ein vor erotischer Lockung geradezu vibrierender Frauenmund geworden – und dazu die verheissungsvoll strahlenden Augen – wenn ich nun doch zum Teufel nur auch noch eine volle Lockenperücke gehabt hätte!

Nun ja – jetzt mußte es eben so gut gehen, wie es ging. Haar genug war ja in dem Kunsthaarzopf – bloß eben zunächst an der völlig falschen Stelle; es brauchte mehr als eine Stunde mühsamen Experimentierens mit Tuch, Haarklemmen, Faden und zum Schluß sogar Heftpflaster, bis ich daraus etwas gezaubert hatte, womit ich einigermaßen zufrieden sein konnte: die linke Seite des etwas asymmetrisch unter dem Rand des Schals befestigten Zopfes, den ich in zwei Hälften geteilt hatte, hing über der Wange in einer Locke herunter, die ich dann nach hinten wieder unter den Tuchrand eingefangen hatte – die rechte Hälfte dagegen schwang sich erst einmal in einer schrägen schweren Welle über die Stirn, ehe sie auch unter dem Tuchrand verschwand; und die äußersten Spitzen der langen Zopfhaare deuteten irgendwo zwischen den Falten am Hinterkopf an, daß dort auch noch damenhaft lange Haare drunterstecken müßten.

Es war eine völlige Freistil-Frisur fern von allem, was das Schönheitsheft für den Sommer empfahl – aber als ich die komplizierte Konstruktion endlich vorsichtig um meinen Kopf drapiert und auf-atmend mit einer Sicherheitsnadel hinten zusammengeklammert hatte, war ich mit der Wirkung vollauf zufrieden: jetzt rahmte wenigstens rabenschwarzes Haar das zarte Oval des Mädchenantlitzes ein – und genau dieser Rahmen hatte zum vollen Effekt noch gefehlt: das war eine Puppe, die man geradezu auf der Stelle küssen wollte!!!

Genau in diesem Augenblick schrillte wieder das Telefon. Einen Augenblick dachte ich mit kaltem Entsetzen an den Mann mit der Hornbrille – aber der hatte gar nicht meine Telefonnummer, sondern nur ich seine! Erleichtert aufatmend sauste ich diesmal in undamenhaftem Tempo die Treppe hinunter – diesmal wollte ich wissen, wer da anrief, schon um beruhigt zu sein.

„Hier bei Lindemann —“ meldete ich mich etwas atemlos.

„Gestatten Sie, hier spricht Mertens – Alexander Mertens“ antwortete eine gepflegte Männerstimme. „Ich hatte vorhin schon einmal angerufen, aber da meldete sich bei Ihnen niemand. Ich hatte gestern die Ehre – “ er unterbrach sich , „aber sind Sie das nicht selbst am Telefon?“

Ich konnte fast nicht mehr: da machte ich mir stundenlange Gedanken über meine Stimme, kickste und knödelte – und dann, wenn ich mich ganz normal am Telefon meldete, erkannte Herr Mertens meine charmante Stimme selbst durch den Draht! Einen Augenblick schwankte ich noch, ob ich nicht doch noch einen Rückzieher machen sollte – aber das Kompliment war zu verführerisch:
“Ja – Herr Mertens!“ flötete ich freudig,. „Wie haben Sie mich denn – ”

„Oh – “ er war schon wieder etwas verlegen, „die Nummer Ihrer Verwandten steht doch im Telefonbuch! Aber weshalb ich anrufe : Zunächst einmal natürlich wollte ich fragen, ob Sie die Aufregung von gestern abend gut überstanden haben – und dann – “ er zögerte wieder etwas (weil er jetzt, wie sich gleich herausstellte, eine faustdicke Lüge produzieren wollte) “ – und dann habe ich heute , das heißt genau genommen war es Strupps, an der Stelle, wo Sie da gestern abend gestürzt waren, etwas gefunden, was Sie vielleicht verloren haben könnten, und da wollte ich nun -„

Ich überlegte, während er sprach: Konnte ich da wirklich was verloren haben? Aber woher oder woraus? Nein, das sah doch viel eher so aus, als habe der erfindungsreiche Herr Mertens den ganzen Tag lang nach einem plausiblen Vorwand gesucht, sich heute wieder melden zu können!

„Gefunden ?!“ fragte ich – am Telefon erheblich mutiger mit der Stimme als im persönlichen Gespräch. „Aber was denn ?!“

„Oh – so ein kleines – äh , Dingsda – wie soll ich Ihnen das beschreiben jetzt am Telefon – sagen Sie, kann ich nicht rasch bei Ihnen vorbeikommen und es Ihnen gleich geben, wenn Sie jetzt doch zuhause sind?“

Alexander, Alexander – lügen mußt Du auch erst noch richtig lernen, dachte ich kopfschüttelnd; ich war neugierig, was er da eigentlich angeschleppt bringen wollte – aber das brachte mich zum eigentlichen Problem zurück: wollte ich denn Herrn Mertens hier im Haus empfangen?

Hätte man mich das vorher gefragt, so wäre meine Antwort natürlich gewesen, daß mir nichts ferner lag, als hier – im geheimen Hauptquartier gewissermaßen – wildfremde Leute zu empfangen: und am allerwenigsten als Mädchen kostümiert.

Aber hatte nun weibliche Unlogik bereits so weit von der Kleidung auf mich selbst abgefärbt – oder war es, weil ich mich ausgerechnet in diesem Augenblick so wunderhübsch herausgeputzt hatte, daß ich geradezu Sehnsucht nach einem Pu-blikum hatte – oder war es wirklich diese verdammte Auparishtaka-Sinnenlust?! – jedenfalls antwortete ich, als er schon etwas beunruhigt fragte:
„Hallo – sind Sie noch am Apparat, bitte ?!“
mit schöner Liebenswürdigkeit:
“Nun ja – wenn es Ihnen nichts ausmacht, Herr Mertens – „

„Aber ganz im Gegenteil!“ versicherte er etwas gar zu ehrlich. „In drei Minuten bin ich bei Ihnen!“

„Also gut – in drei Minuten !“ bestätigte ich fröhlich und hängte ein.

Ich wußte nicht, wie sich ein wirkliches junges Mädchen benimmt, wenn es in drei Minuten den Besuch eines netten jungen Herrn erwartet: ich jedenfalls hopste wie ein aufgeregtes Huhn vor dem Spiegel herum, zupfte hier noch ein Löckchen und da noch das Kleidchen, um alle meine Reize voll zum Tragen zu bringen, und trainierte dazwischen rasch noch die Tonlage für die Begrüßungsworte, knipste das Dielenlicht abwechselnd an und aus – über der ganzen Maskerade war es schon dämmrig geworden – und müßte auf jeden außenstehenden Betrachter den Eindruck holdester bräutlicher Erwartung gemacht haben, bis endlich die Klingel schellte und ich meinen Besucher – der Vorsicht und der Nachbarn halber nun doch ohne Dielenlicht – einlassen konnte.

„Kommen Sie doch herein, Herr Mertens!“ sagte ich mit erstaunlich wohlgelungenem warmem Timbre und schaltete das Licht ein.

Aber wahrscheinlich hätte ich genausogut mit der Blechstimme eines Science-Fiction-Film-Computers sprechen können – Herrn Mertens wäre es nicht aufgefallen: der gute Junge war von meinem Anblick völlig überwältigt.

Wahrscheinlich war es gerade der Kontrast zwischen dem schlichten Hauskleidchen und rustikalen Kopftüchlein einerseits – dem raffinierten und dadurch schon wieder unauffälligen make-up andererseits: oder war es der Ausschnitt, der einem Schenkmädchen in einem Musketier-Film alle Ehre gemacht hätte – jedenfalls sah er mich an wie ein Archäologe, der soeben die Venus von Milo – aber völlig intakt – ausgegraben hat, und brachte kein Wort heraus.
Nun hatte Alexander Mertens anscheinend die geheimnisvolle Gabe, den weiblichen Charme in mir zu ungeahnten Leistungen zu beflügeln, ohne daß ich mich darum im geringsten bewußt zu bemühen brauchte. Ich trat also instinktiv zwei Schritte zurück – dadurch noch besser genau unter dem Licht der Dielenlampe landend – und sagte aus einer momentanen Inspiration heraus schelmisch drohend:
„Und – ganz ohne Anstandswauwau heute ?!“

Immerhin gab ihm das endlich ein Stichwort, um die Sprache wiederzufinden:
„Ach ja, Strupps – nein, den guten Strupps habe ich zuhause gelassen – in fremden Häusern stiftet der oft Unheil, der gute Kerl – „

„Schade – er ist so süüß!“ plapperte das wildgewordene Mädchen in mir weiter.

Aber kommen Sie doch richtig herein – ich bin schon furchtbar neugierig!“

„Hm – ja – vielen Dank!“ rettete er sich erst einmal in seine ihn nie im Stich lassenden korrekten Manieren zurück.

„Wollen Sie nicht ablegen?“ fragte ich, ganz charmante Gastgeberin.

„Oh – nein – ja, doch – danke!“

Ich konnte mich gerade noch stoppen, sonst hätte ich ihm aus versehen aus dem Mantel geholfen – so reichte ich ihm nur mit der Geste einer Orden verleihenden Königin einen Kleiderbügel hin und schritt dann voran ins Empfangszimmer.

Ich persönlich fand die „repräsentative“ Einrichtung von Tante Irmas Haus zwar fürchterlich – aber für einen korrekten Besucher wie Alexander Mertens war sie wie maßgeschneidert. Wir machten beide in einem Höflichkeitswettbewerb, dessen Regeln er erheblich besser beherrschte als ich, wiederholte Anstalten, uns in den Sesseln niederzulassen, dabei aber auf den anderen zuwarten – bis ich schließlich durch ein kühnes Strategem doch, als er sich gerade endgültig niedergelassen hatte, wieder aufstehen konnte:
„Darf ich Ihnen etwas anbieten?“

„Aber bitte nein – machen Sie sich doch keine Umstände – “ wehrte er ab. Aber jetzt wollte ich meine Revanche für gestern abend, wo ich mit meinen Ablehnungsversuchen nie durchgekommen war:
„Aber doch: einen Kognak ? Oder einen Whisky ?“ (Hoffentlich fand ich das Zeug nachher auch im Schrank!)

„Aber ich weiß wirklich nicht – „

„Nun geben Sie mir doch keinen Kooorb !“ schmollte ich. „Ich hätte Sie gestern abend schon mit hereinbitten sollen, nachdem Sie sich so nett um mich gekümmert hatten! Tante Irma hat mir richtiggehend Vorwürfe gemacht!“

Um Himmelswillen, was spann sich denn meine weibliche Inspiration da alles zusammen? Aber es wirkte:
„Also dann einen Kognak !“ ergab sich mein Gast in sein Schicksal.

Gottseidank – Kognak wußte ich, und konnte ihn ohne allzuviel Herumkramen kredenzen. Indessen hatte sich auch Herr Mertens wieder gesammelt und ging nun seinerseits in die Offensive:
„Nun setzen Sie sich aber endlich aber auch und schauen Sie sich an, was Strupps – “ (dieser ahnungslose Komplize!) „- da heute gefunden hat – genau an der Stelle, wo – “ er brach ab („wo ich Sie aus dem Rinnstein geholt habe“ konnte er ja schlecht sagen, und „wo Sie gefallen sind“ gemahnte vielleicht zu peinlich an „gefallenes Mädchen“?)

Nicht ohne Dramatik griff er in die Westentasche seines korrekten Anzuges und holte ein winziges Seidenpapierpäckchen heraus, das er mir über den Tisch zureichte. Ich mußte mich vorbeugen – und gab ihm dabei mit lustvollem Prickeln einen unerwartet tiefen Einblick in meinen ohnehin schon recht freigiebigen Ausschnitt (soll er doch sehen, was wir alles an Lager haben!).

„Wollen Sie es denn nicht auspacken ?“ erkundigte er sich, (ich mußte nicht soviel Gedanken nachhängen, sondern mich wieder auf die Intuition verlassen – sonst fiel ich noch aus der Rolle!).

„Oh ja – entschuldigen Sie – “ Es war fast ein Strapaze, mit den ungewohnten langen falschen Fingernägeln das Papier auseinanderzufalten – aber zumindest konnte ich dabei eine Schau mit meinen jetzt noch viel schmaler und damenhafter wirkenden Händen abziehen. Dann lag das Wunderding endlich vor mir:
Eine winzige silberne Sphinx als Armkettchen-Anhänger. Sehr geschickt gemacht – sowas könnte eine junge Dame wirklich abends im Rinnstein verloren haben!

„Oh – ist die niedlich!“ begeisterte ich mich – aber dann fügte meine computerschnell arbeitende weibliche Intuition hinzu: „Aber soviel Geld hätten Sie doch nicht ausgeben dürfen!“

Es dauerte genau drei Sekunden – ein-und-zwan-zig, zwei-und-zwan-zig, drei-und-zwan-zig, zum Mitzählen – bis die Implikation meiner Worte auch Herrn Mertens klargeworden war: aber dann hatte er auch in seiner methodischen Art alles wieder auseinandergenommen, was in diesen Satz eingepackt war.

„Sie – Sie sind mir also nicht böse ?“ fragte er und sah mich so treuherzig an wie sein Strupps, wenn man ihn mit einem geklauten Knochen erwischt hätte.

“Ich – “ – kleine dramatische Pause – dann ein warmes Lächeln mit niedergeschlagenen Augen: “ – ich bin noch nie auf eine so reizende Art beschwindelt worden!“ (mein Damen-Computer übertraf sich selbst – das war bühnenreifer Dialog! Und das ging noch weiter:)

„Aber – “ Augen auf und strahlender Blick! “ – dahinter komme ich immer: das müssen Sie sich merken, Herr Mertens!“ (… und noch immer kam was: ich hob das Glas und lächelte ihn über den Rand hinweg an) “ – und darauf: Chin-chin!“

„Chin-chin!“ wiederholte er erleichtert (Chin-chin war Blödsinn, weil es nur zu Eiswürfeln im Glas paßte – aber „Prost!“ wäre an dieser Stelle noch weniger gegangen: man soll halt keine Cocktail-Konversation machen, wenn man bloß Kognak auf den Tisch bringt!).

Damit allerdings war der Faden bei mir zunächst mal abgerissen – und bei Alexander Mertens auch (bühnenreife Konversation war ohnehin nicht seine Stärke). Wir saßen also da und schauten uns gegenseitig an.

Irgendwie ist es eine Schande, wie Du mit dem netten Kerl da herumflirtest, sagte etwas in mir. Der kann ja nun wirklich nichts dafür, daß er ausgerechnet auf Dich hereinfallen mußte: Und daß Du ihn jetzt noch immer weiter an der Nase herumführst, ist regelrecht gemein.

Aber reizvoll – verdammt reizvoll, antwortete eine andere Stimme (das wildgewordene Mädchen in mir?). Nun laß mir doch auch einmal mein Vergnügen – ich verspreche ihm ja schließlich nicht die Ehe! Er weiß schließlich genau, daß ich in ein paar Tagen wieder abreise – und es liegt überhaupt kein Grund zu der Annahme vor, daß er etwas anderes will als ein bißchen mit einem netten Mädchen reden. Nun bin ich zur Zeit ein nettes Mädchen – warum also soll ich nicht mit ihm reden ? Und zwar so nett wie möglich ?!

Indessen hatte auch der Mertens-Computer – langsamer und methodischer als mein neuentdeckter, aber dafür auch mit profunderen Ergebnissen aufwartend – gearbeitet.

„Ja – “ sagte er und warf einen philosophischen Blick auf das silberne Sphinxchen auf dem Tisch,“ was wird nun aber aus dem armen Tierchen?“

Auch er schlug jetzt die Augen voll zu mir auf: „Ich meine ja, daß es sich bei Ihnen immer noch wohler fühlen würde als bei mir oder gar im Rinnstein, aber – „

„Müssen wir das denn unbedingt heute abend entscheiden ?!“ Mein Blitzcomputer – mit seiner Spezialität der doppelten Implikation – hatte wieder zugeschlagen: und wieder brauchte der andere seine Zeit, um dieses neue Doppelpaketchen zu sortieren.

“Nein – das müssen wir natürlich nicht h e u t e abend entscheiden!“ stimmte er dann begeistert zu. „Aber – wenn Sie heute abend Zeit hätten – „

Fragender Blick unter falschen Wimpern hervor –
“- dann dachte ich, da Sie ja gestern gar keinen schönen Eindruck vom Spazierengehen in unserer Stadt bekommen haben – und da heute das Frühlingsfest losgegangen ist – „

(Ach ja – das hatte ich vom Bus aus gesehen: ein Riesen-Rummelplatz mit Karussells und Schaubuden!)

„- und Sie Zeit und Lust hätten – natürlich nur wenn Ihre Frau Tante einverstanden wäre – „

(Oh Gott ja – die Tante als Anstandsdame hatte meine wildgewordene Intuition ja auch noch in die Sache hineingemischt!)

“ – dann hätte ich Ihnen furchtbar gern unsere Stadt mal von einer netteren Seite gezeigt!“

Die dritte Offerte! Ich mußte ja Sex aussenden wie eine Radarstation!

Jetzt ist Schluß, befahl die nüchterne Stimme in mir. Jetzt hörst Du gefälligst mit dem Unfug auf.

Gerade jetzt, wo es unterhaltsam wird? protestierte das wildgeworden« Mädchen. Was kann denn schon auf so einem Bummel passieren?!

“Nun ja – also ich weiß nicht – – “ temporisierte ich.

„Sie sind mir also doch noch böse?” Treuherziger Terrierblick – wenn man es genau besah, war der Alex in seiner Art genau so raffiniert wie ich!

“ – – wie das Wetter heute abend wird!“ bog mein unverwüstlicher Computer den Satz rasch noch um. „Es scheint sich wieder ein Regenwetter zusammenzuziehen!“

„Aber – im Regen sehen Sie doch immer besonders reizend aus!“
schoß Alexander Mertens mit schwerem Kaliber in die sich auftuende Bresche – genau mitten ins Herz des Regenmantel-Ticks meines wildgewordenen Mädchens! (ich hatte allmählich das Gefühl, daß sich unsere Flirt-Computer bereits längst einig waren, während wir noch glaubten, uns frei zu entscheiden … )

Es kam, wie es kommen mußte: in einer Dreiviertelstunde würde ich – das hatte ich nun doch herausgehandelt, um keinen allzu auffälligen Publikumsverkehr in Tante Irmas Haus zu provozieren – an Alexander Mertens Haustür klingeln („da meine Tante auch nicht alles zu wissen braucht!“- so kam die gute Tante, die mein Computer rechtzeitig eingespeichert hatte, jetzt zu Ehren – und mich – treulich von meinem Beschützer begleitet – in die sanften Wogen des Rummel-Vergnügens stürzen.

Und damit verabschiedete sich Herr Alexander Mertens – in dem Gefühl, eine siegreiche Schlacht geschlagen zu haben. Das Sphinxchen hatte er wieder eingepackt – es war ja schließlich eine Garantie für den übernächsten Abend …

Viertes Kapitel: Rummel – Bummel

„… so ging er mit seinem Fange zum Bummeln
doch war er noch immer zu bange zum Fummeln …“

Rummelplätze – stellte ich fest – sollte man überhaupt nur als schicke junge Dame besuchen: zweckmäßigerweise begleitet von einem netten jungen Herrn, der einen intensiv, aber zurückhaltend anhimmelt.

Wir erfüllten diese Voraussetzungen fast vollkommen: Alexander Mertens zu hundert Prozent – ich mit den mir nur zu bewußten Einschränkungen; aber zumindest äußerlich fühlte ich mich in bester Form (noch präziser gesagt, in besten Formen).

Ich hatte für diesen Rummel-Bummel wieder das angezogen, was ich inzwischen privat als meine „große Nutten-Uniform“ bezeichnete: Lackstiefel, Regenmantel und Kopftuch (letzteres diesmal freilich über meine mit so großer Mühe drapierten Locken und das alte Tüchlein hinweggebunden, was zumindest dem Volumen nach eine größere .Haarfülle vortäuschte, als ich sie zu meinem Leidwesen derzeit noch besaß); die Umhängetasche hatte ich wieder keß über die Schulter geschlungen, aber den Schirm diesmal zuhause gelassen. Der glänzende Stoff straffte sich wieder aufreizend über meinen Gummibrüsten, und der weite Mantel wippte kokett bei jedem Schritt, den ich am Arme meines Begleiters tat.

Das Einhängen hatte sich genau so selbstverständlich ergeben, wie die Gelegenheit, ihm – das hatte wieder mein losgelassener Flirt-Computer vollbracht – eine vertrauliche Anrede bei voller Wahrung des Inkognitos zu gewähren: als er im Bus endlich auf das – ja seit langem fällige – Thema zu sprechen kam, daß er meinen Namen noch immer nicht wisse, hatte ich ihm mit vieldeutigem Lächeln erklärt:
„Heute abend dürfen Sie mich Sylvia nennen!“

Wieso ich ausgerechnet auf Sylvia verfiel, weiß ich bis heute noch nicht: weder zu Rhea Silvia, der vestalischen Jungfrau, deren nicht so ganz jungfräulichem Verhalten Mars gegenüber die Knaben Romulus und Remus ihre Existenz verdankten – noch zur heiligen Silvia, die (ich weiß nicht, ob auf ähnliche Weise) Mutter des Papstes Gregor des Großen gewesen war, hatte ich irgendeine innere oder äußere Beziehung; aber ich fand den Namen jedenfalls höchst weiblich, kapriziös und passend.

„Sylvia“ und „Alex“ (so hatte ich ihn kühn gekürzt) besiegelten diese – offiziell ja nur auf einen Abend beschränkte – neue Intimität sogleich an einer Bude mit „echtem Alpen-Enzian“ (übrigens einem der scheußlichsten Gesöffe, die mir je – als Mann oder Fräulein – über die Lippen gekommen waren): und entfesselt, wie die Sylvia in mir an diesem Abend nun einmal war, bot sie ihre kirschroten Lippen nach dem verbrüdernden Schluck dem überraschten Alex zu einem ebenso kurzen wie keuschen Küßchen!

Ich selbst war über diese neue Eigenmächtigkeit fast genau so verblüfft wie mein Partner: aber genau wie er höchst gentlemanlike – das heißt, mit einer Mischung aus Zurückhaltung und Energie, die andeutete, daß er sich in der Tat zurückhalten mußte – auf diese unvermutete Offerte einging, so benutzte Sylvia die Gelegenheit, ihn dabei gerade so kurz, daß er Absicht oder Zufall nicht unterscheiden konnte, ihre wohlgerundeten Brüstchen spüren zu lassen. Dann lachte sie ihn wieder an – charmant im unklaren lassend, ob das eine Aufforderung oder im Gegenteil amüsiertes In-die-Schranken-Weisen sei…

Was eigentlich heute abend mit mir los sei – darüber war ich mir selbst in fast beunruhigender Weise nicht mehr klar: ich war abwechselnd schockiert und dann wieder in prickelnder Weise gereizt von den Aktionen dieses Fräulein Sylvia – das sich benahm, als habe es nur auf eine solche Gelegenheit gewartet, um ein Arsenal weiblicher Koketterie loszulassen, das ich selbst nie in mir vermutet hatte! Jetzt wieder am Arm ihres Begleiters, versäumte sie keine Gelegenheit, „ausversehen“ mit der linken Brust oder Hüfte in Kontakt mit ihm zu geraten – immer natürlich nur, wenn irgendeine Wendung oder ein Anhalten vor einer Bude das absolut unverfänglich erscheinen ließ; und das Gefühl warmer, straffer Männerlippen auf dem weichen, einladenden Sylvia-Mund genoß ich noch viele Minuten später in der Erinnerung weiter.

In der Tat verging nur kurze Zeit – dann verlor sich alle Erinnerung daran, daß ich bisher in ganz anderer Kleidung, mit ganz anderen Regeln, in ganz anderer Person durch die Welt gegangen war: heute abend war ich das Mädchen Sylvia – ein ebenso hübsches wie, was mich anfangs so verblüfft hatte, ungemein charmantes Mädchen mit einer eigenen, faszinierenden Persönlichkeit, der ich gefesselt wie der Hauptdarstellerin eines Films zuschaute: nur mit dem Unterschied,,daß ich diesmal mit Leib, Seele, Haut und Haar (wenn auch nur einem Kunsthaarzopf!) in ihr drinsteckte!

Wie auf der Achterbahn (die wir natürlich, Sylvia an den abschüssigen Stellen im entzückendsten Diskant aus voller Kehle kreischend und sich haltsuchend mit Arm und Mädchenbrust an Alex klammernd, genußvoll erlebten) ließ auch ich mich von den überraschend programmierten Spiralen und Sturzfahrten dieser entfesselten Mädchenseele einfach mitreißen: im Stillen wohl überzeugt, daß – genau wie bei der Achterbahn – schon nichts passieren könne.

Daß wirklich nichts passierte, lag wohl überwiegend an Alex, der – bei aller Faszination, die diese entzückende, wohlgeformte und charmante Sylvia auf ihn ausüben mußte – mit einer schon fast übermenschlichen Zurückhaltung perfekter Gentleman blieb: da verirrte sich selbst im Dunkel der Geisterbahn nie die Hand des Arms, den er schützend um meine schmalen Mädchenschultern gelegt hatte, an eine unziemliche Stelle – noch, in der Enge einer Riesenradgondel, etwa auf mein seidenbestrumpftes, verführerisch nahe neben dem seinen liegendes Knie…
Auch das akzeptierte Sylvia in mir mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit: daß sie für Alex nicht „so eine“ sei, bei der man versuchen könnte, am zweiten Abend bereits irgendwo uneingeladen herumzufummeln, schien ihr hundertprozentig klarzusein; dagegen benutzte sie jede Gelegenheit – und sei es selbst das Essen eines Heringsbrötchens – ihn in ungemein damenhafter, aber unübersehbarer Weise darauf aufmerksam zu machen, daß sie eine Frau mit allem, was man sich an Kurven, Grazie und unausgesprochenen Verheißungen nur wünschen könne, sei! Und wenn er es auch nicht in handgreiflichen Gesten zeigte: Sylvia, mit diesem neuentdeckten weiblichen Instinkt in mir, spürte fast körperlich, daß jede dieser Botschaften ihr Ziel erreichte…

Die Krisis diesen Abends kam vor dem „Casino de Paris“ – einer mit rührender Naivität, Ölfarbe und bunten Glühbirnen als das, was man sich vor fünfzig Jahren in Hinterschlummersdorf als „Pariser Leben“ ausgemalt haben mochte, aufgeputzte Schaubude, vor deren verwitterten Gold- und Silber-Stuckfüllungen sich eine herausfordernd geschminkte Dame mit weißvioletten Locken und einem von Taftrüschen strotzenden schwarzen Abendkleid beschwörend bemühte, Besucher anzulocken:
“ … und wieder beginnt in wenigen Augenblicken die neue Vorstellung, die neue Revue, die neue Schau in unserem Casino de Paris -dem Paradies der schönen Frauen!“

Die „schönen Frauen“ standen – zu viert – unbeweglichen Gesichts und innerlich wahrscheinlich in der kühlen Nachtluft frierend, in mehr oder minder paillettenbesetzten Abendkleidern auf der Vorderbühne der Bude und wirkten kaum so, als seien sie soeben einem für sie geschaffenen Paradies entsprungen; der fünfte im Bunde war ein hagerer Mann, dessen Gaunervisage zu seinem Frack ebenso paßte wie die Ankündigung zu der ganzen, Müdigkeit ausstrahlenden Szene.

“Wollen wir uns das Paradies noch näher schildern lassen ?“ raunte Sylvia ihrem Begleiter mit unterdrücktem Lachen zu.

„Lieber nicht – “ sagte Alex ernst, „sonst erfaßt mich nämlich eventuell ein Sinnentaumel – Sie wissen schon, Tannhäuser im Venusberg oder sowas…“

„Genau in solch einer Versuchung wollte ich Sie schon immer einmal sich bewähren sehen: jetzt gerade!“ dekretierte Sylvia streng.

„… und gerade auch Sie, meine Damen: gönnen Sie Ihren Herren auch einmal einen Blick in die Geheimnisse der Stadt der Liebe, des Schööönen Paris!“ knödelte die Violettgelockte vertraulich. „Wir Frauen wissen doch – da holen sie sich den Appetit, aber gegessen wird zuhause – !“

Pflichtschuldigst brachen einige brave Bürgerinnen, die im Vollbesitze ihrer hundertachtzig Kilo am Arme ihrer „Herren“ – biederen Eisenbahnschaffners- und Gemüsehändlersgestalten – vor der Bude stehengeblieben waren, in zurückhaltende Fröhlichkeit über diesen originellen Scherz aus. Ermutigt fuhr die Anpreiserin des Paradieses fort:
„Und da haben wir als erstes unsere charmante Estelle, die mit ihren schönen Künsten …“

Estelle, unter starrem make-up unausweichlich den Vierzigern zustrebend, schaltete ein „charmantes“ Lächeln ein und bewies ihre Kunstfertigkeit, indem sie sich im Verlauf von vier Tanzschritten einmal um die eigene Achse drehte und dabei ein noch recht wohlgeformtes Bein aus dem Rockschlitz blitzen ließ.

„Mich übermannt’s -“ warnte Alex ernsthaft.

“ … Ihnen noch viel, viel mehr zu zeigen als es hier draußen die Behörden erlauben!“ gurrte die Ausruferin. „Und nun erst die reizende Claudette – „
Claudette – rundes Kindergesicht mit kühngeschminkten Lippen und Brauen – knickste mit der Grazie eines jungen Fohlens.

„… könnte sie noch für ein Kind halten,“ (so ganz an der Realität konnte selbst die Weißviolette nicht vorbei), „aber … “ fuhr sie mit geheimnisvoll gesenkter Stimme fort,“ … sehen Sie sie erst in unserer Revue, und Sie werden sagen: nein, das ist kein Kind mehr – “

„Lasterhöhle!“ murmelte Alex schockiert. „Das kann man ja keinem Menschen zumuten … „

„Sie wollen sich nur der Versuchung entziehen – “ zischelte Sylvia zurück, “ – Sie bleiben hier!“

„Aber nun – “ die Anpreiserin hob ihre Stimme und wies auf die dritte „schöne Frau“, “ Sylvia !!!“

Sylvia die Zweite – zweifellos die Bestaussehende der ganzen Runde – warf unter dicken falschen Wimpern einen verheißungsvollen Blick ins Publikum.

„Sylvia Orchidea – das Mysterium von Montmatre! “ fuhr die Ausruferin, mit unerwartetem Sinn für Alliterationen, fort: „Jahrelang in Stätten des Lasters vor lüsternen Augen zur Schau gestellt -„

„Ich sag’s doch: Lasterhöhle!“ flüsterte Alex mir wieder zu.

“ – bis sie endlich der berühmte Gelehrte, Professor Charcot von der Academie Francaise, aus diesem unwürdigen Dasein erlöste und den Medizinern der Welt dieses einmalige Phänomen als unlösbares Rätsel vorstellte – „

Sylvia die Zweite hob einen schwarzen Straußenfederfächer, Rätselhaftigkeit symbolisierend, vors Antlitz.

„Sylvia Orchidea – geheimnisumwittertes Spiel der Natur, über das sich die Wissenschaft heute noch nicht einig ist: Mann oder Weib?!”

Die Erwiderung, die ich auf der Zunge gehabt hatte, blieb mir im Halse stecken.

Wenn ich direkt auch körperlich zusammengefahren war – glücklicherweise fiel es schwerlich auf, denn nach dieser dramatischen Ankündigung reckten auch die anderen Zuschauer, die sich inzwischen angesammelt hatten, die Hälse – als Sylvia Orchidea nun mit wohlberechneter Langsamkeit den Fächer wieder sinken ließ und der Reihe nach ein durchaus weibliches Gesicht mit vollen sinnlichen Lippen, einen schlanken Hals, wohlgeformte Schultern und einen halbentblößten Busen forschenden Blicken präsentierte, .den Fächer dann ganz sinken ließ und provozierend hüftenschwenkend dem Eingang ins Budeninnere zuschritt. An der Tür machte sie noch einmal halt und schmiß, während sie sich lüstern am Türbalken räkelte, einen verführerischen Blick ins Publikum:

„Ist es möglich – “ beschwor die Weißviolette, „kann dieses Bild hinreißender Schönheit, betörenden Reizes – dieser Körper, dieses Antlitz, diese Grazie – “ sie wies ausgestreckten Armes auf die rotlockige Schöne, “ – in Wahrheit ein Mann sein ?!!”

Selbst Alex schien diesmal um einen Kommentar verlegen – ich, verständlicherweise, erst recht.

“Kommen Sie in unsere Schau – sehen Sie es selbst: dann enthüllt sich Ihnen auch dies Geheimnis – das Geheimnis der rätselhaftesten schönen Frau aus dem schööönen Paris !“ Und damit rauschte Sylvia Orchidea mit einem letzten aufreizenden Hüftenschwung durch den Vorhang nach innen.

„Doch nicht minder staunen werden Sie über Frou-Frou mit ihren gewagten – „

Doch im Moment war mir der Sinn für solche Ankündigungen – geschweige denn für geistvoll-amüsierte Kommentare dazu! – völlig vergangen. Diese „Sylvia Orchidea“ (mußte sie – oder er? – sich auch noch ausgerechnet meinen Namen ausborgen?) hatte mich gleich dreifach schwer angeschlagen: zunächst, wie jedermann verstehen wird, fühlte ich mich aus dem Traumland, in dem ich eben noch wohlig geschwebt hatte, jäh auf den Boden der peinlich-schalen Fakten zurückgeholt: ich war eben keineswegs eine charmante, weiblich-überlegene Sylvia – sondern ein mit Luftballons, Schaumgummipolstern und Kunsthaar für acht Mark aufgeputzter junger Mann, der (ein heiß-kaltes Gefühl der Scham begann in mir aufzusteigen) nicht einmal ehrlich genug war, seine Abnormität in einer Schaubude auszustellen, sondern geschmacklos genug, damit einen völlig harmlosen, netten Kerl, der ihm nichts Böses getan hatte, hereinzulegen! Wenn ich nun schon nicht normal, sondern abwegig veranlagt war – welches Recht hatte ich, den unbeteiligten Alex in meine Abnormitäten mitzuverwickeln?!

Doch zugleich mit dieser lähmenden Ernüchterung stieg, sie überlagernd und fast in den Hintergrund drängend, eine ganz andere Gedankenkette in mir auf: bis jetzt war die Idee, als Mann Frauenkleider anzulegen, meine ganz persönliche, einsame Passion gewesen. Gewiß hatte ich irgendwo gelesen und gehört – und jedes Wort darüber begierig verschlungen! – daß es sicher auch andere Männer („Damenimitatoren“, gelegentlich in Zeitungsmeldungen erwähnte „Gauner“ oder „Abwegige“ – oder meinen speziellen Helden, den „schönen Conny“) geben mochte, die auch so etwas taten: aber das waren weltenferne, unpersönliche Berichte gewesen – jetzt hatte hier, kaum fünf Meter von mir entfernt, so ein Mann gestanden: lustvoll-erschreckend „echt“ hergerichtet – im hautengen Goldlamee-Abendkleid – mit üppiger tizianroter Perücke! Auch so einer wie ich!

Und ganz offenbar – während ich der lächerlichste Anfänger war – ein Routinier in diesen Dingen: ohne die Ankündigung der Ausruferin wäre ich nicht im Traum auf die Idee gekommen, ihn für etwas anderes zu halten, als was er schien – eine „tolle Frau“!

Wie machte er das? Wie war er überhaupt dazu gekommen? Wie lebte er, wenn er nicht auf der Schaubudenbühne stand – auch als Frau? Oder in Männerkleidern? War das für ihn nur eine artistische Rolle – wie für irgendeinen. Schauspieler, der im Film Frauenkleider anziehen mußte – oder spürte er dabei genau die gleiche faszinierende Lust wie ich? Irgendwo ließ mich der Gedanke nicht mehr los, mit dieser „Sylvia Orchidea“ zu sprechen – ihr (oder vielmehr ihm) von meiner abwegigen Leidenschaft zu erzählen, vielleicht gar Erfahrungen, Gemeinsamkeiten, Tips auszutauschen, ihn. gar sagen zu hören: „… endlich kann ich mich mal mit jemand aussprechen, der genau so fühlt wie ich!“?

Aber Unsinn. Der – oder die – hatte gewiß etwas anderes im Sinn, als mit mühsam hergerichteten Amateuren herumzuplaudern. Oder? Noch schlimmer: wenn diese Sylvia Orchidea – „jahrelang in Stätten des Lasters vor lüsternen Augen zur Schau gestellt“ – nun total verdorben, pervers, verbrecherisch war? Nur darauf lauerte, mich, der ich ohnehin schon in erschreckender Weise auf die „schiefe Bahn“ geraten war, endgültig in unaussprechliche Laster einzuführen?! War ich ernstlich sicher, dem widerstehen zu können? Sollte ich solche Menschen nicht lieber wie die Pest meiden – genau so, wie ich diesen seltsamen Telefonruf in der Damenzeitschrift nie benutzen würde!

Denn – und das war das dritte und Erschreckendste: Obwohl – oder gerade weil? – ich wußte, daß all die Schönheit, die sexuelle Ausstrahlung dieser Sylvia Orchidea künstlich, angeschminkt, ausgepolstert und. gefälscht war – irgendwo war mir all das siedendheiß ins Blut gegangen, tausendmal heißer als etwa die Ansprecherei gestern abend: irgendwo in mir stieg es golden-woIkig-schwindelnd auf bei der Vorstellung, diesen üppig-verlockenden falschen Frauenleib in meine Arme zu reißen, seine künstlichen Brüste und Hüften gegen meine zu pressen, mit den Händen in den Locken dieser Frauenperücke zu wühlen und diese lüstern zurechtgeschrninkten Lippen zu küssen – und dabei mit einer hämischen, niederträchtigen Freude zu wissen, daß das alles Schwindel, Trug und Täuschung war, daß unter diesen roten Locken ein Männerscheitel, hinter den schweren Brüsten ein platter Männerleib, unter dem enganliegenden Rock ein praller Schwanz versteckt lag!!!

„Ja – wollen wir nun – oder nicht?“ riß mich Alexanders Stimme aus diesen irren Träumereien. Ich fuhr auf: inzwischen hatten sich offensichtlich genug Interessenten angesammelt, um die Ausruferin zu der dringlichen Aufforderung zu reizen, „unsere Vorstellung – unsere Revue- unsere einmalige Schau in unserem schöööönen Casino de Paris“ alsogleich zu besuchen.

Ja – wollte ich – oder wollte ich nicht? Mühsam versuchte ich mich aus meinen einsamen Gedankenspielen wieder in die Rolle des netten, charmant amüsierten Fräulein Sylvia zurückzutasten. Was würde denn eine ganz normale junge Dame an dieser Stelle sagen?! Ich wußte es nicht mehr! Sylvia, das vorhin noch so unfehlbar funktionierende „Mädchen in mir“, hatte sich scheinbar in unerreichbare Ferne zurückgezogen und ließ mich – in ihren Kleidern, ihrer Rolle – allein und hilflos zurück…

„Was meinen Sie?“ versuchte ich verzweifelt die Entscheidung Alexander zuzuschieben. Aber der schien – vielleicht, weil ich mich in den letzten Minuten so still und seltsam verhalten hatte, fuhr es mir mit neuem Schrecken durch den Kopf? – auch merkwürdig unentschlossen:
„Ihr Wunsch ist mir Befehl!“ gab er – schien es nur so, oder war es wirklich nur ein lauer Aufguß seiner früheren lustigen Laune? – zurück.

Ich gab mir einen Ruck: Du bist jetzt total unfähig, die charmante Sylvia zu spielen, wenn Du mit ihm weitergehst – wenn ihr hineingeht, hast Du erst einmal etliche Minuten Zeit, Dich wieder zu fangen, sagte ich mir (und außerdem siehst Du die Sylvia Orchidea wieder, ergänzte eine schleimig-hämische Stimme im Hintergrund … ).

„Also dann hinein in unser schööönes Casino de Paris!“ antwortete ich mit einem müden Versuch, wieder in den alten amüsierten Tonfall zurückzukehren.

Fast schien es, als habe unser Entschluß, die „schöne Schau“ zu besuchen, nun auch den Bann bei den übrigen Zuschauern gebrochen – denn hinter uns drängten sich nun auch brave Bürger, picklige Jünglinge und ein paar junge Paare zur Kasse, an der die Violettgelockte mit nüchterner Geschäftsmäßigkeit Zweimarkstücke kassierte. Die Bude – Bänke aus Holzbrettern vor einer winzigen Bühne mit schäbigem purpurrotem Vorhang – füllte sich zusehends, wenn auch, trotz der Versicherung „Die Vorstellung beginnt sofort!“, noch einige Minuten vergingen, bis auch die hinteren Bänke so besetzt waren, daß die „Direktion“ (repräsentiert wohl durch die Violette und den Galgenvogel im Frack, der sich als „Hellseher“ betätigen wollte) es tatsächlich für rentabel hielt, anzufangen.

Alex – wie immer vorbildlicher Kavalier – hatte für uns Plätze in der vordersten Bankreihe ergattert; mit dem – beabsichtigten oder unbeabsichtigten – Ergebnis freilich, daß wir in drangvoller Enge saßen: Alex zu meiner Linken, zu meiner Rechten ein feister Bäckermeisterstyp, der – ganz im Gegensatz zu meinem Begleiter – gar nicht abgeneigt schien, diese Enge zu allerlei Kontakten mit meinem rechten Knie und Brüstchen auszunutzen. Hätte mich das vor kurzem vielleicht noch amüsiert, zog ich mich jetzt wie ein scheues Reh nach links zurück – und konnte, als wiederum etwas unerwartete Folge, konstatieren, daß Alex (nach einem fragenden Blick, ob mir das wohl um Himmelswillen auch recht sei!) schützend seinen Arm um meine Schulter legte und mich so, zumindest oberhalb der Gürtellinie, gegen den unternehmungslustigen Dickwanst abschirmte. Es wäre durchaus wohlig gewesen, so in seinen Arm geschmiegt zu sitzen – wenn ich das Mädchen Sylvia von vorhin noch in mir gehabt hätte: aber hatte das sich, vor diesen irr-lüsternen Phantasien von eben nicht entsetzt ins Reich der Ideen zurückgezogen?

Nun – vielleicht (hoffentlich!) kam sie langsam zurück; der Beginn der Vorstellung – gurrend von der Weißvioletten als „Pariser Wäsche-Modenschau“ angekündigt – jedenfalls war kaum geeignet, den geilen Wollüstling in mir weiter zu locken: die ältliche Estelle und die zu junge Claudette (im Mittelwert hätten sie zweimal das Richtige ergeben) sowie die farblose Frou-Frou hopsten in Hemdchen, die zwar durchsichtig, aber im übrigen weder für Weib noch Mann in mir erregend waren, in emsiger Folge über die Bühne und reckten ihre Arme im mehr oder minder erfolgreichem Bemühen, dadurch ihre teils schlaffen, teils unterentwickelten Brüste in besseres Licht zu setzen.

„Lasterhöhle!“ kommentierte Alex schwach.

„5-Tonnen-Laster!“ gab ich, mühsam nach früherer Originalität tastend, ebensoleise zurück.

In der zweiten Abteilung gab sich Madame Exteile redlich Mühe, erotisch aufreizend in einem knappen Büstenhalter einherzutanzen – was nur insofern ein wenig pointenlos blieb, als jedermann sich schon in der vorigen Nummer von Qualität und Quantität des Inhalts dieses Halters überzeugt hatte. Danach betrat die minderjährige Claudette die Bühne, eine Art Vorhängegardine über den schmächtigen Leib drapiert, und absolvierte verbissen ihren „Schmetterlingstanz“, bei dem ein Projektor im Hintergrund erst farbige Flecken, dann mehr oder minder bunte Falter-Fotos auf die wedelnden Schleier warf.

Nach soviel beängstigender Pariser Erotik glaubte man wohl, dem Publikum eine Erholungspause gönnen zu müssen – und „Garvin, der Mann mit dem sechsten Sinn“ begann, Frau Direktor als Medium benutzend, seine telepathischen Fähigkeiten („die die Gelehrten der Academie Francaise in sprachloses Staunen. versetzt hatten“) zu beweisen. In wohlvertrauter Weise tat er das dadurch, daß er im Publikum irgendwelche Gegenstände ergriff, die seine violette Partnerin dank standardisierter Fragen – „Sage mir, was habe ich hier wohl in der Hand? – zum Staunen der naiveren Zuschauer mühelos identifizierte. Dennoch brachte mich (was beweist, daß man nie „nie“ sagen soll!) Garvin, der Mann mit dem sechsten Sinn, in der Tat zu fassungslosem Staunen – und zugleich dazu, daß Fräulein Sylvia aus ihrem Exil zurückzukehren begann; und das kam so:

Hinten beginnend – weil’s da schwerer aussah – hatte sich Monsieur Garvin. bis zur ersten Reihe durchgearbeitet, wo sein Blick (wieder einmal ein Kompliment ?!) natürlich an mir hängenblieb:
„Und Sie, Mademoiselle — wollen auch Sie mier raischän eine Gegenstand aus Ihre ‚andtaschää?“

„Raischän Sie ihm!“ feuerte mich Alex an, „Aber was Kompliziertes!“

Ich fingerte an Fräulein Lieselottes Umhängetasche. Was „Kompliziertes“ hatte ich da schon drin? Schlüssel, Taschentuch, Portemonnaie, Lippenstift, Puderdose – Personalausweis wäre was Interessantes, wisperte mir eine perverse Stimme zu („Lies wie diese scharrrmantää junge Mademoiselle ‚ eißt ?“ – „Hugo!“) – Blödsinn, aber vielleicht steckte da in dem Nebenfach mit dem Reißverschluß noch irgendwas Ungewöhnlicheres? Ich hatte es ehrlich gesagt bisher noch gar nicht aufgemacht!

Ich zog den Verschluß auf – tastete im Halbdunkel der Bude etwas Glattes, Gefaltetes – zog es heraus –

„O mon Dieu – das sein ßweierlei – wälschääs Sie meinen, Mademoiselle?“ – protestierte Monsieur Garvin in seinem nervenaufreibenden Akzent.

„Das da – “ hauchte ich und drückte ihm ein eselsohriges Foto in die Hand.

„O – ßein ßärr iiiteressann‘: eine Fotoh! Was kannst Du mir sagen ist abgebildet auf diesem Bild?“ (Die Fragen mußten – im Gegensatz zu seinem übrigen Gerede — immer schön in den einwandfreien gestelzten Formulierungen des Codes gegeben werden).

„Das Bild – das Bild – “ stöhnte sein Medium “ – ach – verschwommen – wolkig – eine Frau – eine junge Dame – neben ihr wer? Ein Mann – ein. Mann – ich sehe nichts mehr – doch: die Frau – das Mädchen – sie ist es, sie selbst, die Ihnen das Bild gegeben hat!“

Was bewies, daß ich – zumindest im Halbdunkel und im Kopftuch – irgendwie einigermaßen ähnlich aussehen mußte wie das unbekannte Fräulein Lieselotte.
Aber nicht das war es, was mich zum fassungslosen Staunen brachte: sondern das andere, was ich da zusammen mit dem Foto aus dem Nebenfach der Handtasche geholt hatte und jetzt noch immer wie träumend zwischen den Fingern hielt: eine ganze Reihe säuberlich zu einem Päckchen zusammengefalteter Fünfzigmarkscheine!

So viele Fragen und Komplikationen diese unerwartete Entdeckung in der Folge nach sich ziehen sollte – damals, das weiß ich noch sehr genau, war mein erster Gedanke beim Anblick dieser Banknoten nur: Das ist Deine Perücke …! Und ich fühlte fast schon, wie füllige Frauenlocken meinen Nacken zu umspielen begannen …

Dieser Gedanke war so übermächtig, das alle anderen, naheliegenderen Fragen – woher kommt dieses Geld? darfst Du es überhaupt anrühren? Wieso hat die Lieselotte es einfach mit ihren Sachen zurückgelassen? – mir erst einzufallen begannen, als ich bereits wieder unterbrochen wurde:

„Ist das rieschtiesch ?“ fragte Monsieur Garvin stolz und hielt mir das Foto – Fräulein Lieselotte in einem mir unbekannten Kleid neben einem ebenso unbekannten jungen Mann – unter die Nase.

„Stimmt das?!“ mischte sich auch der Dicke neben mir ein und beugte sich mit gespieltem Interesse zu mir herüber – dabei wie von ungefähr seine linke Hand genußvoll auf meinen Oberschenkel stützend.

„Ja – das ist richtig – “ bestätigte ich dem Hellseher mit strahlendem Augenaufschlag, „aber das -“ mit spitzen Fingern nach der Hand des Dicken greifend, sie wie ein unangenehmes Tier emporhebend und dann verächtlich fallenlassend “ – ist nicht richtig!“

Der Dicke murmelte etwas und schrumpfte spürbar in sich zusammen; Alex warf ihm einen halb empörten, halb amüsierten Blick zu; Monsieur Garvin wandte sich diskret dem letzten „entliehenen Objekt“ zu – ich aber kuschelte mich wohlig in den schützenden Arm meines Begleiters und spürte eine weiche, sanfte Welle der Beruhigung in mir aufsteigen: Sylvia war wieder zurückgekehrt – mit ihrer blitzschnellen weiblichen Intuition, ihrer charmanten Überlegenheit und, so hoffte ich wenigstens, Selbstsicherheit. Jetzt konnte mir nichts mehr passieren – mit soviel Geld in der Tasche und soviel Sylvia im Leib…

Ich sollte diese Beobachtung später noch öfter und präziser machen: bei all ihrer faszinierenden Persönlichkeit war diese Sylvia in mir im Grunde ein höchst naives Frauenzimmer – in unerwarteten Komplikationen, angesichts roher Sexualität (oder aber, wenn sie das Gefühl hatte, nicht so hübsch zu sein wie andere) fiel sie wie eine viktorianische Lady in Ohnmacht: um aber bei jedem verlockenden bißchen Damenputz (sei es nun ein fesches Kleid oder eine neue Perücke) – ganz zu schweigen von Komplimenten! – sofort wieder voll ins Leben zurückzukehren!

Die Bewährungsprobe kam sogleich: Fräulein Frou-Frou hatte – unter wohlverdientem Applaus – in einer lebensgefährlichen Verrenkung das Taschentuch, das hinter ihr auf dem Boden lag, mit den Lippen aufgehoben (und dabei, damit auch der lüsternere Teil des Publikums nicht zu kurz kam, ihren Oberleib beachtlich aus dem knappen lila Korsett recken müssen); nun verschwand sie knixend – der schäbige Purpurvorhang, vor dem sie ihre Kunst gezeigt hatte, öffnete sich wieder -und, kurvenreich auf eine weiß-goldene Chaiselongue gegossen, zeigte sich dem Publikum zweifellos der Höhepunkt der Vorstellung: Sylvia Orchidea.

Zu den schmeichelnden Klängen der Barkarole aus „Hoffmanns Erzählungen“, die überraschend wohltönend aus den Lautsprechern hinter der Bühne drangen, räkelte er-sie sich kurtisanig in den Polstern, umarmte die weißen Schultern („komm, oh komm, oh Lie-hie-besnacht …“) mangels. Partners mit den eigenen, damenhaft schlanken Händen, strich, sich langsam weiter nach unten tastend, wollüstig über Busen, Taille und Hüften und reckte dann, sich sehnsüchtig aufsetzend (“ … oh sti-hil-le das Verlangen …“), ein empörend schönes Damenbein im schwarzen Netzstrumpf aus dem Schlitz des enganliegenden Goldlameekleides.

Netzstrümpfe will ich auch, dekretierte das Mädchen Sylvia in mir, die machen unerhört schöne Beine.

Wenn sich dieses Bein so anfühlen würde, wie es aussieht, flüsterte eine andere Stimme in mir dazwischen.

Warum drückt der Alex mich auf einmal so an sich? fragte ein dritter Teil mit sanfter Verblüffung.

Aber nun hatte sich Sylvia Orchidea (“ … schöner als der Ta-hag uns lacht …“) endlich vollends erhoben, das Bein vorerst wieder in den schimmernden Falten des Rocks verschwinden lassend, und wandte sich erneut ihren weißen wohlgeformten Schultern (“ … die schö-hö-ne Liebesnacht .,.“) zu, um dann die Hände nochmals schmeichelnd (“ … Zephire lind und sacht, die uns kosend umfangen …“) über den ganzen üppigen Leib gleiten zu lassen – wobei irgendwann unmerklich das Kleid in diesen Händen hängenblieb, in dessen flimmernden Stoff er-sie übermannt das Haupt vergrub (“ … Zephire haben ; mir – Deine Küsse gebracht … !“) und dann (“ … ja-ha ah-aah . . .“) diese überflüssige Hülle zu Boden gleiten ließ: einen träumhaften, den goldpailletenbesetzten Halter fast sprengenden Busen ‚und darunter eine fast ebenso traumhafte Taille über üppigen Hüften in knappem, gold-und-schwärz glitzernden Höschen enthüllend!

So ’ne Figur schaffe ich auch, kommentierte Sylvia in mir katzig, sogar mit noch schlankerer Taille – wenn ich bloß den Fummelskram dazu hätte! Dich jetzt abtatschen, wie es der Dicke vorhin versucht hat …! – hechelte die andere Stimme. Wo hat der Alex seine Gedanken – und wo hat er auf einmal seine Finger? alarmierte ein dritter Teil.

Aber nun schien Sylvia Orchidea – nach aufreizend langsamem, geilen Wiegen des Leibs und erneutem Streicheln ihrer weißen Haut mit dem schwarzen Straußenfederfächer – langsam auch der Überzeugung geworden zu sein, daß die Liebesnacht nun endlich kommen müsse: mit einem verheißungsvollen Blick unter den langen falschen Wimpern hervor wandte er-sie nun den – schlank-weißen – Rücken zum Publikum und begann, schräger Hüfte die schönen Beine reckend, endlich („Stih-le da-has Verlaaangen!“) am Büstenhalterverschluß zu nesteln.

och dann verzögerte sich das Unvermeidliche nochmals, weil beim Umwenden der Straußenfederfächer nur die schönen Schultern freigab, während Sylvia Orchidea mit der anderen Hand den winzigen (wo zum Teufel hatte er die Polster gelassen?!) Büsterhalter mit vieldeutigem Lächeln pendeln ließ. Nocheinmal wiegte er-sie sich verführerisch in den Hüften, während die Damen des Barkarolen-Duetts im Lautsprecher sich zum Finale steigerten („Schö-hö-ne Lie-hie-bes*-nacht !!!“) – um dann, während die schwüle rot-violette Bühnenbeleuchtung jäh in nüchternes Weiß umschlug, mit kühnem Schwung den verhüllenden Fächer nach links – die tizianrote Lockenperücke nach rechts wegzureißen – und sich steif zu verbeugen.

Der Schock war – trotz allen vorbereitenden Wissens – perfekt: Silvia Orchidea hatte nicht nur eine brettplatte Männerbrust — sondern auch eine Vollglatze.
Einige Frauen – vielleicht solche, die draußen die Ankündigung nicht richtig mitbekommen hatten – quiekten schrill vor überraschtem Vergnügen (es faszinierte mich später immer wieder, daß Frauen von einer vollendeten Imitation – genauer gesagt, von deren Enthüllung – in einer ganz eigenartigen Weise erfreut und begeistert sind: so als wollten sie ausdrücken „ätsch, da bist Du geiler Bock aber schön hereingefallen“ oder was immer sich in ihrem Hirn dabei abspielen mag).

Sylvia in mir war sanft damenhaft schockiert (eine Lady, und sei sie noch so männlichen Geschlechts, tut so etwas nicht!). Hinreißend häßlich, stöhnte die andere Stimme in mir verzückt. Jetzt hat aber der Alex seine Hand auf meinem Schenkel, konstatierte der dritte Part verblüfft.

Der Vorhang war rasch gefallen – und die Frau Direktor scheuchte uns jetzt geradezu aus der Bude, weil sie inzwischen eine neue Ladung Schaulustiger aufgesammelt hatte, die schon hereindrängten.

Auch ich stand auf, Sylvia nahm die Gelegenheit wahr, im Gedränge wiederholt mit allen Kurven gegen Alex Leib gedrängt zu werden, und dann standen wir in einer Gasse neben der Bude in der kühlen Abendluft.

„C’est Paris!“ sagte Sylvia und holte tief Luft.

„Das kann man wohl sagen – “ bestätigte Alex mit ungewohnter Düsterkeit, legte – wie selbstverständlich – seinen Arm um Sylvias Taille (und die ist schlanker als bei der Orchidea, triumphierte diese), und wir bogen wieder in den Strom der Rummel-Bummler auf der Hauptstraße ein.

“Also jedenfalls – “ resümierte Alex, nachdem wir eine Weile stumm nebeneinanderhergewandelt waren, als müsse er das Kapitel unbedingt noch offiziell abschließen, „war diese Orchidee da um Klassen besser als alles andere – so etwas könnte in jedem Nachtklub auftreten statt in dieser Bruchbude!“

“Ach – und ich dachte, das wäre ein Nachtklub gewesen?!“ verwunderte sich Sylvia mit weitaufgerissenen Kleinmädchenaugen. „Nun bin ich aber enttäuscht!“

Und was interessiert Dich eigentlich an dieser falschen Orchidee da? fauchte sie innerlich. Wenn Du für verkleidete Männer schwärmst, haste ja hier einen am Arm!

“Soll ich Sie denn mal in einen richtigen Nachtklub schleppen?“ griff Alex – nicht gerade virtuos – das Stichwort auf.

„In dieser – “ Sylvia gestikulierte, fast wie ihr Namensbruder, an ihrem Regenmantel herunter, “ – rauschenden Pariser Abendrobe?!“

„Nein – “ räumte Alex ein, „aber wenn wir nun morgen mal ganz groß ausgehen würden?“

Und ich in meiner neuen Perücke, jubelte Sylvia in mir. Und vielleicht reicht es auch noch zu einem ganz tollen Kleid und Schuhen?

„Sie sind ein raffinierter Wüstling, der unschuldige Mädchen vom Pfade der Tugend locken will!“ tadelte Sylvia streng, und fügte dann im gleichen Ton hinzu: „Versuchen Sie es weiter so!“

„Am bösen Willen soll es mir nicht fehlen – “ gab Alex inspiriert zurück.

Aber jetzt hielt ich es nicht länger aus – jetzt mußte ich erst einmal dieses vom Himmel gefallene, wundersame Perückengeld, das all meine Probleme zu lösen versprach, in Ruhe anschauen und zählen – und da es sicher einigermaßen seltsam ausgesehen hätte, wenn ich das mitten auf dem Festplatz getan hätte, sagte ich kühn:
„Darf ich Sie mit diesen finsteren Plänen mal eine Minute allein lassen?“

Alex stutzte erst – aber dann wurde ihm klar, daß auch das ätherischste Wesen einmal menschliche Bedürfnisse haben könne.

„Selbstverständlich – dort drüben, glaube ich“, fügte er, hilfsbereit wie immer, hinzu – und stürzte mich damit, ohne es zu ahnen, in ein neues Abenteuer.

Nicht, daß ich etwa nun auch noch (wie es das ja geben soll) der erotischen Faszination der Damentoilette im anderen Sinne des Wortes erlegen wäre – glücklicherweise gab es auch noch einige wenige Perversionen, die keinerlei Reiz für mich hatten; zudem war die – von einer fürsorglichen Stadtverwaltung hinter den Buden aufgestellte – fahrbare Bedürfnisanstalt mit Trockenklos wohl auch kaum geeignet, irgendjemand zu faszinieren: sie stank zwar nicht gerade so penetrant wie ein Männerpissoir – war aber im übrigen schwerlich anheimelnder.
Nein, die neue Komplikation nahte diesmal aus einer ganz anderen Richtung – rückblickend gesagt, aus mehreren zugleich, die ich erst im Lauf der Zeit richtig erkannte.

Zunächst aber zog ich mich erst einmal auf ein stilles Örtchen zurück, ließ mich auf der Klosettbrille nieder und holte nocheinmal das Geld aus der Tasche. Beim trüben Licht einer schwachen Glühbirne faltete ich das Päckchen auseinander; daß es etliche Geldscheine gewesen waren, hatte ich ja schon gesehen – aber als ich jetzt in Ruhe zählte, war ich doch nocheinmal erschüttert: Dreizehn – teils alte, teils neue, aber allem Augenschein nach völlig echte Fünfzigmarkscheine. Sechshundertundfünfzig deutsche Mark.

Das Ganze begann immer mehr die Qualität eines legendären Wunders (ähnlich dem Rosenkörbchen der heiligen Hildegard – oder wer war es?) anzunehmen. Sechshundertfünfzig Mark waren – wenn ich Tante Irma für unwahrscheinlich großzügig einschätzte – immer noch mindestens zwei Monatsverdienste des Hausmädchens Lieselotte. real gesprochen, also eher das, was sie sich in einem halben oder ganzen Jahr hätte zusammensparen können. Und dieses Geld ließ sie dann – genau, wenn sie auf Urlaub nach Spanien fahren wollte! – unbekümmert in der Handtasche zurück? Und kümmerte sich seit fast einem Vierteljahr nicht mehr im Geringsten darum?!

Das war etwa genau so unwahrscheinlich wie die Annahme, Tante Irma habe das Geld als Überraschung für ihren lieben Neffen in Fräulein Lieselottes Tasche versteckt!

Hatte die Lieselotte das Geld – vielleicht in Tante Irmas Haus – geklaut? Und war dann aus Angst vor der Entdeckung nicht mehr zurückgekommen? Das sah zwar zunächst plausibel aus – stimmte aber vorn und hinten nicht: wenn sie nicht gerade übergeschnappt war, hätte sie den Zaster doch 1) mitgenommen oder 2) wenigstens besser versteckt!

Nein – im Augenblick konnte ich mir nur eine Erklärung denken, die zu den Fakten (und übrigens auch zu verschiedenen anderen Seltsamkeiten, die mir jetzt erst auffielen) paßte: Fräulein Lieselotte mußte – neben ihrer Hausarbeit – noch eine andere, sehr viel ergiebigere Einnahmequelle gehabt haben. Und es gab ja ganz in der Nähe eine Stelle, wo junge Damen Geld – wahrscheinlich sogar viel Geld – verdienten: den Törner Wald.

Das paßte mit verschiedenen anderen Dingen zusammen: mit dem unerwartet teuren Regenmantel zum Beispiel, der überhaupt nicht in den Etat eines Hausmädchens paßte – dessen Eignung als Nutten-Tracht ich aber schon am eigenen Leibe erlebt hatte; zu dem kostbaren Satin-Unterrock, der ebenso merkwürdig von Fräulein Lieselottes anderer Wäsche abgestochen hatte; zum „Kamasutra“ im Nachttisch, das durchaus ein – wenn auch etwas altmodisches – Lehrbuch für eine Amateur-Nutte gewesen sein konnte; und vor allem zu dem – für Tante Irma so verblüffenden – Entschluß, sich endgültig in das „süße Leben“ zu stürzen und überhaupt nicht mehr zurückzukommen.

So wenig ich mit der Absicht an die Frage herangegangen war, Fräulein Lieselottes Ehre anzutasten: das schien mir die einzige vernünftige Hypothese zu sein. Sie erklärte zwar nicht – machte aber zumindest plausibler, daß Fräulein Lieselotte mal Geld (wieviel mochte das für sie gewesen sein? Eine Abendkasse?!) in ihrer Handtasche vergaß: wahrscheinlich hatte sie woanders so viel, daß es ihr überhaupt nichts ausmachte. Oder sie hatte es dort als kleine „Schmuhkasse“ gesammelt, während sie ihren Hauptverdienst (der „junge Kerl“, den sie da kennengelernt hatte, nahm auch etwas verdächtige Züge an) irgendwo anders ablieferte?

Möglich, daß meine Logik etwas von dem Wunsch getrübt war, dieses Geld aus dem Spargroschen eines armen Hausmädchens (den anzurühren mir nun doch recht gemein erschienen wäre) in den Sündenlohn einer im Mammon schwimmenden Kurtisane zu verwandeln: spätere Ereignisse zeigten, daß ich bis hierhin nahezu richtig geschlossen hatte. Leider nur nahezu. Aber das merkte ich erst viel zu spät.

Jetzt jedenfalls steckte ich die Scheine befriedigt wieder in die Tasche zurück: eine kleine Anleihe für eine schicke Perücke schien mir unter solchen Umständen durchaus gerechtfertigt – gerechtfertigter jedenfalls, als wie ein Märtyrer neben diesem unerwarteten Himmelsgeschenk in Qual und Verzicht zu versinken, während die Lieselotte sich in Spanien ein feines Leben machte und wahrscheinlich schon total vergessen hatte, daß da in einer abgelegten Tasche noch ein paar Fünfzigmarkscheine moderten!

Ich stand auf, öffnete die Tür der stillen Klause und trat draußen noch vor den Spiegel, um mir die Hände zu waschen und einen Blick auf meine Frisur zu werfen: ich fand mich nach wie vor recht hübsch und zupfte nur mit spitzen Fingern noch ein wenig an den falschen Locken, als ich plötzlich eine Mädchenstimme hinter mir sagen hörte:
„Entschuldigen Sie – „

Ich wandte mich um. Die junge Dame, die mich angeredet hatte – außer mir zur Zeit anscheinend die einzige ‚Kundin‘ des Etablissements – trug einen weißen, flauschigen Wollmantel wie ein Lämmchen und hatte ein hübsches, wenn auch ein wenig strenges Gesicht. Mit ihren glatten, halblangen blonden Haaren erinnerte sie mich ein wenig an einen mittelalterlichen Pagen, der sich als Mädchen verkleidet hat ( “ . , , da trug Bayard der Page der Hökerinnen Kleid… “) oder eine Shakespearesche Heldin, die sich als Page verkleidet hatte („Were it not better, because that I am more than common tall, that I did suit me all points like a man?“). Unglücklicherweise war sie, wie sich herausstellen sollte, weder das eine noch das andere.

„Entschuldigen Sie, daß ich Sie hier so einfach anspreche – “ wiederholte sie und sah mich an wie das sprichwörtliche gehetzte Reh, “ – aber ich bin in einer einfach furchtbaren Situation!“

Nun ist gewiß nach allen Regeln des gesunden Menschenverstands das Letzte, was sich ein als Dame verkleideter junger Mann in einer. Damentoilette auf den Hals holen sollte, ein unbekanntes junges Mädchen in einer „furchtbaren Situation“. Doch vielleicht hatte ich unbewußt das Gefühl, ich müsse dem Schicksal, das mir da so unvermutet Perückengeld beschert hatte, auch einen Gegendienst leisten – vielleicht war es auch bloß einmal wieder die entfesselte Sylvia, die sich jetzt auch an einer „Geschlechtsgenossin“ versuchen wollte: jedenfalls legte ich ihr beruhigend die Hand auf den Arm und sagte weltweise:
„So furchtbar, das wir sie zu zweit nicht packen, kann sie gar nicht sein!“ (Die Rolle der kühnen Amazone war für Sylvia zwar völlig neu, aber offenbar gerade darum sofort reizvoll).

Ein dankbarer Blick aus den braunen Rehaugen belohnte mich.

„Oh – ich wußte gleich, daß Sie – daß ich Sie – “ verhedderte sie sich und schloß dann etwas unlogisch: „Aber ich kann das wirklich nicht von Ihnen verlangen!“

„Sie können mir zumindest – “ wisperte die kühne Sylvia (das war mal wenigstens eine Situation, wo man nach Herzenslust und ohne Stimm-Sorgen wispern durfte!) ihr ermutigend zu, „mal erzählen, worum es eigentlich geht – dann werden wir weitersehen!“

Das Pagen-Lamm-Reh holte tief Atem und sammelte sich sichtlich.
„Ich bin ja selbst schuld – “ begann sie (wie so viele Leute in „furchtbaren Situationen“ verspätet festzustellen scheinen!), „ich hätte gar nicht mitgehen sollen: aber dann hatte ich solchen Hunger – und es sah ja auch erst so aus, als würde alles richtig nett werden: aber dann, fing der Schwede auf einmal an, so merkwürdig zu gucken und zu reden – und dann dauernd mit den Händen – “ Sie schüttelte sich und verstummte.

„Also – jetzt noch einmal ganz langsam von vorn: mit wem sind Sie mitgegangen? Und wer will jetzt was von Ihnen?“ begann Sylvia sie geduldig zu verhören.

Die Geschichte, die sich nach einigem Stocken in immer schnellerem Fluß enthüllte, war im Grunde ebenso unsensationell wie – für die Betroffene – unerfreulich: In ihrem Büro war ein wichtiger Kunde aus Schweden erschienen. Es hatte ewiglange Verhandlungen beim Chef gegeben, sie war als einzige außer der Chefsekretärin im Büro geblieben, um die Vertragsentwürfe noch ins Reine zu schreiben – und dann hatte der Chef, ein Holzgroßhändler, großherzig vorgeschlagen, man solle doch mit den Mädchen rasch noch auf dem Volksfest ein Brathähnchen essen fahren, wenn sie schon so lange im Büro gesessen hätten. Pagen-Lamm-Rehchen – mit leerem Magen und unklaren Vorstellungen von großen Managern – war zunächst begeistert mitgegangen: aber dann hatten Chef und Schwede immer mehr Bier und Schnaps getrunken, wobei der Chef seine Sekretärin und der Gast aus dem Norden das Lämmchen zu betätscheln begann.
„Und ich dachte immer, die Frigga wäre so eine nette Kollegin – aber die will mich doch jetzt regelrecht an den Schweden verkuppeln! Noch nicht mal meine Handtasche hat sie mich mitnehmen lassen, als ich mich hierher entschuldigt hab‘ … “ schloß sie (anscheinend wahrhaftig instinktlos in ihrer Wahl „netter Kolleginnen“) entrüstet.

„Und – warum lassen Sie die ganze Gesellschaft nicht einfach sitzen und verschwinden nach Hause?“ fragte ich nicht unlogisch.

„Aber – ich habe doch keinen Pfennig Geld – noch nicht mal meinen Schlüssel: das ist doch alles in der Handtasche!“ Und, gleich noch Schlimmeres aufzeigend: „Und was passiert dann morgen, wenn ich wieder ins Büro komme? Die machen mich doch fertig!“

„Und – dieser Schwede ist also wirklich vollkommen ekelhaft?“ erkundigte sich die weltgewandte Sylvia vorsichtig – schließlich gab es (ihrer Meinung nach) durchaus naheliegende Auswege aus der Situation! Das Pagen-Reh-Lamm schüttelte sich:
„Erst dachte ich, der ist ganz nett – und harmlos: aber was der alles für Sachen zu sagen anfängt – von Lederkorsetts und Stiefeln und Au – Auparikscha – „

„Auparischtaka?“ erkundigte sich Sylvia fasziniert . ( Fräulein Lieselotte oder ich würden mit dem glänzend ausgekommen sein, dachte sie).

Das Mädchen warf mir einen befremdeten Blick zu:
„Kennen Sie das – was ist das denn eigentlich?!“ Aber dann schüttelte sie sich wieder: „Jedenfalls doch was Scheußliches! Und dann immer diese Tatscherei … „

Nein, konstatierte Sylvia, hier war Hopfen und Malz verloren. Aber schon begann ihr unfehlbarer Computer in anderer Richtung zu arbeiten:
„Nun passen Sie mal auf – wenn Sie jetzt von hier zurückkämen und würden die ganze Gesellschaft einfach nicht mehr finden: dann wäre doch alles in Ordnung, nicht wahr? Im Gegenteil – die müßten sich morgen noch lang und breit entschuldigen, weil sie Sie ohne Handtasche mutterseelenallein auf dem Festplatz sitzengelassen haben…”

Das Pagen-Reh-Lamm riß die Unschuldsäugen weit auf.
„Schon – “ gab es zögernd zu, „aber die warten doch da vorne auf mich – und dann habe ich ja noch immer keinen Pfennig – „

„Sie haben – “ Sylvia griff mit bestimmter Geste in ihre Umhängetasche, “ hier fünfzig Mark. Damit fahren Sie mit dem nächsten Taxi in ein recht teures Hotel, übernachten dort und hängen die Rechnung morgen Ihrem Chef auf – weil der ja Schuld dran war, daß Sie nicht in Ihre Wohnung konnten! Und daß die da warten … “ wieder begann Sylvias Computer zu klicken „…mit dem Auto von dem Schweden sind Sie alle hierhergefahren?“

„Ja – aber – “ Das Pagen-Reh-Lamm starrte noch immer auf den Fünfzigmarkschein in ihrer Hand.

“Dann steht also das Auto hier noch irgendwo in der Nähe? Wenn nun mit diesem Auto – „
Sylvia verstummte, und ihr Schützling blickte mit genau so stummer Be-wunderung zu der geschwungenen Mädchenstirn auf, hinter der sich jetzt offenbar grandiose Pläne zu gestalten begannen. Bewundert zu werden – diesmal der Abwechslung halber sogar von einem Mädchen – beflügelte Sylvias Intuition immer: und in Sekunden fügte sich zur ersten Idee eine zweite und dritte – bis eine satanische Intrige Gestalt gewann.

„Aber das geht doch nicht – “ protestierte das Pagen-Reh-Lamm schwach, als ich ihr in Umrissen die geplante Kampagne schilderte.

„Das werden Sie sehen, wie das geht!“ wischte Sylvia alle Einwände weg. „Los jetzt – zeigen Sie mir, wo Ihre Leute auf Sie warten!“

Hinter einer Bude hervorlugend, erblickten wie das Trio – an die Theke einer Schnapsbude gelehnt und offensichtlich schon wieder einen hebend – alsogleich:
Den Chef – einen strammen, hochgewachsenen Mann in mittleren Jahren, der, leicht angeheitert, seinen seriösen Homburg weit aus der Stirn in den Nacken geschoben hatte, was ihm (völlig zu Unrecht) etwas von einem Chikagoer Gangsterboß zu geben schien; die verräterisch-kupplerische Chefsekretärin Frigga – eine überschlanke, fast hagere Dame Mitte Dreißig, die, im strengem Schneiderkostüm und mit glatt hinten zum Knoten zusammengefaßtem Blondhaar genau so trügerisch seriös aussah, wie ihr Chef zu Unrecht gangsterhaft (daß dieser – äußerlich so kühl-sachliche – Typ öfter als vermutet eher nymphoman ist, wußte ich in meiner relativen Unschuld damals noch nicht); und – der Schwede.

Letzterer war zweifellos die größte Überraschung: wie wohl die meisten Menschen, hatte ich bei dem Wort „Schwede“ unwillkürlich an einen schlanken, hochgewachsenen blonden Wikinger-Nachfahren mit kühnen Zügen gedacht – dieser hier war zwar groß (fast zwei Meter, jedenfalls noch ein Stück größer als der auch nicht gerade kleine Holzhändler), aber auch entsprechend breit – und keineswegs blond, sondern stolzer Besitzer eines tiefschwarzen Kinnbartes nebst ebensolchen Kopfhaars. Mit seiner breiten, fleischigen Nase und (als einzigem nordischen Attribut) hellblau-wäßrigen Augen hinter einer mächtigen Hornbrille sah er eher wie eine Kreuzung zwischen einem russischen Pelzhändler und einem Ölscheich aus; es leuchtete mir jetzt gerade etwas mehr, ein, wieso dem armen Pagen-Reh-Lamm angst und bange vor seinen großen, schwärzbehaarten Pranken geworden sein mochte!

Gar nicht weit von dieser Gruppe entfernt erspähte ich auch den treulich wartenden Alex und glitt – regenmantelraschelnder Schatten einer jungfrauenschützenden Harnischmaid – durch das Gedränge zu ihm hinüber:
„Alex – jeden Abend eine verfolgte Unschuld retten ist zwar etwas viel verlangt: aber jetzt müssen Sie mir helfen!“ raunte ich ihm verschwörerisch zu. „Sehen Sie da drüben den bärtigen Bären ? Aus dessen Klauen müssen wir ein Unschuldslamm retten, das mir gerade auf der Toilette schluchzend an die Brust gesunken ist!“

Natürlich war Sylvia dem etwas sachlich-nüchterneren Alex wieder mal meilenweit voraus – aber nach längerem aufgeregten Flüstern hatte er die Situation doch soweit verstanden, daß er fragte:
„Gut – gern: aber wie ? Soll ich den Wüstling jetzt mal kurz zum Duell fordern – oder – „

„Im Gegenteil: Sie gehen furchtbar freundlich und höflich zu den Dreien hinüber und sagen ‚Ihnen gehört doch der schwedische Wagen, der dort hinten an der Talstraße steht? Bitte kommen Sie doch sofort zu Ihrem Auto – man hat die Scheibe eingeschlagen und versucht was zu stehlen!‘ Woraufhin …“

„Woraufhin die mich erst mal fragen, woher ich wüßte, daß der Wagen. ihnen gehört!“ wandte Alex skeptisch ein.

„Also das tun die als Letztes: erstens gehört ihnen der Wagen ja tatsächlich. Zweitens sind sie durch die Nachricht viel zu aufgeregt – und drittens schon viel zu betrunken, um noch nachzudenken. Zudem verschwinden Sie ja sofort wieder – „

„Ich verschwinde sofort wieder?! Und mit welcher Begründung?”

„Weil Sie sofort weiter zur Polizei wollen, um der auch Bescheid zu sagen -„

„Und hinterher stellt sich heraus, daß ich das nie getan habe! Sehr verdächtig!“

Aber Sylvias Inspiration arbeitete auf Hochtouren: „Überhaupt nicht verdächtig – weil Sie genau das nämlich auch tun! Hier ist doch bestimmt irgendwo eine Polizeibereitschaft – und dort sagen Sie ganz treu Bescheid, an einem schwedischen Wagen in der Talstraße habe man das Fenster – „

„Ja, ja – eingeschlagen und versucht, den Wagen auszurauben – und die entsetzten Besitzer seien schon auf dem Weg zur Stätte des Unheils. Worauf sich Polizei und Schweden am Auto troffen und feststellen – „

“ – daß die Scheibe in der Tat eingeschlagen ist und viele aufgeregte Leute herumstehen!“

Alex sah mich konsterniert an: „Wieso denn das ?!“

Sylvia lächelte triumphierend zurück: „Weil ich zusammen mit unserem Unschuldslamm inzwischen einen Stein hineingeschmissen habe!“

Alex richtete sich mit einiger Autorität auf:
“Sylvia – das geht doch nicht. Erstens ist es Sachbeschädigung, und zweitens viel zu gefährlich. Wenn Sie jemand sieht – “

„Natürlich sieht uns jemand! Weil wir gleich danach in höchsten Tönen zu kreischen anfangen und jedermann in zehn Meilen Umkreis zurufen, wie zwei finstere Gestalten in Lederjacken vor unseren Augen –

„Unmöglich!“ Alex schüttelte entschieden den Kopf.

„Also Alex – nun seien Sie doch kein Frosch! Uns Unschuldsmädchen passiert gar nichts – und da wir zufällig wissen, wem der Wagen gehört, enteilen wir schleunigst, um Bescheid zu sagen – sind längst weg, ehe der Schwede da ist – „

„Also ich weiß nicht – soll ich nicht lieber den Stein – “

Am liebsten hätte er mir in seinem ritterlichen Kavaliersstreben genau den Teil zugeschoben, den ich nicht haben wollte (freiwillig der Polizei auf die Bude zu rücken – so weit ging Sylvias Mut nun doch noch nicht!). Schließlich griff ich kurz entschlossen zur Erpressung:
„Also machen Sie, was Sie wollen – ich geh jetzt mit dem Lamm Steine schmeißen! Sonst dauert das alles nämlich so lange, daß die noch ihre Frigga auf die Suche nach ihr schicken…“

Und damit machte ich kehrt und verschwand, noch ehe Alex sich gefaßt hatte, in der Menge.

Fünftes Kapitel: Komplikationen

„… durch seinen frauenhaften Gang
macht er manch grauenhaften Fang
und mußte nun zwischen gleich zwei Kavalieren,
einer Dame – und Auparishtaka lavieren …”

Sylvias Rettungsaktion verlief (wie ich später feststellen sollte, eine typische Eigenschaft ihrer intuitiven Pläne!) an allen kritischen Stellen ebenso planmäßig wie erfolgreich – um dann an der einzigen Stelle, um die sich selbst der skeptische Alex keine Sorgen gemacht hatte, umso ärger aus dem Konzept zu geraten.

Daß der scheinbar gefährlichste Teil mühelos klappte, hatte meine weibliche Intuition völlig richtig vorausgesehen: wenn harmlose Passanten, vom Frühlingfest heimkehren, eine Scheibe klirren und gleichzeitig zwei holde Mädchen erschrocken aufschreien hören – dann vermuten sie alles in der Welt, nur nicht, daß ebendieselben Mädchen zuvor mit vereinten Kräften (ich war nie sehr sportlich) ebendieselbe Scheibe mit einem Feldstein – glücklicherweise hatte man irgendwelche Zeltplanen mit solchen Steinen beschwert, sonst hätten wir lange nach einem suchen können! – eingeschlagen haben …

So fand sich auch sofort ein guter Bürger, der versprach, solange neben dem Wagen Wacht zu halten, bis wir die – uns glücklicherweise bekannten – Eigentümer alarmiert hätten …

„… und jetzt müssen Sie verschwinden!“ zischte ich dem Unschuldslamm zu.
Gleich kommt Ihr Chef mit Anhang – dann müssen Sie weg sein!“

„Aber – Ihr Geld – “ versuchte sie zu protestieren.

„Ich rufe Sie morgen in Ihrer Firma an – “ sagte ich (was besseres fiel mir nicht ein), „dann können wir das ja ausmachen – jetzt müssen Sie weg!“

„Ach – ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll … „

„Dann tun Sie’s morgen!“ fauchte ich etwas brutal – dieses ewige Getrödel, bis jedermann machte, was ich ihm sagte, begann mir auf die Nerven zu gehen! Aber dann sah mich die gerettete Unschuld wieder so verwirrt an, daß ich sie zum Zeichen, ich sei keineswegs böse, sondern nur in Eile – einen Augenblick freundschaftlich in den Arm nahm, um sie dann mit einem merklichen Schubs endlich auf den Weg zu schicken.

Außer ziemlich viel Wollmantel hatte ich dabei eigentlich nichts von ihr gespürt – aber wenn ich auch gegenüber Damen Sylvias untrüglichen Instinkt gehabt hätte …

Doch davon später.
Im Augenblick hatte ich ganz andere Sorgen: bei meinem eiligen Aufbruch hatte ich natürlich völlig versäumt, mit Alex irgendwas darüber auszumachen, wie wir uns nach erfolgreichem Abschluß der Aktion eigentlich wiederfinden wollten – auf einem immer noch belebten Festplatz keine ganz simple Sache!

Nicht, daß ich – mit meiner wiedergefundenen (durch die letzten Ereignisse sogar unerhört gestärkten!) Sylvia-Courage – nicht auch allein nach Hause gekommen wäre: aber es wäre verdammt unfair gewesen, ihn erst um einen Haufen Mühe und Schwindeleien zu bitten und ihn dann – wahrscheinlich noch um mein Wohlergehen besorgt! – allein auf dem Festplatz herumirren zu lassen!

Immerhin – auf dem Festplatz mußte er ja noch sein (dem Plan nach in der Gegend der Polizeibereitschaft). Also steuerte ich dorthin zurück.

Und dabei bemerkte ich die erste Unprogrammäßigkeit: An mir vorüber strebte – noch immer den Hut im Nacken – mit verständlicher Eile eine Gestalt dem Schauplatz unserer kürzlichen Aktionen entgegen, in der ich unschwer den Chef des Unglückslamms wiedererkannte. Aber wieso strebte er allein?! Wo waren die beiden anderen geblieben?

Die Antwort auf diese Frage hatte ich kaum eine Minute später, als ich böser Ahnung voll wieder den ursprünglichen Standplatz des Trios an der Schnapsbude erreichte: Die standen noch immer dort!

Mochte es nun Verantwortungsgefühl gegenüber dem erwarteten Pagen-Reh-Lamm gewesen sein – oder, wesentlich unethischer, der Wunsch des ollen Schweden, seinen Leckerbissen sicher wieder in die Hände zu bekommen – oder hatten sie einfach schon zu sehr unter Alkohol gestanden: aus welchen Gründen auch immer – sie hatten nach der Hiobsbotschaft nur den Chef losgeschickt, um die Lage in Augenschein zu nehmen.

Das durfte nicht sein. Mein ganzer Plan basierte darauf, daß das arme Reh-Lamm ihre Begleiter eben nicht mehr wiederfinden würde, wenn sie von der Toilette kam (daß sie dort ohnehin schon unverständlich lange hockte, würden sich die anderen in ihrer etwas alkoholumnebelten Stimmung morgen hoffentlich nicht mehr ins Gedächtnis rufen können!); aber wie sollte das je glaubhaft werden, wenn zwei von ihnen noch eisern an der alten Stelle Wacht hielten?

Na ja, gottseidank war ich ja auch noch da.

Ich steuerte also kühn auf die beiden los und sagte (vorsichtshalber zu der Sekretärin, die immerhin noch dienstliche Pflichten zu erfüllen hatte):
„Entschulden Sie – Herr Lescherd – “ (glücklicherweise hatte das Lämmchen den Namen erwähnt!) „läßt Sie bitten, doch sofort zum Wagen zu kommen – wegen der Papiere!“ setzte ich, ebenso allgemein wie plausibel, hinzu.

Das nun wiederum stimmte: auch jetzt kam keiner der beiden auf die Idee, zu fragen, wieso ausgerechnet ich diese Botschaft überbrächte. Aber die tüchtige Frigga hatte mit einem anderen Problem zu kämpfen, das keiner von uns vorausgesehen hatte: der olle Schwede – er hieß, was mich unter anderen Umständen wahrscheinlich zu hysterischen Heiterkeitsausbrüchen hingerissen hätte, übrigens ausgerechnet „Törnewald“! – war nicht gewillt (oder fähig), seinen Platz zu verlassen.

„Sie gehen ßu meine gute Freund Kalle – “ dekretierte er mit schwerer Zunge, „isch warte hier auf das Fräulein Pamela!“

An sich war das arithmetische Problem simpel: zwei Verschwörer können zwar zwei Opfer weglocken – aber das dritte? Wer konnte aber auch ahnen, daß der schwedische Holzhacker (oder was immer er war) die Vandalenakte an seinem Mercedes mit solch souveräner Gleichgültigkeit aufnehmen würde!

Fräulein Frigga war fast genau so verzweifelt wie ich, wenn auch aus etwas anderen Gründen: einerseits wurde ihr immer klarer, das sie mit der Handtasche der armen Pamela auch die Verantwortung übernommen hatte – andererseits verlangte ihr Chef dringend nach ihr – und zu allem Überfluß stellte sich ein wichtiger Kunde bockbeinig und volltrunken mitten auf den Festplatz, wo sie ihn auch nicht allein lassen konnte!

„Sie warten noch auf jemand?“ warf ich mich hilfsbereit in die Bresche. „Wenn ich nun hierbleiben und der Dame Bescheid sagen würde – wie sieht sie denn aus?“

„Wenn Sie das tun wollten – “ griff Frigga erleichtert zu. „Sie hat einen weißen Flausch-Wollmantel und blondes, kurzes Haar – sie wollte da drüben – Sie wissen schon – und wenn Sie ihr sagen, daß wir beim Wagen auf sie warten – „

Ich beschwor, dies treulich zu tun – ja, direkt vor der Toilette ihrer zu harren – und entließ die beiden, Törnewald brummelnd und in der Tat wie ein Bär von der Dompteuse Frigga abgeführt, mit einem Seufzer der Erleichterung.

Jetzt fehlte mir nur noch der gute Alex. Hoffentlich hatte ihn die Polizei nicht mit zum Tatort geschleppt? Aber er wäre doch hoffentlich intelligent genug gewesen, sich unter dem Motto „Ich sollte bloß Bescheid sagen, weil die schwedischen Herrschaften sofort zum Wagen wollten!“ jeglicher Zeugenschaft zu entschlagen? Fürchterlich, wenn man allen Leuten ständig alles erklären mußte, um sicher zu sein, daß sie keinen neuen Unfug trieben!

Nach dem weisen Grundsatz des großen Valentin aus Chestertons „Blauem Kreuz“ – daß man nämlich jemand, von dessen Aktionen man keine Ahnung hat, am besten auch ohne jeglichen Plan findet! – driftete ich planlos über den Festplatz: und fand mich schließlich zu meiner eigenen Überraschung wieder vor der Bude des „Casino de Paris“.

Die „schönen Frauen“ standen – Sylvia Orchidea natürlich wieder in voller tizianroter Lockenpracht – diesmal womöglich noch gelangweilter als vorher herum; die Violettgelockte rasselte ihre Sprüche mit unverminderter Begeisterung herunter – und Monsieur Garvin sah noch gaunerhafter aus als früher.

„… rätselhafte Kräfte, ein sechster Sinn erlaubt es ihm, Experimente auszuführen, die selbst den Gelehrten der Academie Francaise ….”

Ich studierte gerade – mit durch Erfahrung geschärften Blick – das atemberaubende Dekolleté meines Namensvetters, als mich plötzlich sanft jemand von hinten auf die Schulter tippte. Alex, dachte ich automatisch – aber als ich mich umdrehte, ragte vor mir, schwankend aber imposant, die Bärengestalt Törnewalds.

Mit einiger Mühe beugte er sich nieder, bis sein schwarzumbarteter Mund – enzian- und bierduftend – etwa in der Höhe meines Ohres schwebte, und raunte mir verschwörerisch zu:
„Isch – “ er deutete der Sicherheit halber mit der Rechten auf seinen mächtigen Brustkorb „- bin ihr entwischt!“ Er lachte glucksend.
„Isch – “ er neigte sich noch näher zu mir, mich in eine Wolke von Tabak- und Bieratem hüllend, „habe in Schweden auch ßo eine Ssseckretärin.“ Er schüttelte melancholisch sein mächtiges Haupt. „Ißt tüschtisch – ßehr tüschtisch – aber kann man ßich mit ßie amüßieren?!“

Oh Gott, jetzt habe ich den am Hals! dachte ich – seltsamerweise nicht ganz so verzweifelt, wie ich es (entweder als sittsame junge Dame oder als seiner Mängel bewußter Jüngling) eigentlich hätte sein müssen: Dieser schwedische Bär hatte etwas von einem Naturereignis, dem man sich als schwacher Mensch nicht entgegenstemmen konnte.

Dennoch versuchte ich das:
„Aber die Schau hier ist sehr gut zum Amüsieren!“ sagte ich verheißungsvoll (vielleicht ernüchterte Sylvia Orchidea ihn wieder genug, um ihn endlich zum Heimgehen zu bringen).

Er blickte mich kritisch an: „Ssie haben schon geßehen ?“

„Ja – “ nickte ich, „sehr gut – sehr charmant!“ (ich kam mir schon vor wie die Weißviolette).

Aber das war genau das Verkehrte:
„Dann gehen wir nischt noch einmal hinein!“ entschied Törnewald.

Wieder beugte er sich so dicht zu mir, daß sein Bart fast meine Wange kratzte: „Ssoll Isch Ihnen ßagen, was die da ßind?“ fragte er vertraulich, mit beredter Geste auf die Damen des Casino de Paris weisend: „Schschschneeehühner!“
Er nickte philosophisch. „Bloße – Schneehühner!“
„Ssie – “ er drehte mich mit seinen Riesenpranken wie ein Spielpüppchen zu sich um und hielt mich mit ausgestreckten Armen an den Schultern, um mich gründlich zu mustern – „Sssie ßind ßehnmal schschscharmanter alß diese Schschneehühner alle ßußarnmen!“

Jetzt geht das wieder los! dachte Sylvia – pflichtschuldige Verzweiflung mit prickelnder Freude am Kompliment (davon konnte sie bekanntlich, nie genug hören) gemischt. Aber genau das inspirierte sie wieder zu einer auf den ersten Blick irren – aber, wie der Erfolg beweisen sollte, wirkungsvollen Aktion:
„Mein Herr – “ hauchte sie mit niedergeschlagenen Augen wie die arme schöne Gouvernante in Fräulein Lieselottes ‘Um eine Grafenkrone’, „Sie sind sehr – gütig – aber hier, vor all den Leuten – man würde denken – „

Soviel mädchenhafte Scheu weckte selbst in Törnewalds umnebelten Gehirn wieder die Erinnerung an längstvergessene Tanzstundenjahre: er ließ meine Schultern los, reckte seinen riesigen Brustkorb und räusperte sich hörbar.

„SSSelbstverständlich – !“ murmelte er korrekt. „Ingmar Törnewald – “ er deutete wieder, der siche-reren Identifizierung halber, auf seine eigenen Brust, „kompromm – prottim – iert keine Dame – !“ Und dann, nachdem alle meine Worte bis in sein Bewußtsein gedrungen waren: „Gehen wir alßo!“

Das war nun zwar genau wieder nicht das, was ich eigentlich hätte wollen müssen – denn inzwischen begann die auffallende Gestalt Tornewalds, zusammen mit seinen Aktionen, schon fast mehr Aufmerksamkeit bei den Schaulustigen zu erregen, als das ganze Ensemble des Casino de Paris; und als er mir nun – wie sagt man: „mit altväterischer Grandezza“ – seinen Arm anbot, gerieten wir endgültig in den Mittelpunkt des Aufsehens.

Was nun allerdings wiederum insofern nützlich war, als der herumirrende Alex auf den Auflauf aufmerksam wurde und – wieder mal meine Unschuld rettend – auf der Szene erschien.

Diesmal aber mußte der Sylvia-Computer direkten Kontakt mit dem seinen aufgenommen haben – denn er tat nach einem kurzen Blick auf die Situation das einzige, was sie noch retten konnte:
Mit einer superkorrekten Verbeugung trat er auf Törnewald zu, warf sich seinerseits – so gut er konnte – in die Brust, und sagte weithin hörbar wie ein Bühnenschauspieler:
„Alexander Mertens. Darf ich Ihnen meinen Dank dafür aussprechen, daß Sie Fräulein Sylvia sicher durch diesen Festtrubel geleitet haben?“

Törnewald blinzelte einen Moment – was war das nun wieder?! – gab aber dann, in genau so tönender Bühnensprache, dröhnend zurück:
„Eine Ssselbsverßtändlichkeit und eine Ehre!“ – gefolgt von einer Verbeugung, deren Korrektheit und Tiefe ich ihm in seinem Zustand nie zugetraut hätte. „Ingmar Törnewald!“ fügte er – verspätet Alex‘ Vorstellung erinnernd – hinzu.

Das Publikum – endgültig das Casino de Paris vergessend – war fasziniert: sowas gab es also tatsächlich und nicht nur in Dreigroschen-Romanen – es fehlte nur noch, daß die sechsspännige Kutsche mit dem treuen alten Diener vorfuhr.
Fräulein Sylvia – nun gleichfalls bühnenbewußt – dankte ihrem einen Beschützer mit gnädigem Neigen des Kopfes und ließ sich dann, in prächtiger Choreographie, von dem anderen übernehmen.

„Darf ich – “ Alex übertraf sich selbst, „Sie noch zu einem gemeinsamen Abschiedstrunk einladen ?“

“Ich würde mich sehr freuen – “ hauchte Sylvia (angesichts so vieler Zuschauer wieder mal ihrer Stimme nicht sicher – aber deshalb keineswegs bereit, auf ihren Part zu verzichten) dazwischen.

Törnewald zwinkerte wieder. „Abschiedstrunk!“ wiederholte er tief nachdenklich, „Abschiedstrunk – ßelbstverständlich: eine Ehre!“
Und mit einer Behendigkeit, die man seinem massigen Körper wiederum nicht zugetraut hätte, schwenkte er korrekt rechts neben mir ein. Daß wir zum Abgang keinen Applaus auf offener Szene bekamen, lag wahrscheinlich nur daran, daß er zu unerwartet kam.

„Herr Törnewald – “ gab Sylvia in leichtem Konversationston zum besten, „hält die Damen vom Casino de Paris für Schneehühner!“ (Sie war wieder mal völlig übergeschnappt – mit einem Herrn links und einem zweiten rechts!)

„Beziehungsweise Schneehähne!“ erwiderte Alex (der Himmel mochte wissen, was er in Wirklichkeit von dem Ganzen dachte!) ernsthaft.

„Oh – gibt es auch Schnee h ä h n e , Herr Törnewald?!“ himmelte Sylvia (sie konnte keine Erwähnung ihres Namensvetters vertragen, ohne irgendwie eifersüchtig zu werden) zu dem Schweden hinüber.

Was immer er nun auch davon verstanden haben mochte (wahrscheinlich weniger als nichts), Ingmar Törnewald konnte keiner Dame etwas abschlagen:
„Schschschneehähne?“ wiederholte er nachdenklich – bis sich sein Gesicht strahlend erhellte: „Aber ja – ganße Felder davon!“

„Und – völlig ohne Hühner ?” fragte Sylvia, fasziniert von der surrealistischen Wendung, die das Gespräch zu nehmen begann.

Wieder überlegte Törnewald kurz; „Das meißte Jahr ja – “ gab er dann kund, “ – ßie kommen nur in die Laichzeit!“

Es ist schwer abzusehen, welche weiteren Enthüllungen über das Sexualleben der Schneehühner die Weiterführung dieses Themas noch ergeben hätte – wäre nicht Alex, in verständlicher Beunruhigung, jetzt eingefallen:
„Wir bringen Sie doch am besten gleich noch in Ihr Hotel?“

Törnewald kehrte – mit sichtbarer Anstrengung – aus der unermeßlichen Weite der skandinavischen Schneehahnfelder in die Gegenwart zurück:
„Aber erßt – “ erinnerte er sich, „nehmen wir eine Abschschiedstrunk!“

„Eben – „, räumte Alex diplomatisch ein, „das wollen wir ja in der Bar Ihres Hotels tun!“

„In die Bar von das Hotel – ?“ meditierte der Schwede, bis er sich über die Genialität dieses Einfalls voll klargeworden war: „Aber ja – daß ißt gut!“ Doch nun wirkte der einmal gegebene Denkanstoß unerbittlich weiter: „Aber ich ßage Ihnen jetßt noch besser: wir nehmen hier eine Abschschiedstrunk – und in die Bar noch eine!“

Unseligerweise hatte nämlich Alex diese Wendung des Gesprächs ausgerechnet eingeleitet, als wir an der Schnapsbude vorbeikamen, an der Törnewald vorhin schon mit seinen Geschäftsfreunden gezecht hatte – und so gelang es uns nicht, ihn weiterzubringen, bevor wir dort mit ihm ein weiteres Glas (um exakt zu sein, Doppelglas) Gebirgs-Hirnbeergeist geleert hatten:
„Ssssu Ehren – “ betonte Törnewald galant, „von unßere Fräulein Sssylvie!“

„Sylvia!“ korrigierte sie sanft (sich wieder höchst behaglich der Situation hingebend).

“Sssylvie – ja!“ bestätigte der Schwede mit gewisser Endgültigkeit.

Wir brachten ihn schließlich nur von der Bude weg, nachdem er eine weitere ganze Flasche Himbeergeist – „für dem Weg“ – gekauft hatte; jedoch „dem Weg“ erwies sich, unglücklicherweise, als langwierig.

Anders als es Alex erhofft hatte, waren nämlich Taxis am Ausgang des Festplatzes Mangelware – und wenn schon einmal eines auftauchte, stürzten Trauben heimkehrender Familien mit schlaftrunkenen Kindern, angetrunkene Alliierte und andere schwer auszupunktende Anwärter auf es zu. Ein wohlerzogener Mensch wie Alex hatte dabei kaum Chancen.

„Kommen Sssie, Sssylvie – gehen wir!“ brummelte Törnewald mit gutgespielter Harmlosigkeit, als Alex wieder einmal in einen Disput mit einem angeblich schon seit Stunden wartenden Familienvater verwickelt war, und tänzelte mit bärenhafter Grazie auf meine Linke, mir den Arm bietend.

„Wir bleiben !“ erwiderte ich mit der freundlichen Festigkeit einer geschulten Krankenschwester.

„Sssie bleiben ?“ fragte er vorsichtig.

„Ich bleibe – und Sie bleiben!“ bestätigte ich.

“Wenn Sssylvie bleibt – bleiben isch auch!“. entschied er dann. „Aber dann trinken Sssie und isch!“

Und damit offerierte er mir die Flasche Himbeergeist, die unvorsichtigerweise nicht mit einem schwer zu entfernenden Korken, sondern nur mit einer Schraubkappe verschlossen worden war. Wenig gewohnt, Schnaps aus Flaschen zu trinken, bekam ich statt des geplanten damenhaften Nipp-Schlückchens eine mörderische Dosis des scharfen Gesöffs mit – die mir aber, und damit kündigten sich weitere Komplikationen an, unerwartet gut schmeckte. Dann tat Törnewald einen gewaltigen Zug, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und warf danach einen feldherrnhaften Blick auf die Lage.

Eben war wieder ein Taxi herangerollt – aber noch ehe sich weitere Anwärter melden konnten, war Törnewald mit unsicheren, aber schnellen Schritten darauf zugesteuert, blockierte mit seinem mächtigen Leib sämtliche Türen und erklärte sachlich:
„Isch kaufe den Taxi!“

Da er dabei dem verblüfften Fahrer seine – nach Dicke und Format seiner übrigen Persönlichkeit würdige – Brieftasche unter die Nase hielt, klang das gar nicht so unglaubhaft: jedenfalls schien sich der Taxifahrer blitzschnell zu erinnern, daß wir ihn ja „per Funk vorbestellt“ hätten, womit er auch einen der unseligen Familienväter, der sich, eines seiner zahlreichen Kinder auf dem Arm, an die Taxitür gedrängt hatte, abwies.

„Sssie – “ sagte Törnewald, den Mann scharf ansehend, „kaufen sisch auch einen Taxi!“ Und mit abschätzendem Blick auf die Kinderschar: “Einen größßeren! „
Damit drückte er dem sprachlosen Vater einen Geldschein in die Hand und öffnete im gleichen Zug die Taxitür, um sich mit der Grazie eines zur Tränke hinabsteigenden Nilpferds auf die engen Polster zu schieben. Wie der Mann auf diesen unverhohlenen Frühkapitalismus reagierte, war mir zu verfolgen leider nicht mehr möglich, weil mich Törnewald mit gewaltigem Arm aus dem Taxi heraus um die Taille packte und – indem er mich mit dem anderen Arm wie bei einem Judo-Griff einfach in den Kniekehlen vom Boden hob – als zappelndes Paket auf seinen Schoß zog.

Angeblich gibt es einen chinesischen Ratschlag dafür, wie sich Jungfrauen in aussichtsloser Lage verhalten sollen, wenn man sie vergewaltigen will: „Entspannt Euch – und genießt es wenigstens!“.

Viel anderes blieb auch mir hier nicht übrig. Zugeben mußte ich, daß man auf dem gewaltigen Schoß Törnewalds wenigstens genug Platz – etwa wie auf einem mittleren Klubsofa – hatte; auch war ich in meinem stoffreichen Plastik-Regenmantel so gut verpackt, daß keine unmittelbare Gefahr von Intimitäten, die ich mir nicht leisten konnte, bestand. Und als nun auch noch Alex, der die Situation inzwischen endlich erfaßt hatte, die Tür auf der anderen Wagenseite aufriß und sich energisch auf den Sitz neben uns fallen ließ, schien die Lage wieder einigermaßen unter Kontrolle.

„Und wohin bitte ?“ fragte der Taxifahrer geschäftsmäßig.

„Na – in die Bar!“ dröhnte Törnewald, mich noch immer liebevoll an seine breite Brust drückend, nicht ohne Entrüstung darüber, daß solch selbstverständliches Ziel dem Fahrer nicht von allein klar sei.

„Und – in welche bitte ?“ fragte der Fahrer sachlich weiter.

„In die Bar von mein Hotel – natürlisch!“ Der Schwede schien nun über solche Begriffsstutzigkeit ernstlich böse, zumal ihn diese Fragerei nur bei der viel inter-essanteren Beschäftigung störte, mit seinen behaarten Pranken meinen plastikverpackten Oberleib mit inniger Konzentration abzutasten – ich konnte den guten Alex nur durch ausdrucksvolles Mienenspiel davon abhalten, mir (was in dem engen Taxi sowieso praktisch unmöglich gewesen wäre) irgendwie zu Hilfe zu kommen.

„Und welches ist Ihr Hotel, bitte?“ versuchte sich der Taxifahrer wie in einem Quiz-Spiel einen Schritt weiter an die Lösung heranzutasten. „Ich meine – wie heißt es?“ setzte er der Deutlichkeit halber noch hinzu.

„Ja – Sssylvie, wie heißt unßere Hotel?!“ wandte sich Törnewald vorwurfsvoll an mich.

„Fahren Sie erst mal los – wir sagen Ihnen das Hotel gleich!” schaltete sich Alex in gelinder Verzweiflung ein – denn noch immer beobachteten uns, durch die Taxifenster, die unmündigen Kinder der wartenden Familie mit vor Staunen runden Augen.

„Wie Sie wünschen – “ räumte der Fahrer ein und startete – mich dabei nochmal kräftig gegen Törnewalds mächtigen Brustkasten schleudernd.

Leider war es nicht zu leugnen, daß „Sssylvie“ sich schamlos daran amüsierte, wie Törnewalds Pratzen mit geradezu spürbarer Faszination ihre falschen, aber griffechten Rundungen explorierten; was daraus entstanden wäre, hätten wir beide allein in dem Taxi gesessen, war nur schwer zu entscheiden – aber unter dem stabilisierenden Einfluß des danebensitzenden, offensichtlich mit heldenhaften Entschlüssen zum Schutze meiner Unschuld ringenden Alex hatte all das wieder einmal die nützliche Folge, Sylvias Inspiration zu beflügeln:
“Haben Sie nicht im Hotel so ein kleines Kärtchen bekommen – mit Ihrer Zimmernummer?“ erkundigte sie sich hilfreich.

Törnewald blinzelte – in seiner Konzentration auf „Sssylvies“ rechtes Brüstchen, das in seiner riesigen Tatze voll verschwunden war, gestört: „Habe isch – ?“ erkundigte er sich unsicher.

„Bestimmt haben Sie!“ Ich rutschte – nicht ohne daß Sylvia dabei das erregende Gleiten und Streicheln an Gesäß und Beinen genoß – auf dem glatten Plastik meines Mantels ein Stück über seine mächtigen Schenkel und wandte mich voll zu ihm um. „Vielleicht in Ihrer Westentasche?“

Brummelnd gestattete Törnewald es, daß ich – nicht ohne dauernd mit meinen falschen Fingernägeln irgendwo hängenzubleiben (der Teufel weiß, wie verbrecherische Damen Männern die Brieftaschen klauen, wenn sie so lange Nägel haben!) – seine Taschen durchsuchte und dabei – schon Alex zuliebe – langsam immer mehr Distanz von ihm gewann; als ich endlich tatsächlich das Zimmerkärtchen in seiner Brusttasche entdeckt hatte, ließ ich mich – es dem Fahrer nach vorn reichend – auf atmend in die schmale Ritze, die zwischen dem Schweden und Alex noch auf dem Rücksitz geblieben war, gleiten.

Dabei entdeckte nun Törnewald auf einmal wieder, daß er ja auch noch die Flasche mit dem Himbeergeist bei sich habe – und ruhte nicht eher, bis er mir wieder eine beängstigende Dosis eingeflößt hatte: dabei ruhte sein linker Arm noch immer besitzesstolz um meine Schultern – nur daß es nun seine Linke war, die genußvoll und selbstvergessen mit der Rundung des anderen Brüstchens spielte. Das arme Pagen-Reh-Lamm hatte vollkommen recht gehabt: bei sich behalten konnte der gute Ingmar seine Pratzen nicht, wenn er etwas Weibliches in Griffnähe hatte (oder, wie hier, zu haben glaubte); nur schien Sylvia dies bloß als eine etwas andere, handgreiflichere, aber nicht weniger schmeichelhafte Art der Bewunderung aufzufassen wie etwa jene, die sich in Blicken oder Komplimenten ausdrückte.

Dennoch versäumte sie natürlich nicht, Alex durch beredtes Augendeckelklappern anzudeuten, das sie all dies nur im Interesse des lieben Friedens über sich ergehen lasse – auch, als ihr Törnewald zum drittenmal die Flasche mit dem Himbeergeist reichte.

In Wirklichkeit hatte ich ein echtes Bedürfnis nach einen kräftigenden Schluck. Denn inzwischen war mir ernüchternd wieder zum Bewußtsein gekommen, daß ich zwar in Bezug auf weibliche Formen recht überzeugend ausstaffiert war – keineswegs aber (uraltes Problem) in Bezug auf die Frisur. Bis jetzt waren ja die Situationen – trotz ihrer Vielfalt – immer noch so gewesen, daß ich mein Kopftuch über den falschen Locken nicht abzulegen brauchte: aber wenn wir jetzt tatsächlich, wie beschlossen, in der Hotelbar noch einen „Abschiedstrunk“ nehmen sollten, konnte ich das ja schlecht in Regenmantel und Plastik-Kopftuch tun – fast ebenso schlecht übrigens, fiel mir dazu noch ein, in Fräulein Lieselottes kariertem Haushaltsdirndl, dessen freigiebiger Ausschnitt zwar Törnewald gewiß fasziniert hätte: das aber schwerlich in eine vornehme Hotelbar paßte. Und wie es wirken sollte, daß ich dazu wie beim großen Hausputz auch noch ein kariertes Tuch um den Kopf tragen mußte …

“Jetzt aber so schnell wie möglich heim …!” raunte ich deshalb Alex zu, als wir endlich (Törnewald hatte “den Taxi” nun doch nicht gekauft, sondern dem Fahrer nur einen Hundertmarkschein in die Hand gedrückt) in der Hotelhalle standen.
Alex nickte (wenn auch in völliger Unkenntnis meiner wahren Motive) verständnisvoll – aber wir hatten die Rechnung ohne Ingmar Törnewald gemacht, der offenbar während der Taxifahrt (oder des genußvollen Abtastens meiner gummielastischen Reize?) neue Energien gesammelt hatte.

„Tschetßt – “ erklärte er volltönend und schwenkte seine Himbeergeistflasche, „trinken wir dieß noch auß – und dann gehen wir in der Bar!“

Unbekümmert um die befremdeten Blicke des Portiers – glücklicherweise waren wenigstens nicht mehr viele Gäste in der Halle – offerierte er mir die Flasche zum viertenmal; und ich nahm mit dem Mut der Verzweiflung den letzten Schluck. Sylvia, wieder mal durch Haar-Sorgen nervös geworden, hatte jetzt, wo es mal nötig gewesen wäre, natürlich nicht die Spur einer rettenden Inspiration zu bieten; und Alex schüchterne Versuche, den Schweden auf andere Gedanken zu bringen, waren – wenn Törnewald sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte – von vornherein zum Scheitern verurteilt. Was sich die Hotelangestellten beim Anblick einer Himbeergeist aus der Flasche trinkenden jungen Dame dachten, war mir jetzt auch schon egal – jedenfalls hatte ich wieder ein paar kostbare Sekunden gewonnen.

Wie zum Hohn standen in den Schaufenstern und Schaukästen der Hotelhalle die entzückendsten Cocktailkleider – bei dem Frisiersalon sogar elegante Damenperücken – ausgestellt; sechshundert Mark hatte ich auch noch in der Handtasche – nur passierte das alles genau einen Abend zu früh! Und Sylvia fiel und fiel kein genialer Schachzug ein, um das Problem zu lösen …!

Die Lösung kam – freilich nur als Auftakt neuer Komplikationen! – diesmal aus völlig unerwarteter Richtung: und zwar von der Hotelbar, zu der Törnewald – trotz aller Ablenkungsversuche des guten Alex – mit unwiderstehlicher Gewalt hinstrebte: präziser gesagt, kam sie aus dieser Hotelbar – und zwar in Gestalt einer, zwar nicht mehr mit ihrem weißen Wollmantel, sondern einem schlichten, aber salonfähigen Büro-Kostümchen bekleideten – wohlbekannten Dame.

Der Schwede zwinkerte – wie immer, wenn ihm Unerwartetes widerfuhr – unter zusammengezogenen buschigen Brauen:
„Das Fräulein Pamela!“ brüllte er dann freudig über die ganze Hotelhalle hinweg.

An sich war das Ganze keineswegs so unlogisch: Vor das Problem gestellt, sich – ohne Gepäck und auf Rechnung ihrer Firma! – über nacht in einem Hotel einzumieten, wie ihr Sylvia das so kühn empfohlen hatte, war der armen Pamela (naheliegenderweise) nur das Hotel eingefallen, in dem ihre Firma eben Besucher unterzubringen pflegte. Daß naheliegenderweise auch Törnewald dort einquartiert sein könnte, hatte sie entweder nicht bedacht – oder sie hatte, an sich ganz richtig, unterstellt, daß sie ihm dort ja kaum mehr über den Weg laufen werde. Das wäre auch nie geschehen – hätte sie sich nicht, aus welchen Gründen auch immer, hinreißen lassen, nach den Aufregungen des Abends vor dem Schlafengehen noch einen beruhigenden Cocktail in der Hotelbar zu schlürfen; und daß dieser ihr – bei gedämpfter Musik und dem Duft der großen weiten Welt – so gut schmeckte, daß es nicht bei einem blieb, hatte sie exakt solange aufgehalten, bis sie nun (wie die Heldin einer Groschenserie) genau in die Arme ihres lüsternen Verfolgers lief.

Das geschah allerdings nicht wörtlich: Zwar eilte Törnewald – mit zielstrebigen, wenn auch etwas unsicheren Schritten – auf sie zu, um sie aller Voraussicht nach in der Tat in seine Arme zu schließen; aber – von Flügeln der Angst getragen und ihn mühelos überholend – war Sylvia vor ihm bei der, wie das sprichwörtliche Kaninchen beim Anblick der Kobra, erstarrten Pamela.

„Sie freuen sich, ihn zu sehen!“ zischte ich ihr zu und schloß sie dann, in herzlicher Begrüßung, wie eine Langvermißte in die Arme. Uns alle beide auf einmal kann selbst Törnewald nicht umarmen, dachte ich dabei nicht unlogisch. Was sich Pamela selbst bei dieser ganzen Szene dachte, konnte ich nicht ahnen – ich war schon höchst zufrieden, als sie den Schweden, der nun freudestrahlend vor uns stand, in der Tat mit einem tonlosen „Ich freue mich, Sie zu sehen!“ begrüßte. Was nun allerdings weiter passieren sollte, wußte ich auch nicht.

Die Rettung kam diesmal von Alex, der als letzter herbeigeeilt war und – ob aus Inspiration oder nur, weil er instinktiv in solchen Situationen auf seine korrekten Umgangsformen (als unfehlbare Pausenfüller) zurückgriff – Törnewald im schönsten Gesellschaftskonversationston bat:
„Würden Sie mich der Dame bitte vorstellen ?“

Appelle an seine weltmännischen Verpflichtungen waren – wie schon erwiesen – stets geeignet, den Schweden automatisch in Aktion zu setzen; so präsentierte er auch jetzt, mit schwerfälliger Grazie und noch schwererer Zunge – den guten Alex der verwirrten Pamela, die naturgemäß nicht das Geringste mit ihm anzufangen wußte: zumal er, in dem verzweifelten Bestreben, uns allen eine Atempause zu verschaffen, auf keinen besseren Einfall kam, als ihr gewichtig zu versichern, er stamme keineswegs aus der hanseatischen Linie der Familie Mertens, sondern sei vielmehr – wenn sie so wolle – nur ein Namensvetter derselben; sie muß ihn eher für einen entfernten Verwandten des Grafen Bobby gehalten haben.

„Und nun – “ verkündete Törnewald, auf sein urursprünglichstes Ziel zurückkommend, „gehen wir alle in der Bar !“

Jetzt setzte Sylvias Computer, zumindest momentan, wieder ein:
„Oh ja!“ flüsterte sie begeistert. „Besorgen Sie uns einen recht hübschen Platz – wir wollen uns nur – “ sie gestikulierte an sich und Pamela herunter – “noch ein bißchen hübsch machen!“

„Aber daß ßind Sssie doch schon – “ protestierte der Schwede naiv, ließ sich jedoch, als ich, Pamela willenlos hinter mir herzerrend, der Damentoilette zustrebte, von Alex doch in die Bar hinübersteuern.

Es schien, dachte ich mit einer gewissen Distanz (die wohl ursächlich mit dem vielen Himbeergeist zusammenhing), vom Schicksal bestimmt, daß ich die verfolgte Pamela prinzipiell auf Damentoiletten retten mußte; diesmal allerdings war es eine hochelegante, mit Seidentapeten ausgeschlagene und von einer würdigen Matrone bewachte Hotelhallentoilette.

„Keine Sekunde – “ flüsterte das Pagen-Reh-Lamm mit unerwarteter Energie, „bleibe ich mit diesem – diesem Tier unter einem Dach!“

„Aber – “ wisperte ich, durch die neugierigen Blicke der Toilettenfrau merklich gehemmt, „Sie haben doch hier schon das Zimmer!“

„Das ist mir ganz egal!“ Pamela – auch ihrerseits, durch einige Cocktails zuviel, enthemmt – stampfte mit dem Fuß auf den Boden wie ein zorniges kleines Mädchen; dann sah sie mich wieder mit ihren großen hilflosen Rehaugen an: “ Sagen Sie: kann ich nicht bei Ihnen schlaf… – ich meine, übernachten ?!“

Das hatte mir nun gerade noch gefehlt.

Aber auf den zweiten Blick erschien die Idee (wieder von der olympischen Höhe des Himbeergeistes herab betrachtet) gar nicht so absurd: wenn wir uns jetzt – Alex rücksichtslos mit Törnewald in der Bar hockenlassend – still und heimlich aus dem Hotel verdrückten, waren wir (so schien es mir zumindest) eigentlich alle akuten Probleme los: und bis morgen konnten wir dann in Ruhe überlegen, was sich aus den Trümmern unserer scheinbar hoffnungslos zusammengebrochenen Intrige noch retten ließ.

Doch – so überzeugte mich Pamela leise, aber eindringlich – als alleinstehendes Mädchen ohne jedes Gepäck (sie hatte ja noch nicht einmal eine Handtasche bei sich!) war es ihr schon in diesem Hotel nur gelungen, unterzukommen, weil man sie am Empfang zufällig von ihrer Firma her kannte: ich glaubte ihr, daß sie in einem neuen Hotel wieder unlösbare Probleme vorfinden würde – und war es genaugenommen so katastrophal, sie mit in Tante Irmas Haus zu nehmen? Mal abgesehen davon, daß diese mich dort gewiß nicht zum „Hauswächter“ eingesetzt hatte, um es zu einer Art Asyl für verfolgte Mädchen zu machen – Räume und Betten gab es dort ja genug: und was die Nachbarschaft anging, so kam es jetzt auf eine junge Dame mehr oder weniger, die man vielleicht nachts ins Haus verschwinden sah, auch nicht mehr an!

In gewohnter Umsicht – wenn auch befremdlich blind für alle sonstigen Komplikationen, die sich aus diesem neuen Plan ergeben konnten! – begann Sylvia ihn sogleich in die Tat umzusetzen: Ihre Freundin – Pamela zeigte, nach einem sanften Tritt auf den Fuß, ein schmerzverzerrtes Antlitz zur Bestätigung – sei von plötzlicher Migräne überfallen und müsse eilends per Taxi nach Hause geleitet werden, erläuterte sie der Toilettenfrau (die dies, ob sie es nun glaubte – oder dergleichen Fluchten schon öfter erlebt hatte?- verständnisvoll aufnahm); den Herren in der Bar sei dies durch einen Boten – besser noch, fiel mir ein, durch ein paar Zeilen mitzuteilen, die ich hastig (der damenhaften Handschrift halber lieber von Fräulein Pamela, aber unter meinem Namen) auf einen Bogen Hotelpapier, den die hilfsbereite Frau produzierte, kritzeln ließ und an „Herrn Alexander Mertens“ adressierte. Indessen hatte die Wächterin der Frauengemächer bereits per Telefon – vornehme Hotels haben sowas auch dort – vom Empfang ein Taxi bestellen lassen, so daß es uns nur noch oblag, wie scheu sichernde Rehe durch die Halle zu huschen, um nicht nochmal irgend jemand Unpassendem in die Arme zu laufen. Daß die arme Pamela nun auch noch ihren Mantel auf dem Zimmer zurücklassen mußte, entsprach nur dem Stil dieses Abends, ihren gesamten Besitz an den verschiedensten Stellen der Stadt zu verteilen.

Erst draußen in der kühlen Abendluft stellte ich fest, wie sehr mir Törnewalds Himbeergeist in die Beine gefahren war – ich war regelrecht froh, mich neben Pamela in die Polster des neuen Taxis sinken lassen zu können. Wie das aber öfter in diesem Zustand geschieht, beobachtete ich mich selbst dabei von einer höheren Ebene herunter sehr kühl, distanziert und sorgfältig – mit einem gewissen Stolz darauf, daß ich trotz meines leichten Schwebegefühls noch alles richtig machte.
„Ach – Fräulein Sylvia – wie soll ich Ihnen nur danken, daß Sie das alles für mich tun!“ sagte Pamela ernsthaft und sah mich wieder mit ihren großen waidwunden Rehaugen an.

„In solchen Situatschonen – “ erwiderte ich, jedes Wort sorgsam artikulierend, ebenso tugend- wie unwahrhaft, „müssen wir Mädschen doch zßusammenhalten! Zßumal – “ wie Perlen auf einer Kette liefen all die Ereignisse an mir vorüber, die ja die arme Pamela noch kennenlernen mußte, um überhaupt wieder aufs Laufende zu kommen – „ja, wenn Sie das genau nehmen, gerade ich Schschuld daran bin, daß Sie dem Schschweden nochmal in die Arme gelaufen sind!“

Außerordentlich stolz auf meine Sprachflüssigkeit – wenn auch nach wie vor dankbar, daß das, schon des Taxifahrers wegen, wispernd geschehen konnte – versuchte ich ihr die mehr oder minder skandalösen Vorfälle seit unserer Trennung zu schildern; ob mir das so vollkommen gelang, wie es mir damals erschien, daran hatte ich allerdings später große Zweifel. Immerhin konnte ich einige Höhepunkte nicht ausgelassen haben, denn am Schluß fragte Pamela mit unverhohlenem Entsetzen: „Dann hat der Kerl Sie also auch noch belästigt?!“

Sylvia lächelte fraulich-nachsichtig:
“Sagen wir – er zßeigte seine Bew-wunderung sehr offen … „

„Nein – ! “ Pamela wurde tatsächlich bei der bloßen Vorstellung noch schamrot! “ – das kann ich mir wirklich nicht verzeihen, daß ich Sie da auch noch hineingezogen habe !“ Nun schienen ihr gar auch noch die Tränen zu kommen …

Irgendwie war es ja schade, daß ich nicht mit Abstand das Groteske einer Situation genießen konnte, ein junges Mädchen darüber trösten zu müssen, daß ein besoffener Schwede sich an den Luftballons meines falschen Busens ergötzt hatte: aber in der Tat hatte ich alle Hände voll damit zu tun, die arme Pamela wieder zu beruhigen – schluchzende Mädchen machten anscheinend Sylvia genau so nervös wie die meisten Männer.

„Aber ich glaube – “ murmelte Pamela schließlich, die großen Unschuldsaugen unter tränenschweren Wimpern bewundernd zu mir aufschlagend, „Sie können sogar mit so etwas fertigwerden, ohne – “ sie suchte sichtlich nach dem richtigen Ausdruck“ – ohne sich was zu vergeben! Ich wollte – “ seufzte sie, „ich wäre ein Mädchen wie Sie!“ (welcher Wunsch sich glücklicherweise nicht erfüllte).
„Mir – “ fügte sie vertraulich hinzu und lehnte sich vertrauensvoll an mich, „wird es immer richtiggehend übel, wenn ein Mann so – so – mit den Händen – “ Sie schüttelte sich wieder. „Vielleicht ist das, weil ich mit Vierzehn mal …“ fuhr sie noch leiser fort – ließ aber dann den Satz unvollendet.

Nun war ich – abgesehen einmal von diesem seltsamen Gefühl, über den Dingen zu schweben! – immerhin noch klardenkend genug, um zu registrieren, daß sich hier neue Komplikationen anbahnen könnten: bei allem Genuß, den es Sylvia bereitete, so „von Frau zu Frau“ über intimere Dinge zu plaudern, ließ es sich nicht verhehlen, daß wir bei dieser fast krankhaften Scheu unseres Pagen-Reh-Lamms vor Männern am Rand einer Katastrophe balancierten, falls es je …
Glücklicherweise war das Taxi genau in diesem Moment vor unserer Haustür angekommen. Ich zahlte – ohne Fräulein Lieselottes Sündenlohn hätte ich mir diese ganze Rettungsaktion überhaupt nicht leisten können! – warf einen sichernden Blick auf die menschenleere Straße (in Sicht war niemand, und wenn zu der späten Stunde unwahrscheinlicherweise noch Nachbarn hinter Gardinen lauern sollten, konnte ich’s auch nicht ändern!) – und zog dann meinen Schützling rasch und energisch in den Schatten des Eingangs.

Theoretisch zumindest hatte ich die Dinge völlig unter Kontrolle: ich konnte die scheue Pamela in Tante Irmas und Onkel Antons Schlafgemach packen, in mein Zimmer verschwinden, abschließen und am anderen Morgen erst wieder zum Vorschein kommen, nachdem ich wieder einwandfrei mädchenhaft hergerichtet war; aufs Baden mußte ich eben mal verzichten oder es nachholen, wenn ich meinen Gast, der ja sowieso einigermaßen pünktlich ins Büro mußte, verabschiedet hatte. Und dann konnte ich endlich in Ruhe meine Perücke kaufen gehen!

All das konnte ich zweifellos – nur tat ich, wie sich bald herausstellen sollte, etwas völlig anderes.

Sextes Kapitel: Sündenfall

“ … nie hilft man einer Lesbe, ohne
daß dieselbe es belohne … „

Vielleicht wäre auch wirklich alles so verlaufen, wie ich es als ungefährlich geplant hatte – wenn Alex nicht gewesen wäre.

Ich hatte meinen Schützling (nachdem ich mich in der Diele vorsichtig aus meinem Regenmantel und Kopftuch geschält hatte – glücklicherweise saß darunter noch alles, einschließlich der Haare unter dem zweiten Tuch, einwandfrei) mit gluckenhafter Betulichkeit und mehrfach betonend, wie nötig sie jetzt Ruhe brauche, ins eheliche Schlafzimmer verfrachtet, ihr den Weg ins benachbarte Bad und zur Toilette gezeigt und ihr sogar den Wecker gestellt (damit sie mir morgens vor diesem Zeitpunkt möglichst nicht in den Weg liefe) – mit Mühe abgewehrt, daß sie mir nochmals dankbar für alles um den Hals fiel – ihr eine gute Nacht gewünscht und mich endlich in mein keusches Mädchengemach zurückgezogen; hatte aufatmend die Tür abgeschlossen und allein und genußvoll Stück um Stück meiner hübschen Sylvia-Sachen abgelegt – bis auf den Büstenhalter und seinen Inhalt natürlich, auf den ich auch nachts nicht verzichten wollte – hatte das Nachthemd übergestreift und war gerade im Begriff, endlich auch das blaukarierte Tuch mit meiner Patent-Locken-Konstruktion zu entfernen – als plötzlich durch das nächtlich stille Haus das Telefon schrillte.

Was war das nun wieder? Hastig warf ich Tante Irmas seidenen Morgenrock über und wäre beinahe bereits aus der Tür geschossen, als mir einfiel, daß auch die exzentrischste Dame schwerlich mit einem blaukarierten Kopftuch zum bestickten Seidenkimono herumlaufen würde! Während das Telefon nervensägend weiterklingelte, fummelte ich mit fliegenden Fingern einen Chiffonschal Fräulein Lieselottes über das andere Tuch – in der Hoffnung, man könne dies für die Nachttracht eines Mädchens, das sich die Haare aufgedreht hat, halten – und stürzte endlich die Treppe hinunter.

Natürlich war es der gute Alex. Er rief an, um zu melden, daß er unseren Freund Törnewald – allerdings nur mit Hilfe des Barmixers und des Nachtportiers – endlich zu wohlverdienter Ruhe auf sein Hotelzimmer verfrachtet habe; wir also von demselben nichts mehr zu befürchten hätten; er, Alexander Mertens, hingegen noch in jeder Beziehung zu unseren Diensten stünde – insbesondere, falls ich seine Zeugenschaft benötigen sollte, um meiner Tante …

„Alex – “ erkundigte sich Sylvia mit untrüglichem weiblichen Instinkt, „wieviel – also exakt wieviel haben Sie mit Herrn Törnewald noch getrunken, bevor er unter den Tisch fiel?“

„Och – hm – natürlich habe ich da auch so etwas – so ein bißchen- “ begann er mit verdächtiger Vagheit, „aber – „

„Alex – “ unterbrach ihn Sylvia zuckersüß, „Sie leisten jetzt niemand mehr irgendwelche Dienste – Sie legen auch nicht Zeugnis für jemand ab – Sie legen sich jetzt lediglich schleunigst ins Bett: da gehören Sie nämlich jetzt hin!“ (Sylvia hätte eine ausgezeichnete Ehefrau abgegeben.) „Die arme Pamela und ich werden Ihnen nie vergessen, was Sie alles für uns getan haben – “ fügte sie aufrichtend hinzu, „aber alles weitere besprechen wir doch lieber morgen! Auch – “ fiel mir plötzlich ein, „die Frage mit dem Nachtklub! Gute Na-acht!“

Ich legte den Hörer auf und versuchte mir einen Augenblick auszumalen, welchen Effekt so ein nächtlicher Anruf wohl gehabt haben würde, wenn ich wirklich mit Pamela mitten in der Nacht bei einer sittenstrengen Tante Unterschlupf gesucht hätte: Der gute Alex mußte ganz schön angeschlagen gewesen sein!

Jedenfalls aber hatte er mit seinem Telefongeklingel eines erreicht: nämlich, die scheue Pamela wieder aufzuschrecken, die inzwischen an der Brüstung des Obergeschosses erschienen war (sie mußte übrigens mit dem Ausziehen noch länger herumgetrödelt haben als ich – denn sie war immer noch im Unterrock, exakter gesagt einem kurzen schwarzen Hemdröckchen, in dem sie unerwartet ’sexy‘ aussah).

„Was war denn los ?“ rief sie halblaut zu mir herunter.

Nun traute ich mir zwar allerhand zu – selbst an meinen geborstenen Alt hatte sich Pamela inzwischen ja schon gewöhnt – aber halblaut durch Haus zu rufen und dabei nicht in verkehrte Tonlagen zu geraten, nicht! Deshalb hüpfte ich lieber leichtfüßig – gut, daß ich mir am Nachmittag in meinem Drang nach Perfektion sogar die Zehennägel lackiert hatte! – wieder die Treppe zu ihr hinauf und legte ihr erst einmal beruhigend die Hand auf den Arm.

Das war bereits der erste Fehler. Bisher, unter Wollmantel oder Kostüm, war es eine ganz unverbindliche Geste gewesen, ihr beruhigend die Hand auf den Arm zu legen: jetzt aber war dieser Arm nackt, glatt und weich – und der Effekt eher beunruhigend. Den zweiten Fehler machte ich gleich hinterher:
„Ach – “ sagte ich nämlich, „das war nur der gute Alex, der Bescheid sagen wollte, daß Ihr Freund aus Schweden inzwischen sündlos eingeschlummert ist!“

Nach allen Regeln der Logik hätte dies Pamela beruhigen sollen. Was wirklich geschah, war aber, daß sie schluckend sagte:
„Das ist – wohl wirklich – ein sehr netter Kerl, dieser – Alex!“ und, nachdem sie diesen Namen mit spürbarer Verbissenheit hervorgestoßen hatte, aufschluchzend in meine Arme sank.

Hatte ich mir bisher vielleicht geschmeichelt, Frauen erheblich besser verstehen zu können als die meisten Männer – jetzt stand ich, ob nun qua Sylvia oder selbst, vor einem Rätsel: War Pamela neidisch, daß ich einen so netten Kavalier an der Hand hatte, während, sie sich mit dem dicken Schweden herumschlagen mußte? Hatte sie die Erinnerung an irgendwelche Unziemlichkeiten Törnewalds nocheinmal übermannt? Oder hatte sie einfach in der Hotelbar zu viele Cocktails getrunken?

Was auch immer – jedenfalls stand ich jetzt, entgegen allen guten Vorsätzen, im dünnen Damennachthemd und Seidenkimono mit einem fast ebenso leichtbekleideten Mädchen in den Armen; und zu allem Überfluß noch einem schluchzenden Mädchen, das ich ja nun beim besten Willen nicht einfach umdrehen und mit einem sanften Schubs wieder ins Bett schicken konnte!
Ihr mütterlich und verständnisvoll den Arm um die nackten Schultern zu legen, wie ich es instinktiv tat, schien zwar eine beruhigende Wirkung auf Pamela zu haben – aber wiederum eine zwar verständliche, aber weder mütterliche noch beruhigende Wirkung auf mich! Solange sie nur ihr Köpfchen vertrauensvoll an meinen zwar falschen, aber doch recht naturgetreuen Busen lehnte, ging das ja noch an – aber wenn sie sich nun auch noch unter der Gürtellinie schutzsuchend an mich drängen sollte?

Irgendwie muß Sylvias Computer wieder einmal sehr viel weiter gewesen sein als ich mit meinen rationalen Überlegungen und Besorgnissen. Denn während ich mich sanft, aber bestimmt auf sicherere Distanz von Pamelas Körper löste, konnte sie der Versuchung nicht widerstehen, nun auch noch mein schockierendes Nutten-Abenteuer von gestern zur Sprache zu bringen:
„Also wissen Sie – “ plauderte sie fröhlich, als sei nichts geschehen, daher, “ – eigentlich, kenne ich ihn auch erst seit gestern abend! Aber da habe ich ihm gleich zu Füßen gelegen – „

Sei es nun, daß Sylvia (die ja in vieler Beziehung ein Aas war) perverse Freude daran empfand, Pamela wieder prompt verwirrt die Rehaugen aufreißen zu sehen – oder ob sie darauf spekulierte, daß Neugier immer ein gutes Kompensativ für Tränenausbrüche sei: Jedenfalls hatte sie den doppelten Erfolg, daß mein Pagen-Reh-Lamm auch seinerseits wieder damenhafte Distanz von mir wahrte – andererseits aber auf die Bemerkung:
“ … aber das muß ich Ihnen in Ruhe erzählen!“
sofort mit der Einladung:
“ … dann kommen Sie doch noch auf einen Sprung zu mir herein!“
reagierte.

Ob ich das nun eigentlich wollte – oder nicht wollte: darüber war ich mir selbst nicht im Klaren; und, scheinbar wohl nur aus dem Wunsch, mir erst nocheinmal eine Atempause vor dieser neuen Situation zu schaffen, verfiel ich auf eine Idee, die sich nur meinem himbeergeist-beflügelten Hirn als genial präsentieren konnte:
„Aber wissen Sie was: da hole ich uns erst noch etwas zu trinken!“ Und damit entfloh ich erst einmal wieder die Treppe hinunter.

Aber ganz ähnlich wie gestern abend hatte ich damit genau die verkehrte Richtung gewählt: wenn ich (wie ich das vielleicht unklar im Sinne gehabt hatte) zusätzliche Kleidungsstücke suchte, mit denen ich mich vor naheliegenden Problemen schützen konnte – dann entfernte ich mich von diesen, nämlich von Fräulein Lieselottes Zimmer, immer weiter; schlimmer noch – ich hatte geradezu provoziert, daß nun auch Pamela mit einem: „Warten Sie, ich helfe Ihnen doch … “ hinter mir herkam.

Was, zum Teufel, konnte man denn jetzt trinken?! Schließlich keinen Apfelsaft oder vielleicht Kamillentee! Wieder erschien es mir als echte Genieleistung, mich in diesem Augenblick daran zu erinnern, daß in Tante Irmas Kühlschrank – aus welchen Gründen auch immer – zwei Flaschen Sekt standen, die ich nun triumphierend hervorholte. Pamela machte wieder mal große runde Augen, fragte dann aber mit unerwartet praktischem Sinn, wo sie denn Gläser holen könne – und fand sie trotz meiner vagen Angaben sogar auch, während ich, in herzlich unorthodoxer Weise, den Sektkorken nach Entfernung des Drahts mit einer an sich zum Abdrehen von Dosendeckeln bestimmten Zange soweit lockerte, daß er gerade, als sie zurückkam, mit einem befriedigenden „plop“ aus der Flasche glitt.
Dies fanden wir nun beide aus irgendeinem unerklärlichen Grunde ungeheuer lustig und füllten – Pamela im Sopran, ich in gedämpftem Alt kichernd – unsere Gläser auf dem Küchentisch wie zwei Schulmädchen, die einen großen Streich vorbereiten; erhoben unsere Gläser und prosteten uns verschwörerisch zu.
Der eiskalte Sekt schmeckte – auf Anhieb – herrlich. Anschließend mußte Pamela, der etwas in den falschen Hals geraten war, prusten und niesen, was wiederum Anlaß gab, ihr intensiv den Rücken zu klopfen …

Immerhin dachte ich auch jetzt noch klar genug, um eilig wiederum den Rückzug aus dieser intimen Nähe anzutreten, bevor Gefährliches geschah – und um dies nachträglich zu motivieren, hüpfte ich ins Wohnzimmer, wo ich plötzlich Onkel Antons teures Kofferradio entdeckte. Dies erschien mir nun nachträglich eine hervorragende Erklärung für den Ausflug – insbesondere, als ich nach mehrfachem Tastendrücken von irgendeinem Sender nächtliche Tanzmusik hereinbekam.
Mit all dem – Sekt, Gläsern und Radio – zogen wir nun (unerfindlicherweise auf Zehenspitzen, obwohl uns ja die Musik laut genug begleitete) wieder ins eheliche Schlafgemach zurück, wobei ich (mich innerlich noch immer zu meiner Umsicht und überlegenen Kontrolle über die Situation beglückwünschend) nach Abstellen aller mitgeführten Gegenstände genau auf der entgegengesetzten Bettkante Platz nahm – vorsichtshalber die ganze Breite des Doppelbettes zwischen Pamela und mich legend.

Nun aber wollte sie unbedingt die Geschichte des gestrigen Abends hören – die ihr Sylvia, in der Erinnerung schwelgend, offensichtlich höchst eindrucksvoll berichtete, Höhepunkte durch weitere gemeinsame Sektschlucke markierend.
Pamela äußerte an solchen Stellen wiederum ernsthaft den Verdacht, daß alle Männer „Tiere“ seien, die „alle dasselbe“ im Sinne hätten – war von meiner heldenhaften Flucht vor deren Nachstellungen wieder tief beeindruckt („Ich wäre gestooorben, wenn mir so etwas -„) – begann aber wieder still zu werden, als der rettende Alex in der Erzählung auftauchte. Dies hätte mich noch nicht so sehr verwirrt – sehr viel mehr aber, daß sie indes (was ja eigentlich ganz natürlich war) allmählich begann, sich weiter auszuziehen.

Erst hob sie nur ihr unverschämt kurzes Hemdröckchen, um gedankenverloren erst den einen, dann den anderen Strumpfhalter loszunesteln (sie trug, was ich mit Interesse registrierte, keineswegs die unromantischen Strumpfhosen, die damals modern zu werden begannen -sondern noch traditionelle damenhafte dunkelbraune Strümpfe, mit noch dunklerem Rand, über dem ein schmaler Streifen weißer Haut unter der Spitzenkante ihres Schlüpfers hervorblitzte) – streifte dann, das schlanke Bein auf die Bettkante setzend, den Strumpf langsam und liebevoll halb herunter …

Ich unterbrach meine Erzählung, um – einem plötzlichen Impuls gastgeberischer Pflichten folgend – unsere Sektgläser neu zu füllen. Ausgerechnet an dieser Stelle war es nun dem Programmgestalter unseres Mitternachtssenders eingefallen, ein Potpourri von „Pariser Melodien“ einzufügen – und ob ich das nun bewußt wahrnahm oder bloß einer plötzlichen Assoziation folgte: jedenfalls brachte mich das auf die Idee, das sowieso anscheinend wenig Anklang findende Thema „Alex“ abzubrechen – und anstattdessen kehlig in ein imaginäres Mikrophon zu flüstern:
„Und nun, meine Damen und Herren – willkommen in unserem schöönen Casino de Pariiih!“ Damit drückte ich Pamela das frischgefüllte Glas in die Hand und forderte sie mit kühner Geste auf, es hinunterzustürzen – was sie auch willig tat und mich dann erwartungsvoll ansah: offensichtlich hatte sie auch auf dem Festplatz einiges von diesem ununterbrochenen Vortrag mitbekommen.

Die Musik gab stimmungsvoll der Ansicht Ausdruck, daß ganz Paris offenbar nichts anderes vorhabe, als von der Liebe zu träumen – Metro nach Büroschluß kann der Autor dieses Texts bestimmt nie gefahren sein – und inspirierte mich, zusammen mit Pamelas Interesse, zu weiteren Ausführungen:
„Als Höhepunkt unserer großen Gala-Vorstellung, unserer einmaligen Revue schöööner Frauen – “ fuhr ich mit geheimnisumflorter Stimme fort, „sehen Sie – sofern Sie über achtzehn Jahre alt oder in Begleitung Ihrer Erziehungsberechtigten sind – nun unsere entzückende Pamela – “ ich wies mit großer Geste auf ihren halbabgestreiften Strumpf, der nach der Unterbrechung immer noch an der hübschen Rundung ihres Unterschenkels baumelte, “ – mit ihrem unnachahmlichen Stripp – Tee – Aase – Akt ‚Die Geheimnisse von Paris‘!“

Pamela, unerwartet in den Mittelpunkt meiner Szene gerückt, sah mich noch etwas unsicher an – unbewußt in bester Striptease-Tradition an ihrem Strumpfrand herumspielend – aber jetzt war Sylvia (ob sie es nun einfach nicht lassen konnte, ihr Lieblingsspiel „Pagen-Reh-Lamm-Schockieren“ zu spielen – oder wieder einmal bereits viel mehr verstanden hatte, als ich in meiner Harmlosigkeit) richtig in Schwung:
„Leider – “ fuhr sie, zu einem imaginären Publikum gewandt, fort, „untersagt es der Gesetzgeber, daß sie ihren geheimnisumdunkelteri linken Strumpf bereits hier draußen von ihrem bezaubernden Pariser Bein ganz herunterstreift – aber wenn sie unsere Schöööne Schau, die einmalige Revue des Scharms und der Pikanterie besuchen, dann – “ ich gestikulierte wieder anfeuernd – „dann wird sie dieses Bein, das die Kapazitäten der Academie Française in seiner Rätselhaftigkeit mit dem Lächeln der Mona Lisa im Louvre zu vergleichen gewillt waren, in seiner ganzen sinnverwirrenden Schönheit enthüllen – ja, mehr noch – „

Jetzt war Pamela (die ja, wie man immer bedenken muß, fast so viele Cocktails vor unserem Sekt getrunken hatte, wie ich Himbeergeist) endlich auch gepackt und begann mitzuspielen: sie setzte sich graziös auf die Bettkante und reckte nun ihr Beinchen in der Tat kühn empor, zärtlich den Strumpf immer weiter herunter- oder genauer gesagt, heraufschmeichelnd und ihn schließlich nicht ohne Triumph schwenkend.

“ – aber mehr noch, auch den anderen Strumpf – – – !“ kündigte ich nunmehr an, eine Spannungspause einlegend (insbesondere, weil mir allmählich nichts mehr einfiel).

Doch jetzt war meine kleine Pamela – ob nun durch meinen Vortrag oder die schmeichelnde Musette-Musik inspiriert – ihrerseits in Stimmung geraten: das nackte Bein halb anziehend, ließ sie sich langsam hintenüber auf Tante Irmas Bett sinken – das andere Bein hebend, es erst versonnen streichelnd und dann liebevoll umarmend, bis sie schließlich auch diese zweite zarte Hülle abgestreift hatte.

„Doch unser schöönes Pariiih und unsere bezaubernde Pamela haben noch mehr Geheimnisse -“ temporisierte ich etwas einfallslos, bis sie – nach einem fragenden Blick zu mir – auf mein zustimmendes Nicken nun auch, sich wieder aufrichtend, ihr Hemdröckchen hochzustreifen begann und es schließlich – nachdem sie sich prompt mit dem Kopf darin verfangen hatte – mit etwas verwuschelten Haaren stolz mit hochgestreckten Armen über dem Kopf hielt: dann aber in einem unerwarteten Temperamentsausbruch entschlossen „ins Publikum” schleuderte.

Sie trug jetzt – wie ich als profunder Kenner weiblicher Unterkleidung ja hätte erwarten müssen – nur noch Schlüpfer und Büstenhalter. Aber als sie jetzt – ohne es zu ahnen, genau so raffiniert wie „Sylvia Orchidea“ – instinktiv mir (oder unserem imaginären Publikum) den Rücken zuwandte, während sie etwas ungeschickt mit beiden Händen am Verschluß ihres Büstenhalters herumoperierte, kam mir auf einmal siedendheiß zum Bewußtsein, daß sie jetzt dieses letzte Kleidungsstück ausziehen würde – und keineswegs, um wie „Sylvia Orchidea“ damit die Illusion zu enden…

Irgendwie hatte ich im Augenblick das Gefühl, Dinge in Bewegung gesetzt zu haben, die ich nicht mehr kontrollierte. Bei Sylvia Orchidea war das in Ordnung – man sah, was man schon vorher gewußt hatte: keinen Busen – platte Männerbrust. Bei einem Striptease in einem Nachtklub – zumindest im Kino hatte ich das ja schon gesehen – war die Sache auch in Ordnung: Tusch – Applaus – Scheinwerfer aus. Aber was zum Teufel machte man mit einem Mädchen mit nacktem Busen im Bett?

Insbesondere, wenn man ihre frischgewonnene jungfräuliche Freundin Sylvia war?! (Die allerdings – was nun Pamela wieder nicht ahnen konnte – noch nie eine nackte Frau aus anderthalb Meter Nähe gesehen hatte … )

Zumindest das Radio sorgte, als sie sich wieder zu mir umwandte, für den Tusch. Was gut war – denn mir wäre beim besten Willen kein Kommentar mehr eingefallen.

Jetzt geschah nämlich endgültig, was sich schon vorhin angekündigt hatte: eine verwirrte Pamela in Kostüm und Mantel konnte ich – oder Sylvia – mit Distanz, gar mit gewisser Überlegenheit behandeln. Aber eine Pamela mit reizend verwuscheltem Haar, schwarzem Spitzenschlüpfer und unerwartet wohlgerundeten, nackten Mädchenbrüsten mit großen erdbeerroten Nippeln – die mich auch noch beifallsheischend ansah …

Zu allem Überfluß waren die Pariser Melodien im Radio jetzt beim Grisettenmarsch aus der „Lustigen Witwe“ angekommen – und Pamela (das „scheue“, „schüchterne“ Pagen-Reh-Lämmchen?) war jetzt so aufgedreht, daß sie mit nackten Füßen wieder in ihre (aufreizend hochhackigen) Schuhchen schlüpfte und – die Arme graziös in die Hüften gestemmt – regelrecht provozierend mit winzigen Trippel-Schrittchen („trippel-trippel-trippel-trap – trippel-trippel-trippel-trapp – trippel-trippel-trippel-trippel – trippel-trippel-trippel-trapp“) auf mich zumarschierte – die süßen nackten Brüstchen bei jedem hart aufgesetzten Schritt ein wenig hüpfend – und genau zum Schluß direkt vor mir (ausversehen natürlich, dachte ich) auf dem Bettvorleger ausrutschte und sich an mir festhalten mußte – glücklicherweise primär an den Schultern; und auch ihre Brüstchen preßten sich wenigstens nicht direkt gegen mich, sondern erst einmal gegen meine (zwar künstlichen, aber sichere Distanz schaffenden),

„Ja wir sind die Grisetten
aus Pariser Kabaretten
Dodo, Cloclo, Margot, Bijou … „

jubelten die Damen im Radio begeistert, während Pamela – nach einem kleinen erschrockenen Aufquieken – in meine Arme sank und aus irgendeinem Grund in kicherndes Lachen ausbrach.

„Aber – “ mir fiel heute abend tatsächlich (war das Törnewalds Einfluß?) nie etwas anderes ein als Saufen – „darauf müssen wir anstoßen! “ wisperte ich begeistert und machte Pamelas weiße glatte Arme vorsichtig wieder von mir los, um ihr Glas zu holen und neu zu füllen. Daß sie sich dabei mit den Armen auf die Kante von Tante Irmas Toilettentisch stützte – und mir aus den Spiegeln gleich aus lauter verschiedenen Blickwinkeln noch dreimal zusätzlich zulächelte – mußte ich in Kauf nehmen (warum sieht eine Frau mit nacktem Oberleib so zauberhaft aus … ?).

„Das war doch bühnenreif – !“ komplimentierte ich sie (fast – Sylvias katzige Eifersucht beiseite – aus ehrlichem Herzen) „Auf den Star der Zukunft – Pamela de Pariiih!“

Aber statt mit mir anzustoßen, genierte sie sich plötzlich auf einmal wieder:
„Du denkst doch nicht, ich könnte sowas vor Leuten machen – ?!“ fragte sie mit ehrlichem Entsetzen. Und dann – als habe sie etwas ganz Entsetzliches getan, die Hand an die Lippen pressend: „Jetzt hab ich ‚Du‘ gesagt – – – ! „

„Na – wenn’s nicht mehr ist – “ sagte ich großzügig (Sylvia war immer bester Laune, wenn Pamela verwirrt war!), „dann trinken wir eben jetzt Brüderschaft – oder heißt das bei Mädchen Schwesternschaft ?“

Sie sah mich mit ihren großen braunen Rehaugen an, als habe ich ihr soeben ein ganz unfaßbares Angebot gemacht:
„Ehrlich – ?!“

„Bin ich denn schon mal nicht ehrlich gewesen?“ fragte Sylvia unschuldig; worauf Pamela prompt wieder errötete und die Augen niederschlug:
„Nein – nur – “ flüsterte sie fast unhörbar ,“ – daß ich mir schon immer eine Freundin wie Sie gewünscht hab‘ – „

Ausgerechnet! dachte Sylvia ironisch. Aber wenn sie’s nun glücklich macht?!

„Also – Pamela ?“ sagte sie und hob das Glas.

„Nein – da müssen wir doch erst die Arme durcheinanderschlingen!“ protestierte Pamela wichtig wie ein eifriges Schulmädchen. Nachdem dieses Werk vollbracht war – Sylvia konstatierte befriedigt, daß mein Arm dem Pamelas an Glätte nichts nachgab – hob auch diese mit verklärtem Lächeln ihr Glas:
„Also – Sylvia?“

Wir tranken – sehr nahe mit den Köpfen beisammen, ich spürte, wie es in Büchern immer heißt, „den zarten Duft ihres Haares“ (nur hatte ich bis jetzt noch nicht geahnt, daß ein Mädchen wirklich so zart duften konnte wie diese Pamela!) – und dann neigte sie erwartungsvoll den Kopf weit in den Nacken und. sah mich mit ihren großen süßen Rehaugen fasziniert an.

Ach so, das Brüderschaftsküßchen – dachte ich und beugte mich lächelnd mit gespitzten Lippen über sie. Sie hob mir den Mund ein Stückchen entgegen – unsere Lippen berührten sich –

Und dann schlüpfte ihre spitze weiche Zunge plötzlich sanft zwischen meine Lippen. „Dies nennt man den ‚Kampf der Zungen’ – “ hörte ich den gelehrten Autor des Kamasutram sachlich kommentieren: und dann war es mit der Sachlichkeit aus.

Hungrig saugten sich ihre sanften Lippen an den meinen fest – glatte nackte Arme schlangen sich um meinen Nacken – zogen mich herab zu diesen weißen runden Schultern, den festen runden Mädchenbrüsten, während sie immer weiter nach hinten auf den Toilettentisch sank – ein Arm glitt von meinem Nacken hinab um meine Taille, eine kleine kräftige Hand krallte sich in meinem Rücken fest – und noch immer schlängelte sich diese fremde, zärtliche Zunge zwischen meinen Lippen gegen meine Zähne: und als ich jetzt unwillkürlich den Mund öffnete, kreiste diese süße weiche Zungenspitze raffiniert und verliebt um die meine, während mich die weißen weichen Arme mit unerwarteter Kraft vornüber auf den nackten Frauenleib zogen, der jetzt schon fast flach auf dem Toilettentisch lag – die nackten Beine spreizten und hoben sich und schlossen sich wie eine sanfte Zange um meine Hüften – und noch immer war dieser wahnwitzig süße, saugende, zungenkreisende, lutschende, zutschende Kuß nicht zuende: bis sie endlich – mit einem kleinen, zärtlichen Biß in meine Zunge – ermattet ihre Lippen von meinen löste und tiefatmend stöhnte:

„So – eine Freundin – wie – Dich – hab ich mir – immer -gewünscht – !!!“
Und jetzt – da ich noch einmal aus diesem purpurgoldenen Rausch aufzutauchen die Chance hatte – wurde mir, zu spät, schlagartig alles klar:
Ihre krankhafte Scheu vor Männern. Der instinktiv-raffinierte Striptease von eben. Und ihre Fassungslosigkeit bei meinem naiven ‘Schwesternschafts’-Angebot – das für sie etwas ganz anderes bedeutet hatte …

Und noch viel mehr wurde mir in diesem einen Augenblick klar: ihre Bewunderung für die schlanke herbe Frigga. Ihr Schock, als ausgerechnet die – als tödlichen Verrat mußte es die arme kleine Pamela empfunden haben – sie den plumpen Zärtlichkeiten und Anträgen Törnewalds ausgeliefert hatte. Die echte Verzweiflung, mit der sie vor all dem – natürlich an einen Ort ’nur für Damen’! – geflohen war. Und dann das große Wunder: wie eine himmlische Schildjungfrau war, gerade in diesem Augenblick letzter Verlassenheit, plötzlich – vom schimmernden Mantel wie einer Walkürenbrünne umschlossen – die große kühne Retterin erschienen; hatte ohne Umschweife ihre Sache zur eigenen gemacht, gemeinsam mit ihr alle Probleme gelöst, sie selbst zur so kühnen Taten wie dem Einschlagen der Windschutzscheibe ihres Verfolgers beflügelt – und war dann, ihr kaum Zeit für ein Wort des Dankes lassend, ebenso plötzlich wieder im Dunkel verschwunden …

Was Wunder, daß sie all das erst einmal bei vielen Cocktails in der Hotelbar verdauen mußte, ehe sie in ihr einsames, kaltes Hotelzimmer hinaufging (es mußten, erkannte ich jetzt, bemerkenswert viele Cocktails gewesen sein – sonst hätte sie jetzt nie den Mut aufgebracht, ihrem Gefühl endlich einmal freien Lauf zu lassen…). Und gerade, als sie sich nun selbst einen Ruck gegeben hatte, nicht mehr verträumt einer verschwundenen Heldin nachzuhängen, sondern endlich wie ein vernünftiges Mädchen ins Bett zu gehen – genau in diesem Moment tauchten wie durch Zauberei alle wieder auf: der böse Menschenfresser, lüstern-drohend auf sie zuwankend – aber auch die mächtige schützende Fee, die sie rettend in die Arme schloß (hatte dieses unheimlich-unzuverlässige Luder Sylvia etwa auch diese dauernden ‚zufälligen’ Umarmungen arrangiert ?!)

Und war es nicht zu verstehen, daß Pamela jetzt die wiedergefundene große Mutter-Göttin-Schwester-Freundin nicht mehr loslassen wollte – daß sie sie, in der wundersam wiederholten Szene in den „Frauengemächern“, gleich beschwor (klassischer Freud’scher Versprecher!) „bei ihr schlafen“ zu können? Aber dann, tatsächlich bei ihr, hatte sie sich nocheinmal, wie ein vernünftiges Mädchen, zusammengenommen und sich brav allein in ihr Zimmer zurückgezogen.

Doch wie im Märchen hatte ihr das Schicksal zum dritten (und doch wohl unwiderruflich letzten?) Mal die Chance gewährt, die große fremdartig-mächtige Sylvia ins Brautgemach (Eheschlafzimmer mit Doppelbett – die Symbolik war lehrbuchmäßig!) zu holen:

Und diesmal hatte sie nicht mehr losgelassen.

Indem ich das alles in dieser Sekunde fast selbst durchlebte, stieg in mir ein großes Mitleid, eine große Zärtlichkeit für mein armes kleines Pagen-Reh-Lämmchen auf – für seine Einsamkeit, seine Sehnsucht, seinen großen Traum von der wunderbaren, zärtlichen, lieben, starken Freundin, die sie vor der ganzen bösen Welt – und besonders den Männern – beschützen würde; doch im Hintergrund glaubte ich auch das Gelächter eines unsterblichen Gottes oder Dämons zu hören, daß sie sich für diese Rolle ausgerechnet – mich ausgesucht hatte!

Bei all dem hatte ich freilich weitaus akutere Probleme.
An sich war es wirklich nur die vorspringende Kante des Toilettentisches, die mich vor einer unmittelbaren Katastrophe gerettet hatte: glücklicherweise hatte sie sich, als mich Pamela zu sich niederzog, schützend über mein steif und völlig undamenhaft angeschwollenes Glied geschoben, das sich jetzt noch immer schmerzhaft gegen die harte kalte Tischplatte preßte – ich konnte noch nicht einmal einen Schritt zurücktreten, ohne mich in der erschreckendsten Weise zu verraten!

Ganz vorsichtig stemmte ich meinen Oberleib mit den Armen soweit hoch, daß ich wenigstens nicht mehr völlig auf meiner Duzschwester Pamela lag. Mein Gesichtsausdruck muß wohl einigermaßen eigenartig gewesen sein – denn jetzt murmelte Pamela, die Augen erschrocken aufschlagend, fast tonlos:
„Bist Du mir jetzt – böse?!“

Wenn für nichts sonst: so mußte ich Sylvia allein dafür dankbar sein, daß sie in dieser. – für die Psychotherapie von Lesbierinnen singulär ungeeigneten – Situation plötzlich wieder voll (und mit unfaßbarem Einfühlungsvermögen) das Steuer übernahm:
„Aber – wer könnte Dir, Liebste, Süße, denn böse sein – “ flüsterte sie (zu meiner Verblüffung auch genau meinen Gefühlen Ausdruck gebend) mütterlich-liebevoll.

Es war ganz gut, daß ich – vollauf mit meinen anatomisch-technisch Problernen befaßt – diesen Dialog völlig Sylvia überlassen mußte: denn welcher vernünftige Mann wäre darauf gefaßt gewesen, daß die kleine Pamela nun – fast ein wenig beleidigt – weiterfragte:
„Aber bist Du denn nicht – entsetzt ?“

Sylvia war klug genug, darauf gar nicht einzugehen;
“Du bist wunderschön – “ sagte sie träumerisch (das Mädchen sagte ganz genau, was ich dachte!) und verschlang Pamelas nackten Leib fast mit gierigen Mädchenblicken (von deren Möglichkeit ich bisher nichts geahnt hatte – oder ging das nur mit falschen Wimpern?).

Darauf reagierte Pamela nun prompt – wenn auch wieder für mich höchst unerwartet:
„Aber Du – “ flüsterte sie, die Augen verlegen niederschlagend, „bist doch viel schöner als ich, Sylvia – viel reifer, fraulicher – “

Es war der irrsinnig komischste Dialog, den man sich vorstellen konnte – nur hatte ich nicht den geringsten Sinn für seine Implikationen, weil ich verzweifelt über das Problem nachdachte, wie ich meinen Schwanz bändigen könnte (wenn ich ihn bloß irgendwie zwischen die Schenkel klemmen könnte – aber wie überwindet man 12O° Winkeldifferenz?!) – während Sylvia sich natürlich (wie immer, wenn sie Komplimente bekam) in Pamelas Bewunderung badete:

„Eine Freundin – wie Dich – habe ich mir immer gewünscht – “ paraphrasierte sie kühn Pamelas Worte (hatte sie eigentlich damit auch für mich recht ? Der Himmel weiß – wenn ich so ein süßes Weib wie Pamela vorher nackt in meinen Armen gehabt hätte ? Aber was hätte die denn zu Hugo gesagt ?!!!) und beugte sich bewundernd über Pamelas goldige Brüstchen, ihre verlockende Walderdbeere ganz zart mit den Lippen berührend. (Sylvia war eine herrliche Hilfe in dieser Situation – durch das weite Vornüberbeugen rückte das Einfangen meines Schwanzes allmählich in den Bereich des technisch Möglichen! Wenn ich jetzt noch eine Hand freibekam … )

“O – o – oh Sylvia !“ stöhnte Pamela, als meine Lippen ihre Brust erreichten. Was Du mit der Zunge kannst, kann ich schon lange, dachte Sylvia überlegen und ließ die Zungespitze zweimal zärtlich um Pamelas verlockenden Nippel kreisen (natürlich tat sie damit meinen Bemühungen um Beherrschung keinen besonderen Dienst – was schmeckte aber auch ein Weib so herrlich! – aber mit Gewalt konnte man natürlich selbst jetzt … )

„Au – ah – ooooh – “ Ich hatte jetzt Pamelas rechte Brust fast zu dreiviertel im Mund – war das wunderbar! – und spürte wieder die purpurgoldnen Nebel von vorhin aufsteigen: Mädchen – ! Weich, rund, glatt – zart und fest – wie kann nur Haut und Fleisch so herrlich sein? Pamela! Ganz vorsichtig biß ich in die verlockende Frucht – sie zuckte ein wenig, wohlig – und wölbte dann ihre Brust noch weiter mir entgegen, kleine wohlige Laute wie eine Katze, die man krault, ausstoßend – – – (jetzt hatte ich den steifen Schwengel endlich gefangen: heiß und klopfend lag er jetzt zwischen meinen weichen Schenkeln, die ich X-beinig zusammenklemmen mußte – jetzt wußte ich langsam nicht mehr, wer mir heißer machte – Pamela oder Sylvia ?!)

“Sy – y – ylvja !“ schrie Pamela unerwartet leise auf und reckte sich in steifem Bogen hoch; jetzt hatte ich wieder beide Hände frei – und mit mich selbst verblüffendem Mut griff ich in den oberen Saum ihres schwarzen Schlüpfers, ihn mit einem wilden Ruck nach unten ziehend.

Verstandesmäßig hatte ich – wurde mir später klar – kaum eine Ahnung, was denn nun eigentlich darunter lag: außer – wie ich sah – einem herrlich verworfen aussehenden schmalen schwarzen Strumpfhaltergürtel auf weißer Haut …

Aber Sylvia wußte wieder mal viel mehr als ich. Kaum hatte ich meine Lippen von der süßen Brust gelöst, ließ sie mich schon wieder – diesmal wie vor einem Heiligtum in die Knie fallend – auf Pamela niedersinken: aber diesmal vor dem entzückenden duftigen Büschel ihrer Schamhaare. Und unter diesen duftigen Haaren – selbst hier roch sie genau so zart und verlockend wie vorhin am Kopf – lag etwas Weiches, Lippenhaftes, sich mir Öffnendes …
Auparishtaka – dachte ich plötzlich erleuchtet – ‚… ist nicht allein auf Männer beschränkt …!‘ (der gute alte Vatsyayana…!)! Und dann ließ ich meine Zunge zum ersten Mal die süß-salzige Pforte Pamelas berühren …

Ich habe Pamela nie gefragt, ob sie selbst einmal – oder oft? – dorthin gefaßt, sich dort gestreichelt oder gar mit irgendwelchen Instrumenten erregt hat: aber in dieser Nacht war es, als liebkose man sie dort zum ersten Mal in ihrem Leben – als entlade sich die ganze aufgestaute Sehnsucht ihrer einundzwanzig Jahre zum ersten Mal in diesem Moment, als sie die schöne Freundin Sylvia dort spürte –

Es war herrlich und grotesk zugleich. Pamelas wunderbar flockige Schamhaare gerieten mir dauernd in den Mund, als ich sie – instinktiv richtig – mit immer steigender Erregung dort unten küßte: und aufhören konnte und wollte ich ebensowenig, wie ich meine Hände zu Hilfe bekam – mit denen ich lustvoll die glatten, weichen Hüften, die Taille, ja sogar die süßen Brüste streicheln mußte; nicht zuletzt mußte ich ihre zuckenden Händchen bändigen, mit denen sie mir beinahe meine ganze kunstvolle Locken-Kopftuch-Konstruktion vom Schädel gerissen hätte – genau wie mit den Beinen, die manchmal unter meinen Achseln, manchmal auf meinen Schultern lagen! Es war für uns beide ein Glück, daß sie durch die ganze Vorgeschichte des Abends schon so kurz vor dem ersten Höhepunkt stand –
„Oooooh – ooooih ! ———- Sylllvja !“

Ihr zarter Leib hatte sich nocheinmal wild aufgebäumt und sank jetzt sanft und zufrieden wieder auf die harte Tischplatte zurück.

„Pamela – Liebste, Süße, Schönste – Du – uu !“ hauchte Sylvia dagegen, als sich mein Mund endlich wieder von ihren Schamlippen gelöst hatte.

„Sssylllvja!“ stöhnte Pamela nocheinmal zärtlich – und dann hatte ich mich (mit aller gebotenen Vorsicht und noch immer straff zusammengepreßten Oberschenkeln) wieder so weit aufgerichtet, daß ich meine Lippen wieder auf die glatte Haut ihres Leibs pressen konnte.

„Und – Du, Liebste ?!“ fragte Pamela, langsam aus ihrer Ekstase zurückkehrend, fast ängstlich.

Die Frage war nicht unberechtigt – aber ich streichelte sie beruhigend über die runden weißen Schultern:
„War es nicht schön – ?“ flüsterte Sylvia mit vieldeutigem Lächeln, “ – und wir haben doch noch die ganze Nacht vor uns … “ (das war nun wieder ein unerwartetes Extempore Sylvias – die ich immer mehr in den Verdacht bekam, neben allem anderen auch noch eine perfekte Kupplerin zu sein!).

Doch erst einmal zog ich Pamela – erst jetzt wurde mir klar, daß sie die ganze Zelt über mit ihrem armen nackten Rücken auf der kalten kantigen Glasplatte des Toilettentisches gelegen hatte: man spürte die Kanten noch in ihrer Haut! – zärtlich empor (und hatte endlich mal keine Sorgen, als sie sich liebevoll-ermattet gegen mich sinken ließ). Und es fiel ihr auch nicht auf, daß ich – als ich sie schwesterlich, den Arm um ihre Schultern gelegt, zu ihrem Bett geleitete – eher wie eine Art weiblicher Quasimodo zusammengekrümmt die zierlichsten Humpelschrittchen machen mußte, um meine Knie nicht voneinander entfernen zu müssen.

“Kommst Du noch ein bißchen zu mir?“ fragte sie leise verträumt, als sie unter die Decke schlüpfte.

Ein vernünftiger Mensch hätte vielleicht diese letzte Gelegenheit zur Flucht benutzt (schließlich, hätte die Stimme der Vernunft sagen können, war ich gestern abend auch allein fertiggeworden – ! ) – aber vernünftig war ich schon lange nicht mehr. Also ließ ich mich vorsichtig auf der Bettkante nieder – zog ebenso vorsichtig die Beine (mit geschlossenen Knien, wie bei einer Gymnastikübung) an und ließ mich dann neben ihr ins Bett rollen. Es war ein herrliches Gefühl, wie sie ihren süßen Körper vertrauensvoll an mich kuschelte und ihr Köpfchen an meine Schulter legte: nur wäre es jetzt schon sicherer gewesen, wenn ich wirklich ihre Freundin Sylvia gewesen wäre …

Wenn es Pamela befremdete, daß ich – im Gegensatz zu ihr – voll in Morgenrock und Nachthemd verpackt ins Bett gekrochen war: dann ließ sie sich jedenfalls nichts anmerken, sondern schmiegte ihre nackte Haut genußvoll an die glatte Seide des Kimonos über meinen falschen Brüsten, den Kopf zurückgelehnt und die Augen halb geschlossen.

„Du – Sylvia – ?“ sagte sie wohlig verschlafen.

„Ja – Pamela?“ (Unsere Dialoge waren so geistvoll, wie meist bei Verliebten).

„Stell Dir mal vor: wenn wir uns heute nun nicht getroffen hätten … “ meditierte sie träumerisch, „… kannst Du Dir das vorstellen … ?“

Ich wollte mir eigentlich gar nichts vorstellen, sondern nur weiter hingebungsvoll ihren Arm streicheln – aber Sylvia wußte glücklicherweise wieder die richtige Antwort:
„Das mußte alles wohl so kommen … !“ erwiderte sie weltweise.

Aber Pamela wollte nun einmal Schritt für Schritt die Wunder dieser Nacht nocheinmal durchleben:
„Du — Sylvia – ?“ begann sie von neuem (es war eine richtige kleine Beschwörungsformel – als müsse sie sich immer von neuem vergewissern, daß wirklich plötzlich eine solche Sylvia bei ihr war), „hast Du -“ sie überlegte angestrengt, wie sie das formulieren sollte “ – hättest Du da gedacht, daß wir … ?“

Sie brach ab und sah mich dafür zärtlich an. Sie sah so glücklich aus, daß mir fast die Tränen kamen (das ist eine von diesen Sachen bei mir: bei den ’schönen Stellen‘ im Kino oder sogar in einem Buch kann ich heulen wie ein Schloßhund – wahrscheinlich war das schon immer die romantische Sylvia! – denn im praktischen Leben, damals in der Schule zum Beispiel, habe ich eigentlich schon als Junge kaum geweint).

„Hättest – ich meine, hast Du denn … “ versuchte ich die Frage zurückzugeben und gab es dann genau so auf wie Pamela (jeder Autor, der auch nur ein bißchen auf sich hielt, hätte uns mit unseren Dialogen zum Teufel gejagt!). Aber diesmal gab Pamela wenigstens Antwort:
„Nein – “ sie schüttelte, immer noch ein wenig über sich selbst entsetzt, den Kopf.

Ich weiß nicht – wie Du da so plötzlich vor mir standst: so groß und schön und – ich weiß nicht – so kühn und so kühl – “ sie kuschelte sich noch enger an mich, „da hab ich, das weiß ich noch, gedacht: warum kannst Du nicht so sein – dann wäre sicher alles – anders – “ Sie schloß wieder die Augen und lächelte: „Aber lieb gehabt hab ich Dich gleich!“

Wieso kann eine Frau einem gleichzeitig das Gefühl geben, man müsse sie wie ein ganz kleines zartes Vögelchen vor aller Welt beschützen – und einen zugleich reizen, sich auf sie zu stürzen und jedes Fleckchen, jedes Teil ihres glatten weißen Leibs zu küssen, zu packen, aufzufressen … ?!

Natürlich tat ich weder das eine noch das andere.

Denn jetzt schlug sie ihre großen braunen Rehaugen, die immer so entzückend verwirrt schauen konnten, wieder auf und sah mich beistandsheischend an:
„Sag mal – bin ich nun eigentlich – wie sagt man – „

„Du bist meine ganz süße Pamela!“ unterbrach ich sie bestimmt (sexualpathologische Diskussionen hatten mir jetzt gerade noch gefehlt – !). Aber das genügte ihr diesmal doch nicht:
„Nein – ich meine, ist das nicht eigentlich furchtbar, daß wir hier so – als Mädchen, meine ich … „

„Furchtbar ? Fandest Du das furchtbar?! fragte Sylvia liebevoll-naiv. „Ich fands – “ sie streckte sich behaglich, „wunderbar!“

Doch das Thema ließ Pamela nicht los:
„Sag, Sylvia – “ sie wurde wieder ein bißchen rot, sprach aber dann tapfer weiter, „hast Du schon einmal – mit einem Mann – ?“

Ich brauchte ein paar Sekunden für die Antwort.
„Nein!“ sagte ich dann ehrlich (was ich mit mir selber gemacht hatte, galt hier ja wohl nicht).

Pamela warf mir einen Blick zu, der ’na – siehst Du ?!‘ zu sagen schien, und fragte dann noch leiser weiter:
„Und – mit einem Mädchen – ?“

„Nein!“ (das konnte ich nun ohne Zögern verneinen) „außer Dir, natürlich – “ setzte ich überflüssigerweise noch hinzu.

Aber nun hatte sich Pamela endgültig in das Problem verbissen.
„Aber – ich glaube – “ sagte sie nachdenklich, „bei Dir ist das alles doch – anders – “ (wie recht sie hatte!) „Du warst doch da mit diesem – “ sie mußte sich einen Moment überwinden, „diesem netten Axel oder wie er hieß – und Du hast sogar den Törnewald überstanden – “ Ihr kleines liebes Gesicht wurde seltsam hart: „Ich hab das doch auch schon versucht – glaub mir, ich hab’s versucht! – aber – “ Sie schluckte. „Ich kann’s nun mal nicht aushalten!“ stieß sie dann verzweifelt hervor, „wenn ich schon in den Augen seh, wie sie dann auf einmal – und wenn mich erst einer anfaßt – „

Ihr ganzer zarter Körper war hart und gespannt geworden, voller Abwehr – und löste sich erst wieder, als ich sie ganz sanft an mich drückte und ihre Schulter streichelte (wenn ich nicht so herrlich viel Himbeergeist und Sekt im Leib gehabt hätte, die vermieden, daß ich allzu logisch zu denken begann, hätte ich dabei ja das Gefühl haben müssen, mit Nitroglyzerin zu hantieren).

„Vielleicht – “ sagte sie dann so leise, daß ich es nur mit Mühe verstehen konnte, „ist das, weil – als ich vierzehn war, da hat mich mal einer – im Wald – abends, als ich vom Zug kam – “ Sie stockte und vergrub das Gesichtchen an meiner Schulter. Ich kam mir zum erstenmal an diesem Abend richtig gemein vor – aber wenn es nun eben mal half, daß ich ihr über den nackten glatten Rücken streichelte? (ganz egal, was ich dabei dachte oder spürte!)

„Sie haben mich dann operiert – “ sagte sie plötzlich sachlich. Ich hätte nie geglaubt, daß ihre Stimme so eisig hart klingen konnte. „Kinder kriegen kann ich deshalb auch nicht mehr. Den Mann haben sie später verhaftet – “ ihre Stimme klang immer noch so fremd und blechern, „die zwei vor mir hat er danach umgebracht. Ich weiß nicht – vielleicht, weil ich nicht geschrien hab – oder vielleicht hat’s ihm bei mir – “ sie spuckte die Worte fast aus wie etwas Ekelhaftes, “ – besser gefallen?!“

Was – dachte ich hilflos – sollte man darauf sagen? „Arme Pamela” oder so einen Blödsinn?! Ich kam mir in dieser ganzen Possen-Situation jetzt sowieso wie jemand vor, der sich plötzlich mit einer Faschings-Pappnase auf Golgatha entdeckt!

Gottseidank verstand Sylvia wieder mal alles viel besser. Während ich vor Mitgefühl mit der armen kleinen Pamela zerfloß – hatte sie mit ihrem unheimlichen weiblichen Spürsinn schon einmal. wieder den Satz verstanden, der in Pamelas Erzählung gefehlt hatte: nämlich den Satz darüber, wie gut es eigentlich ihr damals gefallen hatte … und über wen sie eigentlich am meisten entsetzt gewesen war …

Und deshalb fing sie einfach, ohne zu antworten, an, Pamela wieder zu küssen – und diesmal war es nicht Pamelas Zunge, die als erste Einlaß zwischen fremden Lippen forderte – !

Und Pamela – kleine süße heiße vollkommen durcheinander geratene Pamela! – fand und suchte hungrig, was sie sich selbst nicht eingestehen konnte: außer bei einem Mädchen …

Wenn ich irgendwann noch Verstand gehabt hatte – dann kam mir jetzt der letzte Rest davon abhanden: aber was soll man auch mit Verstand, wenn man ein kleines süßes wildes hungriges Tier in den Armen hat, das all seine aufregenden Reize verzweifelt anbietet – hingibt -genommen werden will – ?!

Zuerst liebte ich sie nur mit dem Mund: von den heißen gierigen Lippen hinauf zu den kühlen, unter weichen Lidern zuckenden Augen – und wieder hinunter zum weichen Hals, der pulsenden Schlagader (Dracula ist gar nicht so absurd – ), dieser entzückenden Stelle am Armansatz, wo man die Brüste schon ahnt – und dann an diese köstlichen reifen runden weichen Früchte, in die man die Zähne graben konnte, ohne satt zu werden – nur immer hungriger –

Aber Pamela – scharfe heiße wilde Pamela jetzt!!! – wollte mit ihrem ganzen Leib lieben: drängte ihn an mich, krallte sich mit den kleinen festen Händen in meine Schultern, meinen Rücken – packte meinen Oberleib zärtlich, aber unerbittlich aus den Falten des Kimonos – versuchte auch mit ihren scharfen Zähnchen meine Brüste unter der Seide des Hemds zu packen – und als ich ihr das mit ein paar unbewußten Wendungen unmöglich machte, klammerte sie wenigstens ihre weichen, unerwartet kräftigen Schenkel um die meinen – versuchte sich zwischen sie zu wühlen –

Das kann ja nicht gut gehen, sagte abschiednehmend die Stimme des Verstands – und dann zog er sich endgültig aus unserem Bett zurück. Immerhin noch mit dem Effekt, daß ich versuchte, meine Hand zwischen Pamelas Schenkel zu bringen – ehe ihre zwischen meinen ankam – und sie auch tatsächlich nocheinmal ablenkte:
„Hhhhhhch – Sylllvja – Hhhhhchch – “ keuchte sie, als ich mit den Fingerspitzen ihre süße, glitschige Furche zu liebkosen begann – fummelte mit fliegenden Fingern den Morgenrock ganz von meinem Oberleib – küßte und biß mich entfesselt in Kinn und Hals – kratzte mit ihren kleinen scharfen ‚Nägeln die glatte Seide über meinem Rücken – und drängte noch immer ihr Knie zwischen meine – warf sich plötzlich mit Macht platt auf den Rücken, mich auf sich reißend – stöhnte:
„Aaaaoooh – tu mir was – SSyllvja – nimm mich – chchhhh – “

und begrub dann meine Lippen mit dem feuchtesten, saugendsten, zutschendsten Kuß, den sie mir je gegeben hatte – wurde ganz schlaff unter mir – und schob dann plötzlich triumphierend ihr Knie zwischen meine Schenkel, es steil anwinkelnd, immer höher, immer höher –

Die purpurgoldnen Schleier wogten schon lange vor meinen Augen: unter mir zuckte Pamelas süßer zärtlicher glatter Leib – wölbte sich erwartungsvoll mir entgegen – ihre Schenkel hatten mein rechtes Bein wie eine Zange umfaßt – mit einer Art hilflosen, glücklichen Entsetzens spürte ich, wie mein Schwanz, endlich aus dem pressenden Gefängnis meiner Schenkel entkommen, sich aufzustellen begann – über Pamelas Schenkel glitt –

Ich dachte nichts mehr. Ich stemmte mich – brutal Pamelas Oberarm packend – hoch, drückte mit der anderen Hand ihren Schenkel beiseite – sie gab, nach einem kurzen Widerstand, plötzlich willig nach; und dann lag sie weit offen unter mir – und ich ließ mich ächzend auf sie nieder – fühlte, wie ich plötzlich in dieses zärtliche, herrliche, samtweiche Gefäß glitt –

„Ssylll – vja?!“ schrie Pamela plötzlich ganz spitz und hoch – aber dann bäumte sich ihr ganzer Leib mir entgegen – und während sich unsere Lippen wieder zu einem endlosen saugenden Kuß vereinten, begann ich endlich – endlich im Takt meines Blutes Besitz von ihr zu nehmen.

Es dauerte – glaube ich – unendlich lange: sie war ein weicher, zärtlicher, purpurgoldner Wagen, auf dem ich durch Weltall fuhr – durch blendende Milchstraßen violett-golden- roter Sterne, wogende Nordlichter, gleißende Schleier – und ich war der Motor, der Kolben im Zylinder dieses Wagens, wie von fremder Kraft getrieben – ihre Hände die Ventile, die auf meinem Rücken zuckten – ihr Mund das Steuer, ihre Brüste die Polster, meine Hände die Bremsen, die sie unerbittlich packten und doch die rasende Fahrt nicht aufhielten – und dann erreichten wir plötzlich den Rand des Weltalls: Pamela stöhnte und schrie erschrocken – als wir über die goldene weiche breite Kante stürzten – klammerte sich an mich, mit ihren Armen, ihren Lippen, ihren Händen, ihrer Scheide – und dann fielen wir, fielen —– fielen —— fielen —— mit der hilflosen, herrlichen Freude der nicht mehr Aufzuhaltenden in den leuchtenddunklen Strudel des Vergessens.

[ueber2|siebtes kapitel: nachher]

Woher kam nur der Schwanz, als gestern
wir uns doch liebten ganz als Schwestern?

Der Wecker schrillte – zumindest kam es mir so vor – mitten in meinem Schädel. Das war deswegen unangenehm, weil dieser Schädel an den Nahtstellen auseinanderzufallen drohte – und wenn der Wecker mitten in diesem empfindlichen Gebilde weiter solchen Lärm machte, würde es in vier oder mehr einzelnen Teilen auf das Kopfkissen fallen …

Über mich hinweg tastete ein schlanker weißer nackter Arm – ins Leere; denn dort, wo Pamelas Wecker in ihrer jungfräulichen Klause stand, befand er sich natürlich hier nicht. Aber das wurde mir erst erheblich später klar – zunächst erschien mir dieser dritte Arm, der da plötzlich vor mir herumtastete, als ausgesprochenes Wunder (ein Wunder, über das nachzudenken leider viel zu viel Anstrengung für meinen schmerzenden Schädel gewesen wäre). Aber üblicherweise gehörte ein Arm an eine Schulter, Die war auch da. Und über der Schulter ein süßes Gesichtchen – so mißbilligend-schmerzvoll verzerrt, wie es zu diesem unverschämten Wecker paßte

und das gehörte zu einer gewissen Pamela. So viel war mir schon klar.
Nur wieso diese Pamela – wenn ich mich recht entsann, eine Tochter von Silvia Orchidea und Alexander Mertens, bei deren Hochzeit ich Brautjungfer (oder Brautmutter?) gewesen war, und dann hatte mich ein dicker Wikinger auf einem Schneehahn entführt, weil ich Brunnhilde im Regenmantel war, und immer gefragt; „Frolleinchen, wohin denn so alleine?“ – also wie diese Pamela hier neben mich ins Bett kam, das war so schwierig zu erinnern. Viel schöner war die Erinnerung an eine tolle Fahrt durch den Weltraum mit ihr – auf einem zuckenden Wagen aus Frauenfleisch – wenn man sich in das vergraben könnte, dann würde auch der Schädel besser zusammenhalten …

Gottseidank – jetzt hörte das Geklingel auf. Aber da machte schon wieder jemand schrecklichen Lärm neben mir:
„Du – Sylvia – ?“ schrie da jemand – eigentlich schrie sie gar nicht, aber zu laut war es trotzdem! – „wie spät ist es denn?!“

Sylvia – das war ich. Soviel war mir ja auch klar – ich war ja gar nicht so schlecht. Früher war ich zwar nie eine Sylvia gewesen – aber das war ja jetzt gottseidank völlig anders. Ich hatte sogar ganz hübsche Mädchenbrüste, wie ich dankbar fühlte. Wenn man mich nur nicht immer Sachen fragen würde, die kein vernünftiger Mensch mit solchen Kopfschmerzen wissen konnte!

„Hmmmmm?!“ murmelte ich erst einmal mühsam.

„Hast Du – “ sie stöhnte leicht und ließ sich schlaff wieder auf die Kissen zurückfallen – „auch so einen Kopf?“

Ich überlegte logisch: Einen Kopf hatte ich – sogar sicher (wenn ich keinen gehabt hätte – was hätte mir dann so wehgetan?), Und offenbar hatte diese Pamela – die war übrigens ganz süß, erinnerte ich mich – auch einen Kopf. Ohne Kopf wäre sie ja auch gar nicht in der Lage gewesen, mich was zu fragen. („Mädchen ohne Kopf neben schlafenden Jüngling entdeckt … „) Aber hatte ich auch so einen Kopf wie sie? Wenn ich Sylvia war, dann ja – aber wenn ich der schlafende Jüngling war – ?

„Hmmmmm!“ erwiderte ich, mir alle Möglichkeiten offenhaltend.

„Und – “ fuhr Pamela – liegend offenbar etwas konversationsfähiger – verwundert fort, „hast Du auch so komisch geträumt?“

Komisch – das kam nun wieder ganz darauf an, was man als „komisch“ ansah. Ich war eigentlich ganz stolz darauf, Brünhilde im Regenmantel zu sein – aber der Wikinger mit seinem schwarzen Bart und der dicken Nase (Nasen waren ein Zeichen für die Entwicklung des männlichen Geschlechtsteils, oder wie war das gewesen ?) war schon ein bißchen komisch gewesen…

„Ich habe sogar geträumt – “ fuhr Pamela nachdenklich fort, „Du hättest mich – wie ein Mann – „

Sie stockte und richtete sich halb auf, plötzlich große forschende Rehaugen auf mich richtend. Ich fühlte plötzlich, daß ich hellwach wurde (leider ohne daß die Kopfschmerzen dadurch verschwanden – sie wurden mir im Gegenteil erst so richtig bewußt!): verdammt – eiskalt erinnerte ich mich plötzlich an alles!

Instinktiv tastete ich nach meinem Kopf.
Da war nichts. Kein Tuch, Keine Locken. Und das war doch – verdammt nicht in Ordnung – – – ?!

Die süßen braunen Augen wurden immer größer, ihr Blick immer befremdeter – ich spürte, wie sie sich unwillkürlich ein Stück zurückzog …

Ich widerstand einem Impuls, mir die Bettdecke über den Kopf zu ziehen und die ganze Welt – von diesen mißtrauischen Augen bis zu den Strahlen der Morgensonne, die wie bösartige Pinzetten unter meine Augenlider griffen – auszuschließen, bis ich endlich sicher sein konnte, daß mein Schädel nicht auseinanderfiel: irgendwie sagte mir schon die sachliche Überlegung, daß ich dieses Tuch um den Kopf doch nicht getragen hatte, um den Schädel zusammenzuhalten – sondern aus einem ganz anderen wichtigen Grund, der etwas mit dieser jetzt so argwöhnisch schauenden Pamela zu tun hatte …
Jedenfalls – ich setzte mich mit heroischer Anstrengung im Bett auf – war es (aus Gründen, die ich noch immer mehr im Gefühl hatte, als im klaren Verstand) sicher besser, wenn i c h jetzt noch mehr Abstand zwischen uns legte: als wenn sie ihrerseits davonlief, ich schwang die Beine über die Bettkante (es war doch erstaunlich, daß der Schädel bei alledem noch immer zusammenhielt), sammelte dort, einen Moment vornübergeneigt sitzenbleibend, neue Energie und erhob mich dann.

„Ich mache uns einen starken Tee – das hilft gegen diese – “ versuchte ich leichthin zu murmeln, ohne mich umzuwenden, “ – Kopfschmerzen!”

Vielleicht hätte ich sogar einen halbwegs würdevollen Abgang geschafft, wenn auf meiner Seite des Bettes eine Tür gewesen wäre. Wie immer in solchen Fällen, war da aber keine – ich mußte unter den großen Augen, die ich wie Brennstrahlen im Rücken fühlte, um das ganze riesenhafte Doppelbett herumgehen: begann mit zwei, drei gemessenen Schritten – wurde dann immer schneller – und verließ das Zimmer schließlich fluchtartig.

Am Treppengeländer mußte ich erst einmal innehalten – und dann stieg ich sehr vorsichtig, jede Stufe bis in alle Nähte meines zerspringenden Schädels spürend, ins Erdgeschoß hinunter. In dem Maße, wie ich mich von Pamela entfernte, begann mir die Situation immer klarer zu werden: aber was mir da klar wurde, ließ mich erst einmal wieder in die Kopfschmerzen zurückfliehen – die bei aller Unannehmlichkeit doch wenigstens eine wunderbare Entschuldigung waren, nicht zu denken.

In der Diele kam ich am Wandspiegel vorbei und warf einen vorsichtigen Blick hinein – w a s hatte Pamela jetzt eigentlich gesehen?!

Ich jedenfalls sah eine schlanke Gestalt – in einem rosaseidenen Damennachthemd – noch immer mit strammen, wohlgerundeten Mädchenbrüsten: aber mit einer allenfalls in den zwanziger Jahren erlaubten, verwuschelten kurzen Herrenfrisur – von Küssen einigermaßen verschmiertem make-up – einem Auge mit langen, schweren Wimpern – während das andere im Vergleich dazu viel kleiner und kurzwimpriger in das viel zu helle Morgenlicht blinzelte. Seltsamerweise sah ich immer noch ziemlich hübsch aus – feminin genug jedenfalls, um Pamelas Unsicherheit zu erklären.

Aber da meine ganze Locken-Konstruktion (und eine falsche Wimper!) irgendwo da oben im Bett liegen mußte, war das nur eine Verzögerung des Unvermeidlichen gewesen: ich erwartete jetzt jeden Augenblick, hysterische Schreie von oben zu hören –

Wieder flüchtete ich mich ersteinmal in die Kopfschmerzen zurück. Sie folgten gewissen Gesetzmässigkeiten: wenn ich zum Beispiel die Augen zumachte, wurden sie etwas schwächer – wenn ich mich vornüber beugte oder andere unerwartete Kopfbewegungen machte, wurden sie unerträglich. Vorsichtig tastete ich mich, starr erhobenen Hauptes, mit geschlossenen Augen in die Küche.
In verschiedenen Filmen und Romanen beginnen Frauen, die eben von einer seelischen Katastrophe erschüttert wurden, sich zu fassen, indem sie mechanisch irgendeine Hausarbeit beginnen. Ich weiß nicht, ob das eine typisch weibliche Reaktion ist, und ob ich versuchte, sie nachzuahmen – aber jedenfalls hatte ich gesagt, ich wolle einen starken schwarzen Tee kochen: und wenigstens da wollte ich Pamela die Wahrheit gesagt haben.

Während ich die Augen langsam wieder öffnete – wer zum Teufel hatte diese hellen Morgensonnen-Scheinwerfer eingeschaltet? – und einen Kessel mit Wasser füllte, begann ich ganz vorsichtig an einer Ecke des Problems, die nicht ganz so fürchterlich war: warum hatte ich eigentlich gestern abend den Wecker auf eine solch unchristliche Zeit – die Küchenuhr zeigte so etwas wie halb acht – gestellt ? Das war doch irgendwie wegen – ach ja, wegen Pamelas Büro gewesen: da hatte ich doch noch die Illusion gehabt, ich könne sie am Morgen, ohne daß sie etwas bemerkte, verabschieden …

Welcher Teufel hatte mich aber auch geritten, statt mich hinter verschlossener Tür zu verbarrikadieren, ausgerechnet mit einem Mädchen ins Bett zu kriechen? (Korrektur: meinte ich, es wäre irgendwo weniger kompliziert geworden, wenn ich mit einem Mann ins Bett gegangen wäre ?!). Jedenfalls – schweifte die Erinnerung plötzlich ab – ein ganz lieber Teufel: er hatte mir – uns? – doch diese herrliche Weltraum-Wagenfahrt verschafft; genauer gesagt, das wurde mir jetzt erst klar: die erste Frau, die ich in meinem Leben besessen hatte!

Einen Augenblick überlief mich – Kopfschmerzen, Probleme und Katastrophen beiseiteschiebend – wieder die Erinnerung an Küsse, weisse weiche Glieder, süße runde Früchte, eine zärtliche heiße Scheide, unseren Sturz in den wunderbaren Strudel jenseits des Weltalls …

Wenn das alles doch bloß ein bißchen weniger kompliziert passiert wäre – aber dann wäre es natürlich, mußte ich logisch weiter zugeben, überhaupt nicht passiert: denn vor einem Mann hätte sich überhaupt kein Mädchen schon am ersten Abend splitternackt ausgezogen, um gemeinsam ins Bett zu gehen – und nur ein Mädchen mit so komplizierten Gefühlen wie Pamela tat dann im Bett mit ihrer Freundin Sylvia die wunderbaren Dinge, die wir erlebt hatten …

An dieser Stelle – wenn doch bloß diese irren Kopfschmerzen nicht gewesen wären – gab es aber doch eine Inkonsequenz, wenn ich sie nur richtig finden könnte: da h a t t e sie sich doch gewünscht, daß „Sylvia“ ihr „was tun“ sollte: und das h a t t e sie doch, sogar mit einer gewissen Begeisterung, akzeptiert …
Ich hatte währenddessen unendliche Mengen schwarzer Teeblätter in eine Kanne geschaufelt – und jetzt schien das Wasser doch zu kochen. Man mußte also jetzt hinübergehen, den Kessel holen, und …

In diesem Augenblick ging die Tür der Küche auf. Blaß, die süße Stirn schmerzgerunzelt und die Augen einen Augenblick erholsam geschlossen, lehnte sich Pamela an den Türpfosten. Sie hatte Tante Irmas Morgenrock, der mir im Lauf der Nacht auch abhanden gekommen sein mußte, umgeworfen – und sah etwas aus wie eine Mischung aus Madame Butterfly, Ophelia und Lady Macbeth (wenn Tante Irma wüßte, wer ihren Kimono alles trägt – und in welchen Situationen! – mußte ich unwillkürlich denken).

Mir fiel nichts besseres ein, als nun tatsächlich meinen Teekessel zu holen und vorsichtig – in mehreren wohldosierten Güssen – das kochende Wasser auf die Teeblätter zu schütten. Dann ging ich mit erzwungener Harmlosigkeit zum Schrank und begann Teetassen und Zucker auf ein Tablett zu stellen.

Pamela hatte die Augen langsam wieder geöffnet. Sie sah mich wieder stumm, tragisch und forschend an – trat, als ich heldenhaft den Kopf nach ihr umwandte, zögernd einen Schritt auf mich zu – preßte dann wieder die Hand gegen die Stirn und schauderte zusammen.

„Erkälten werden wir uns auch alle noch! “ sagte sie dann mit Tränen in der Stimme, auf ihre nackten Füße weisend.

Ich ergriff das Tablett und begann würdevoll an ihr vorbei zur Küchentür zu schreiten – ihr mit einer Kopfbewegung (die ich lieber hätte sparen sollen – oder versuchte ich mich derart selbst zu strafen?) andeutend, mir zu folgen.

„Jetzt trinkst Du erst mal eine schöne Tasse heißen Tee – “ erklärte ich ihr mit dem sanften Nachdruck der kompetenten Sylvia.

Sie ließ sich mit einem kleinen Stöhnen in den Sessel am Dielentisch sinken.
„T e e – “ sagte sie, als umfasse diese Wort die ganze Tragödie des menschlichen. Daseins. „Gibt es denn hier keine einzige Kopfschmerztablette ?“

Ich spürte eine unfaßbare Erleichterung.

„Gleich – “ tröstete ich sie. „Trink jetzt erst mal – mit viel Zucker – “ Ich schaufelte ihr drei Löffel in die Tasse, rührte um und drückte ihr das dampfende Getränk in die Hand.

Irgendwo oben im Badezimmer gab es einen Medikamentenschrank. Die Treppe – aufwärts begangen – war zwar eine satanische Folter für meinen berstenden Schädel: aber ich hätte gern noch Schlimmeres auf mich genommen, solange Pamela bei solch ungefährlichen Themen verweilte …

Oben angekommen, kämpfte ich einen Augenblick lang mit der Versuchung, erst einmal nach meinem Kopftuch zu schauen. Aber dann schüttelte ich energisch den Kopf (ich mußte doch etwas masochistisch veranlagt sein! ) und wandte mich dem Badezimmer zu. Kaputt war sowieso alles …

Natürlich fand ich, wie in solchen Fällen meistens, keine Tabletten gegen Kopfschmerzen. Dafür aber eine Packung überstarker Migräne-Zäpfchen – besser als nichts, dachte ich, und wankte wieder nach unten.

Pamela hockte noch immer wie ein Häufchen Unglück in ihrem Sessel. Wenigstens ihren Tee hatte sie aber getrunken.

Nun hatte ich ja schon mehrfach Gelegenheit gehabt, zu bemerken, daß eine hilflose Pamela automatisch eine kompetente Sylvia auf den Plan rief. So war es auch hier wieder: Die Kopfschmerzen energisch in den Hintergrund drängend – genau wie alle anderen Probleme – übernahm Sylvia plötzlich wieder die Führung der Dinge.
“ … gegen spastische Schmerzzustände und Migräne!“ verlas sie den. Text der Packung wie eine Proklamation. „Das nimmst Du jetzt – sofort – und dann trinkst Du noch einen schönen heißen Tee. Inzwichen – “ (Sylvia war jetzt voll in Fahrt) „muß ich Dein Büro anrufen. Wie heißt diese abscheuliche Frigga mit Nachnamen?“

„Dreiunddreißig – einundzwanzig – zehn- “ sagte Pamela mechanisch ein Computer in einem Science-Fiction-Film. „Das ist die Nummer – “ ergänzte sie dann entschuldigend. „Sie heißt Fräulein Bachmann.“ Dann schloß sie beruhigt wieder die Augen: die große Sylvia würde schon alles machen …

Noch während ich dem Tuten des Telefons lauschte, hatte ich zwar nicht die geringste Ahnung, wie ich unsere vollkommen unprogrammäßig verlaufene Aktion von gestern abend eigentlich wieder einrenken sollte; aber als sich dann die Firma «Nord-Import« meldete, erkundigte ich mich – wenn auch mit füglich weich modulierter Stimme – nicht ohne geschäftsmäßige Schärfe:
„Gibt es in Ihrem Unternehmen eine gewisse – äh, Frigga Bachmann? Ja? Würden Sie bitte die Freundlichkeit haben, mich mit ihr zu verbinden?“

Wie üblich, dauerte es einige Sekunden, bis das Mädchen die Umschaltung vollbracht hatte – Sekunden, in denen jedoch Sylvias Computer, trotz aller Kopfschmerzen, blitzschnell einen neuen Plan konzipiert hatte:
„Fräulein – äh, Frigga Bachmaria?“ begann ich kühl. „Hier spricht Schwester Sylvia von der Inneren Mission!“

Pamela gab einen unklaren unterdrückten Laut von sich und riß die Augen wieder auf.

„Gestern abend – “ fuhr ich geschäftsmäßig fort, „wurde bei einer Ausweiskontrolle auf dem Volksfestplatz ein junges Mädchen ohne Ausweispapiere aufgegriffen, die angab, Pamela – Pamela – “ ich raschelte verzweifelt mit den Seiten des Telefonbuchs, als suche ich in irgendwelchen Akten, und versuchte Pamela durch gleichzeitige wilde Gesten klarzumachen, daß ich ja (wie mir viel zu spät einfiel) noch nicht einmal ihren Nachnamen wußte.
„Pamela Rehlein ?!“ half mir die kompetente Frigga aus der Verlegenheit, „Was um Himmelswillen ist mit ihr?“

„- Pamela Rehlein zu heißen,“ fuhr ich – nun wieder kühl überlegen – fort. „Sie erzählte eine – nun, sagen, wir, ziemlich unglaubwürdige Geschichte darüber, daß eine Kollegin namens Frigga Bachmann plötzlich mit ihrer Handtasche verschwunden sei – „

„Aber das stimmt !“ unterbrach mich Frigga beschwörend.

„Das stimmt?! “ Schwester Sylvia holte hörbar Atem, „Einen Moment:“ fuhr sie dann eisig fort. „Das heißt also, daß Sie – wenn ich richtig lese, als Chefsekretärin tätig? – mit den Ausweispapieren, dem gesamten Geld und den Schlüsseln einer jüngeren Kollegin einfach spurlos verschwinden und sie – „

„Ja!“ gab Frigga gequält zu, „Wir haben uns ja auch schon Vorwürfe gemacht – aber das war etwas mit dem Auto und der Polizei – „

„Sie hielten also einen Kraftwagen für wichtiger als einen jungen schutzlosen Menschen, der Ihnen sein gesamtes Eigenturn anvertraut hat? Nun ja – “ resignierte Schwester Sylvia, „solch eine Einstellung ist ja heute nicht mehr ungewöhnlich..“

Pamela hatte wieder verzweifelt die Stirn in. die Hand gestützt. Sie zitterte leicht – oder schluchzte sie? Ich konnte das nicht recht verfolgen, weil die bestürzte Frigga mich jetzt wieder telefonisch bedrängte:
„Ja, Sie haben ja völlig recht – aber was ist denn nun mit Fräulein Rehlein ?!“

“Fräulein Rehlein – “ erwiderte ich eisig, „wurde, da man sie mittellos, ohne Ausweispapiere und dem Augenschein nach unter Alkoholeinfluß. stehend aufgegriffen hatte – auch nicht festzustellen war, ob sie überhaupt nach dem Jugendschutzgesetz ohne Aufsicht Erwachsener – “ (Pamela machte eine wilde, schwer zu deutende Gebärde) “- zu dieser Stunde an öffentlichen Lustbarkeiten hätte teilnehmen dürfen – andererseits aber, nach dem alten Rechtsgrundsatz ‚in dubio pro reo‘ – “ Schwester Sylvia unterbrach sich und erklärte dann nachsichtig, „das sagt zu deutsch: ‚Im Zweifelsfalle zugunsten des Beschuldigten‘ – in unsere Obhut übergeben und zunächst zur Ausnüchterung – „

„Um Himmelswillen – !“ murmelte Frigga zerschmettert. „Die arme Pamela!“
„Als solche – “ sagte ich tugendlich, „beginnt sie mir allerdings jetzt auch zu erscheinen. Es obliegt uns zwar nicht, moralische Urteile zu fällen – “ ( jetzt war ich nicht mehr im Zweifel darüber, warum Pamela zuckte. Keineswegs jedenfalls vor Schluchzen) „aber ich kann doch nicht verhehlen, daß Sie durch Ihre – nun, zumindest leichtfertige Handlungsweise – „

„Ja doch – das gebe ich ja alles zu – aber wo haben Sie denn jetzt Pamela – Fräulein Rehbein, meine ich ?!“

„Zur Ausnüchterung, sagte ich – es wäre freundlich, wenn Sie mich nicht so o f t unterbrechen würden, Fräulein – h, Bachmann! – in die Obhut einer unserer Jugendpflegerinnen übergeben, die sie – da unsere Heime überbelegt waren – zunächst in ihrer eigenen Wohnung untergebracht – „

„Gottseidank!“ Frigg atmete auf. „Ich dachte schon, sie hätte in einer Zelle – „

„Wir – “ sagte ich nicht ohne Selbstgerechtigkeit, „nehmen die uns auferlegte Verantwortung ernster.“ Kleine Pause, zwecks besserer Einwirkung. „Deshalb habe ich es auch übernommen, die weitere Überprüfung dieser – recht eigentümlichen Vorgänge, in die auch ein volltrunkener Ausländer verwickelt gewesen sein muß – in die Wege zu leiten. Es – „

„Es ist, verehrte Schwester Sylvia – “ irgendwann mußte ja der Frigg auch einmal die Galle platzen, „jetzt doch alles geklärt. Sicher haben doch Sie wie wir jetzt nur das eine Interesse, das unschuldige Opfer dieser Verwicklungen so schnell wie möglich – „

„Sie erlauben, daß ich Ihnen widerspreche – “ Schwester Sylvia sprach mit einiger Autorität. „Wenn die Dinge so liegen – dann braucht das arme Kind jetzt vor allem einmal Ruhe, um sich von der ganzen Aufregung zu erholen. Ich werde zwar sofort alle zuständigen Stellen unterrichten, wie sich die Dinge aufgeklärt haben – aber Sie gestatten, daß ich Fräulein Rehlein im Moment bei uns in besseren Händen glaube als bei Ihnen!“ Etwas versöhnlicher setzte ich hinzu: „Später wird sie sich dann gewiß selbst mit Ihnen in Verbindung setzen – oder wird sie in Ihrem – Büro – „(Schwester Sylvia betonte das so , als meine sie etwas ganz anderes) „derzeit so dringend gebraucht ?!“

Frigg benutzte – wie gewünscht – die goldene Brücke zum Rückzug. „Aber nein – sie hatte ja gestern sowieso Überstunden gemacht – das war ja die ganze Ursache – „
„Sie verzeihen, wenn ich mich dem weiteren Studium dieser – Ursachen nicht mehr widmen kann,“ schloß ich zuckersüß. „Sie werden verstehen, daß unsere Institution noch viele andere Fälle zu bearbeiten hat, die – vielleicht – weniger harmlos sind als dieser -„

„Aber – Sie haben doch Mühe und Auslagen – “ fiel Frigg nun zum guten Schluß noch ein.

„Dies – “ sagte ich milde, „ist unsere Lebensaufgabe. Wenn Sie es für nötig halten, steht es Ihnen frei, eine Spende an eine der Organisationen – “ Ich hängte ein.
Pamela prustete jetzt endlich offen heraus.

„In besseren Händen – “ ahmte sie zuckersüß nach, als sie sich etwas beruhigt hatte. „Du – du – du Jugendpflegerin! Ausnüchterung! Jugendschutzgesetz! Man sollte Dich doch – „

„Man sollte – “ unterbrach ich sie, noch immer mütterlich-milde, „jetzt brav sein Zäpfchen gegen den Brummschädel nehmen und sich dann wieder schön ins Bettchen packen – nachdem Du das blöde Büro erstmal vom Halse hast !“
Pamela preßte wieder die Hand gegen die Stirn.

„Das Schlimmste ist – “ sagte sie schmerzvoll, „daß Du sogar recht hast.“ Sie erhob sich etwas unsicher, die Schachtel mit den Zäpfchen gegen die Brust gepreßt. „Aber – ” fuhr sie mit blitzenden Augen fort,“ wenn Du meinst, daß ich mir hier vor Dir ein Zäpfchen in den – in den – “ sie schüttelte wild den Kopf (wie ihre Miene zeigte, bekam ihr das genau so prompt schlecht wie mir) und wandte sich wütend zur Treppe.

Um dann stöhnend gegen das Geländer zu sinken; „Raufhelfen könntest Du mir wenigstens!“ murmelte sie vorwurfsvoll.

Zwar hatte auch ich während des Telefonats meine letzten Reserven an. Energie verbraucht – und schwamm jetzt durch ein abscheuliches Meer schmerzender, dröhnender Wellen, von denen nur nicht klar war, ob sie von außen an meinen Schädel brandeten – oder von innren: aber gerade deshalb konnte ich Pamelas Bitte zutiefst verstehen.

Es wäre denn – für einen objektiven Beobachter – auch schwer festzustellen gewesen, wer eigentlich wen die Treppe hinaufführte, als wir da unsere zerspringenden Schädel mit äußerster Vorsicht wieder ins Obergeschoß transportierten und zum Schlafzimmer wankten: Himbeergeist und Sekt – oder Cocktails und Sekt?

„Hier – “ streckte mir Pamela mit der Geste einer verzeihenden Königin die Schachtel hin, „Du brauchst so ein Ding genau so nötig wie ich!“

Da hatte sie unheimlich recht. Ich schaffte auch noch die paar Schritte bis ins Badezimmer – dann mußte ich mich erst einmal aufs Klo sinken lassen, ehe ich mit einiger Mühe das Zäpfchen aus seinem Cellophan geschält und an die richtige Stelle verbracht hatte (und sowas finden jetzt die Schwülen schön? dachte ich etwas unlogisch). Dann aber packte mich das – wie ich mir ganz glaubhaft einredete – Pflichtgefühl. Die Popobacken angestrengt zusammenpressend, ging ich mit kleinen Schrittchen. wieder zur Tür ins Schlafzimmer.

„Willst Du – “ fragte ich fürsorglich, „vielleicht noch eine Tasse heißen Tee?“

Pamela öffnete schläfrig die Augen.
„Tee – “ sagte sie verachtungsvoll. Und dann umspielte ein zartes Lächeln ihre Lippen: „Nun komm schon wieder ins Bett – “ sagte sie leise, „Schwester Sylvia!“

Das nächste Erwachen war sehr viel angenehmer als das erste – schon weil es von allein kam, nicht durch einen schrillenden Wecker. Und in dem tiefen Schlaf, in den uns das Medikament nocheinmal hatte fallen .lassen, waren die Kopfschmerzen auch spurlos verschwunden – nur daß noch, als Nachwirkung, eine Art olympische Abgeklärtheit zurückgeblieben war, die mich alles aus geruhsamer Distanz sehen ließ…

Außer Pamela, die sich wieder einmal vertrauensvoll dicht an mich gekuschelt hatte. Sie mußte schon ein wenig vor mir aufgewacht sein, denn eigentlich wurde ich davon wach, daß sie meinen Arm am Handgelenk hochhob – so hoch, daß er genau neben ihrem eigenen erhobenen Arm gestreckt hing – und vorwurfsvoll sagte:
„Es ist einfach unverschämt, daß Du weißere Arme hast als ich!“

Ich zog meinen. Arm, ohne daß sie ihn losließ, langsam und immer noch ausgestreckt beiseite – so daß der ihre, mit bis zur Schulter hochgerutschtem Kimonoärmel, dicht vor meinen Lippen lag.

„Das ist – zugegebenermaßen – unverzeihlich – „stimmte ich wohlig zu und küßte die nackte glatte Haut ihres Oberarms zärtlich, „aber D e i n e Arme kenne ich ja auch «erst seit gestern!”

Wenn dies auch nicht ganz logisch war, so gefiel es Pamela offenbar doch: denn sie schlang den diskutierten Arm kühl und seidig um meinen Nacken.

„Trotzdem hast Du überhaupt nicht so hübsch zu sein wie ein Mädchen!” verwies sie mich sanft, flocht aber zugleich – um anzudeuten, daß sie mir nicht a l l z u böse sei, ihr linkes Bein zierlich um meines. Dies veranlaßte mich wiederum, die ganze süße Pamela überhaupt mit dem freigewordenen Arm auf mich heraufzuziehen – wo sie zufrieden, warm und wohlig weich unter der glatten Kimonoseide liegenblieb.

„Wieso?” fragte ich dann gelassen.

Sie hob den Kopf und sah mich wieder mal aus ihren süßen großen braunen Augen befremdet an.
“Was: wieso – ?”
“Wieso – “ erläuterte ich ihr gemächlich, „habe ich nicht hübsch zu sein?”

Sie guckte entgeistert und suchte einen Moment lang nach Worten.
“Weil Du ein ganz hinterhältiges, gemeines Biest bist – “ sagte sie dann mit blitzenden Augen, „daß ich Dich erst für ein Mädchen halte – und dann – und dann -“

„Und dann – was?” erkundigte ich mich – wieder mit jenem wohlig distanzierten Interesse, das ich von meinem Zäpfchen noch zurückbehalten hatte, und streichelte genußvoll den glatten, weichen und doch festen Rücken unter der Seide ihres Morgenrocks.

Pamela runzelte die Stirn:
„Ich könnte Dir zum Beispiel jetzt die Nase abbeißen – “ theoretisierte sie ernsthaft, „Dann wärst Du für Dein Leben entstellt!“ Sie leckte sich mit der kleinen spitzen Zunge genußvoll die Lippen.

„Und hättest Du mich lieber so ?” fragte ich großzügig, „Dann beiß!”

(… und damit endet dieses Kapitel-Bruchstück leider …)

Susi

Vorausgehende Informationen von Hekate in einer Mail an Jula:
Liebe Jula,
das hätte ich nun auch nicht gedacht, daß ich mich auf einmal als “Herausgeberin des literarischen Nachlaßes” betätigen müßte (zumal Hellmut bis auf einen jahreszeitgemäßen Schnupfen noch total quicklebendig ist!) – aber nachdem ich Dir im letzten Brief so leichtfertig angekündigt hatte, ich würde versuchen, ihn dazu zu bringen, mal dies “Fragment”, in dem er – für mein Gefühl – sowas wie mein letztes Bild vorweggenommen hatte, einzuscannen (ich hoffe, Du hattest bemerkt, daß ich die Erklärung, was ein Fragment ist – “eine Geschichte ohne Kopf und Schwanz, der das Mittelstück fehlt” – nach dem Vorbild des von Euch zu Recht so verehrten Herrn Lichtenberg – “ein kleines Messer ohne Klinge, an welchem der Stiel fehlt” – gebildet hatte: das bin ich nämlich auch! (Ich meine natürlich nicht ein Messer ohne Klinge – sondern gebildet!)) – also jedenfalls, nachdem er das eingescannt hatte, erklärte er mir dann nochmal den fehlenden Kopf und Schwanz, meinte dann aber, die könnte ja nun ich Dir beschreiben, damit ich auch mal was täte (dabei war ich doch gerade so fleißig als Hausfräulein tätig! Aber das nehmen die Männer ja nie so richtig für voll (wenn das so weitergeht, emanzipiere ich mich demnächst!)).

Aber nun habe ich das eben am Hals – und weil Du möglicherweise aus den Trümmern sonst nicht schlau wirst, hier also die (unmittelbare) Vorgeschichte der Handlung: Der Erzähler hat gerade sein Abitur hinter sich, da muß er plötzlich in einem fremden Dorf auf die Villa einer verreisten Tante aufpassen, weil deren Dienstmädchen, daß das eigentlich tun sollte, mit einem unzeitgerecht gebrochenen Bein im Krankenhaus liegt. Aber wenn Dich dies Szenario verdächtig an den Auftakt des “10-Tage-Mädchens” erinnern sollte, so ist das durchaus irreführend: denn dieser Jüngling wäre diesmal schon rein physisch kaum in der Lage, sich als Maid zu verkleiden – er ist vielmehr, wenn ich Hellmut richtig verstanden habe, eher eine Kreuzung aus einem antiken Gott und Lord Byron mit Spuren von Sir Sean Connery (hach, identifiziert sich Hellmut auch manchmal mit solch einem Mädchentraum? Oder brauchte er diesmal bloß gerade so einen Erzähler?). Nun, kurz und gut, er hat gerade angefangen, sich in der einsamen Villa etwas einzurichten, als das Telefon klingelt, um alle Bewohner solcher Villen zu unterrichten, daß etliche Insassen eines benachbarten Jugendstraflagers ausgebrochen seien – die meisten habe man zwar schon wieder eingefangen, aber zumindest einer müsse sich noch in der Gegend herumtreiben: wachsam sein, nichts offenlassen und so weiter! Also macht er sich gleich auf einen Rundgang durchs Haus, verrammelt vorsichtshalber alles – aber da: ein verdächtiges Geräusch aus dem Keller?! Er geht ihm nach – aber was er findet, ist schwerlich ein gefährlicher Ausbrecher: sondern ein schmächtiges Häufchen Unglück mit einem – wie Hellmut definierte – “irgendwie verknulpst aussehenden Gesicht” (als ich mir darunter nichts rechtes vorstellen konnte, verwies er mich auf die “Zivilaufnahme” des jungen Hans Crystal – was ich hiermit auch tue: Crystal_Boy.jpg (Anm. Jula: leider verloren gegangen)) , den er bloß kräftig am Arm packen muß, um ihn nach oben zu holen und zu “verhören”:

Und ingrimmig packt der Kleine aus: erst hätten sie ihn überredet, mit abzuhauen – aber dann beim ersten Problem einfach sitzen lassen – und jetzt hoffe er, beim Teufel, nur, daß diese feinen “Kameraden” recht bald wieder gekrallt würden! Aber er jedenfalls wolle nie wieder zu denen ins Lager zurück – was sein Entdecker nachfühlen kann – bloß wisse er genauso wenig, was er statt dessen machen solle! Edel, wie Hellmuts diesmaliger Held nun mal ist, versucht er mit dem Flüchtling dessen ziemlich aussichtslose Lage Punkt für Punkt durchzusprechen – bis dieser so viel Vertrauen zu ihm gefaßt hat, daß er ganz naiv fragt, ob denn etwa vielleicht irgendwelche Mädchenkleider im Haus seien?

Worauf beim edlen Helden (wieder leichter Anklang, diesmal an Antons Abenteuer – aber wieder auch bemerkenswert anders) eine Klappe fällt …!
Und um die im einzelnen zu erklären, muß ich jetzt hier erst mal ein Fragment aus einem anderen Entwurf hereinsetzen – der zwar laut Hellmut gar nicht zu dieser Geschichte gehört hat, aber nachher auch in der plötzlich wieder auftaucht (das ist fürchterlich verwirrend, was da alles so in Hirn und Ordnern eines “Autors” durcheinander herumliegt!) – also:

(… etwas “Background” (?) …)

Das Große Geheimnis – es war für mich immer “Das Große Geheimnis”, zum Unterschied von einfachen großen Geheimnissen! – lernte ich schon kennen, bevor ich noch zur Schule ging; ich glaube so mit fünf Jahren.

Eigentlich war es ja der Zauberkünstler gewesen, auf den ich am meisten gespannt war – aber wie so oft, geschah das, worauf es ankam, in einer ganz anderen Nummer des Programms: da war ein hübsches rothaariges Dienstmädchen in Schürze und blaukariertem Kleid, das Wäsche auf eine Leine hängte – nur daß die Leine natürlich in Wirklichkeit ein Drahtseil war, über das es nachher hin und herlief, als ein Vagabund mit roter Nase und geflickten Hosen kam, der es immer aus irgendeinem Grund anfassen wollte (später kletterten die beiden sogar über die ganzen Kulissen herum, und alles fiel um) – das war ganz ulkig, aber eigentlich gar nicht das, was wichtig war, sondern: als dann am Schluß alles klatschte und die beiden sich verbeugten, da nahm das Mädchen auf einmal seine roten Locken ab – und war ein junger Mann mit glatten schwarzen Haaren!

Da lachten und klatschten die Leute noch viel mehr – aber ich war damals mit meinen fünf Jahren richtig durcheinander: gab es denn sowas? Entweder war jemand doch ein Mädchen – oder er war ein Mann: wenn man sich darauf nicht verlassen konnte – worauf dann überhaupt noch in der Welt?!

Das war mir so unheimlich, daß ich mich noch nicht einmal traute, auf dem Heimweg oder zuhause darüber zu reden: aber ich erinnere mich noch, daß ich in den nächsten Tagen jedes weibliche Wesen, das ich nicht ganz genau kannte, mit abgrundtiefem Mißtrauen musterte: wer garantierte, daß das nicht in Wirklichkeit auch ein Mann mit falschen Locken war, der sich bloß ein Kleid angezogen hatte?
Immerhin kannte ich jetzt Das Große Geheimnis: Männer konnten einfach so tun, als wenn sie Frauen wären – und wenn sie nicht plötzlich die Perücke abnahmen, merkte das überhaupt niemand!

Der Gedanke hatte etwas Erschreckendes – aber, genau wie eine Gespenstergeschichte, zugleich auch Aufregendes, Reizvolles: und genau wie ich mich bei einer solchen Geschichte zwar auch unheimlich fühlte – aber niemals aufhören konnte, zuzuhören und zu erfahren, ob sich nicht noch etwas Gruseligeres begeben würde – so ließ mich diese Idee auch nicht mehr los.

Es war eigentümlich erregend, sich so etwas in allen Einzelheiten auszumalen – anziehend und abstoßend zugleich: wie da eine junge Dame, natürlich eine besonders hübsche und elegante in einem ganz schönen und teuren Abendkleid, auf einem Fest einen Preis bekommen sollte, weil sie die Allerschönste war – und sich dann auf einmal mit der Hand über die Locken fuhr und als Mann dastand! Ich konnte mir richtig vorstellen, wie erschrocken und traurig der Mann mit dem Preis in der Hand dabeistehen würde – und die Mädchen würden wütend sein, daß jemand, der gar kein Mädchen war, viel schöner ausgesehen hatte als sie – die anderen aber würden sagen „wie schade – er wäre doch so eine süße junge Dame gewesen: warum ist er nur keine geblieben!“ – und das wußte ich nun allerdings auch nicht: wenn er schon so schön und mädchenhaft aussah, daß man ihm sogar ein Preis geben wollte – dann hätte er ja seine Perücke auch aufbehalten und nichts verraten können? Aber das verstand ich eben noch nicht – genau so wenig, wie ich mir erklären konnte, warum er überhaupt erst mal angefangen hatte, sich als Mädchen auszugeben – ich wußte nur, daß Erwachsene eine Menge von Dingen taten, die ich mir nicht erklären konnte: und dies hier war wenigstens etwas wirklich Aufregendes, bei dem einem ein halb ängstlicher, halb wohliger Schauer über den ganzen Rücken bis zwischen die Beine hinunterlief!

Als ich später lesen gelernt hatte, fand ich in der Zeitung – die hatte am Wochenende immer so eine halbe Seite „Geschichten aus der Wirklichkeit“ mit allen möglichen kuriosen Begebenheiten – ab und zu etwas über Mädchen oder Damen, die sich unerwartet „als Männer entpuppt“ hatten: nur zu meinem Leidwesen immer recht knapp und ohne jede nähere Beschreibung, wie denn nun das „Entpuppen“ eigentlich vor sich gegangen war, oder welche Hintergründe die ganze Verkleidung nun genau genommen gehabt hatte – es war ja gut und schön, wenn jemand ein „Hochstapler“ oder „Schwindler“ war: aber das konnte man ja doch, wie andere „Geschichten aus der Wirklichkeit“ bewiesen, genausogut in Männerkleidern sein?! Irgendwas mußte da noch dahinterstecken – mir fiel in diesen Jahren immer mehr auf, daß es eine ganze Reihe von kleineren „Geheimnissen“ zu geben schien, um die die Erwachsenen immer geschickt herumredeten – aber bei uns zuhause wurde über so etwas schon überhaupt nicht gesprochen: und selbst wenn es anders gewesen wäre – ich wußte ja selbst nicht so recht, was ich eigentlich hätte fragen sollen!

Ich wußte es sogar auch nicht, als ich einmal Gelegenheit hatte, über das ganze Thema mit jemand zu sprechen: das war ein – in bin nie so recht daraus schlau geworden – Untermieter oder Vetter oder Freund unserer verwitweten Tante aus der Nachbarstadt, der einerseits angeblich Lehrer, andererseits aber ohne Anstellung war und trotzdem ein eigenes Auto hatte, mit dem er eine Zeitlang herübergefahren kam, um mir vor der Aufnahmeprüfung für die Oberschule Nachhilfestunden zu geben. Ich verstand mich – was bei einem Lehrer eigentlich sehr seltsam war – recht gut mit ihm, und als wir einmal nachmittags zusammen ins Museum gingen (ich weiß nicht mehr, was wir eigentlich wirklich ansehen wollten oder sollten), kamen wir auch in die „ostasiatische Abteilung“ – und dort durch irgendwelche Puppen und Kimonos auch darauf, daß im japanischen und chinesischen Theater alle Frauenrollen von Männer dargestellt wurden.

Das war nun auch wieder ebenso neu wie aufredend für mich, zumal es irgendwie – wenn auch entfernt – an das falsche „Dienstmädchen“ im Varieté damals erinnerte. Diese Schauspieler, erklärte er mir, müßten viele Jahre üben und lernen, um sich in jeder Bewegung genau wie eine Frau zu verhalten – und die berühmtesten von ihnen seien graziöser als die wirklichen Japanerinnen und Chinesinnen; übrigens hätten auch zu Shakespeares Zeit in Europa noch Jungen und junge Männer die Mädchen auf der Bühne spielen müssen, weil damals Frauen das Auftreten auf dem Theater überhaupt verboten war. Sogar viele Jahre später hätte es immer noch Schauspieler gegeben, die ebenso gut Frauenrollen wie Männerrollen spielen konnten. Ich hörte ihm mit hochroten Ohren zu und fragte dann ein bißchen ungeschickt – ich konnte das eigentliche Problem noch gar nicht so richtig formulieren – warum sie das denn eigentlich getan hätten, wenn es doch soviel Mühe und Übung verlangte?

Er sah mich ein wenig eigenartig an und meinte dann leichthin „vielleicht wären sie in Wirklichkeit lieber als Mädchen auf die Welt gekommen?“ Das rückte mir nun Das Große Geheimnis wieder in ein. ganz neues Licht: daß jemand etwas anderes sein wollen könnte (schon die Worte dafür gingen merkwürdig durcheinander) als er eigentlich war – lieber ein Mädchen als ein Junge – war schon kompliziert genug; aber daß er es dann auch noch wirklich versuchte – obgleich er doch wissen mußte, daß an so etwas nichts mehr zu ändern war! – und vielleicht sogar so raffiniert, daß man ihn wirklich sein Leben lang für eine Frau hielt: das brachte nun wirklich all meine vertrauten Vorstellungen endgültig durcheinander:

„Aber – das geht doch nicht!“ protestierte ich schließlich. „Ich meine: gibt es das denn wirklich?“

Wieder lächelte er eigenartig “Ach Gott, Junge, was gibt es auf der Welt nicht alles!“ Er schüttelte leicht den Kopf. „Mal angenommen, Du kämst jetzt plötzlich darauf, daß es schöner wäre, ein Mädchen zu sein als ein Junge -“

„Nöö* – also das kann ich mir nicht schön vorstellen!“ fiel ich ihm ins Wort, Tatsächlich: so fremdartig mich die ganze Idee dieser als Mädchen oder Frauen verkleideten Männer anzog – auf mich selbst hatte ich sie noch nie bezogen; ich war, fand ich, sehr zufrieden, ein Junge zu sein – und zu bleiben.

„Na ja – D u natürlich nicht!“ korrigierte er sich rasch „Aber es könnte ja doch irgendwo Jungen geben, die vielleicht nicht so recht glücklich sind damit, wie sie leben müssen … “ Er schüttelte wieder den Kopf. „Aber sind wir froh, daß Du damit keine Sorgen hast!“

Und damit schien für ihn das Thema abgeschlossen – er jedenfalls kam nie wieder darauf zurück, und ich traute mich nie mehr, meinerseits davon anzufangen. Später gab es übrigens mit diesem Untermieter irgendeine Sache, die zwar alle auch in unserer Familie ziemlich aufzuregen schien — aber immer, wenn ich zufällig dazu kam, wechselten alle schnell das Thema, und ich bekam nie heraus, was mit ihm eigentlich geschehen war; fest stand nur, daß er nicht mehr bei meiner Tante wohnte und mir auch nie wieder Nachhilfestunden geben würde.
Besonders viele Gedanken machte ich mir darüber damals nicht – denn, neben all dem Neuen, was mir die Oberschule brachte, hatte ich einen Verdacht gefaßt, der alles überstieg, was mir bisher ja begegnet war:

Die Leihbücherei, in der unsere ganze Familie sich ihre Schmöker auslieh – nicht zuletzt ich, seit ich die Kriminalromane entdeckt hatte – bekam eine neue Pächterin; und diese Pächterin – so zumindest glaubte ich entdeckt zu haben – war kein Mädchen, sondern ein verkleideter Mann.

Es fällt mir heute selbst schwer, noch zu verstehen, wie ich darauf verfallen war: denn es handelte sich keineswegs etwa um eine grobknochige, häßliche oder maskuline Alte – sondern im Gegenteil um eine ausgesprochen hübsche junge Dame. Aber gerade das bestärkte meinen Verdacht: es war ja bekannt – zumindest jedem, der Das Große Geheimnis so gut kannte wie ich – daß verkleidete Männer immer wie besonders hübsche Mädchen aussahen!

In der Tat war nun Fräulein Joschek (auch so ein etwas verdächtiger Name) für ein Mädchen recht hochgewachsen und hatte auch nicht gerade kleine Füße. Aber noch schlimmer: sie trug Stiefel. Wenigstens hatte ich sie im Winter, als draußen rechter Schneematsch war, dabei ertappt. Das mag nun heute, wo jede Dame mehrere Paar Stiefel im Schrank hat, ziemlich selbstverständlich erscheinen: aber für mich war es das damals keineswegs. Frauen trugen in einem solchen Fall, wie ich sehr wohl von Mutter und Schwestern wußte, allenfalls Überschuhe oder spezielle Gummiregenstiefel – aber nicht, wie Fräulein Joschek, richtige Lederstiefel mit niedrigem Absatz.

Sie hatte sogar gegenüber ein Kundin, wie ich mitanhörte, lachend zugegeben, daß es richtige Männerstiefel seien – von ihrem Bruder, der sie in seinem Schrank zurückgelassen habe, sagte sie. Aber ich wußte die Wahrheit: sie selbst war dieser „Bruder“ – und hatte nur vorgetäuscht, die Stadt zu verlassen, um dann in Mädchenkleidern hier diese Leihbücherei zu übernehmen, wo niemand sie (ihn!) kannte!

Nachdem ich erst einmal stutzig geworden war, fand ich täglich neue Bestätigungen für meinen Verdacht:

Ob es nun die – für den Eingeweihten typisch männliche! – Angewohnheit war, sich rasch einmal ins Hinterstübchen zu verdrücken, um eine Zigarette zu rauchen, wenn der Laden leer war: oder ihre für eine Frau völlig unverständliche Belesenheit in Kriminalromanen (Mädchen lasen, wie ich von meinen Schwestern sehr wohl wußte, nur Liebesgeschichten mit Herzen und Mädchenköpfen auf dem Umschlag).

Und als sie eines Tages, nachdem sie mir den neuesten Krimi (extra für mich zurückgelegt) mit einem wunderbaren Skelett auf dem Titelbild gegeben hatte, in ihrer burschkosen Art augenzwinkernd etwas wie „wir wissen ja Bescheid“ oder eine ähnlich verschwörerische Bemerkung machte, stand es für mich fest, daß Fräulein Joschek ein verkleideter junger Mann sein mußte.

Nicht, daß ich darüber entsetzt gewesen wäre: sie – oder vielmehr er – hatte meine volle Sympathie bei diesem wagemutigen Spiel. Mochte es nun sein, daß er sich vor Verfolgern oder Gläubigern verbergen mußte – oder daß er zu jener seltsamen Sorte von Männern gehörte, die „in Wirklichkeit lieber als Mädchen auf die Welt gekommen wären“ – bei mir war sein Geheimnis in guten Händen. Wenn die übrige Welt zu unerfahren oder schwachsichtig war, die Indizien zu erkennen – von mir würde sie nie etwas erfahren.

Im Gegenteil genoß ich, in meinem geheimen Wissen, das ganze Fräulein Joschek wie eine eigens für mich veranstaltete Privatvorstellung: jedesmal, wenn ich in die Leihbibliothek kam, begutachtete ich mit fachmännischem Blick ihre dunklen Locken (saßen sie auch noch richtig ?) – kontrollierte den Sitz ihres „Gummibusens“ (ein Wort, das ich in einem Kriminalroman kennengelernt hatte) — und bewunderte das Geschick, mit dem sie (er) sich in immer neuen ausgesprochen mädchenhaften Kleidern bewegte, in ganz hochhackigen Schuhen oder so (wie ich aus irgendeinem Grunde fand) typisch weiblichen Sachen wie einem Gummiregencape mit Kapuze.

Ich war von alledem so fasziniert, daß ich unter irgendwelchen Vorwänden – sei es nun, ihr eine Packung Zigaretten zu holen, oder zurückgekommene Bücher in die Regale einzusortieren — bei jeder erdenklichen Gelegenheit in der Leihbücherei steckte (was mir überdies noch außerordentlich günstige Sonderkonditionen und Vorzugsrechte bei Neueingängen einbrachte); „mein kleiner Kavalier“ nannte mich Fräulein Joschek lachend gegenüber ihren Kundinnen – höchst raffiniert seine Mädchenrolle spielend, konstatierte ich anerkennend — und wahrscheinlich waren sogar meine Angehörigen überzeugt, daß ich hier meine erste stille Liebe gefunden hätte!

Wenn sie geahnt hätten – ?! Aber so war ich im Grunde recht zufrieden, daß sich alle ein durchaus harmlose Erklärung für mein Interesse an Fräulein Joschek zurechtmachten — zugleich sogar auch eine Erklärung dafür, warum ich gegenüber anderen weiblichen Wesen (schon gar gleichaltrigen!) hölzern, verlegen und abweisend war. Denn welches Interesse konnte man schon für solche Gänschen haben, wenn man täglich das Schauspiel einer geheimen, nur von mir durchschauten Damenimitation genoß!

Inzwischen hatte ich heimlich begonnen, Zeitungausschnitte und Illustriertenbilder, die mein Lieblingsthema betrafen, zu sammeln und in ein großes, sorgsam gehütetes Heft einzukleben: Meldungen über entlarvte falsche Damen, Karnevalsmaskeraden, Männer oder Jungen, die bei Theateraufführungen weibliche Rollen spielten, einmal sogar über einen „Damenimitator“, der in einer Revue „als Frau‘, auftrat. Ich blätterte abends vor dem Einschlafen gern immer wieder einmal in diesem Geheimarchiv und dachte dabei an das schöne falsche Fräulein Joschek: bis ich eines Nachts plötzlich aus einem Traum aufwachte, in dem ich gerade eine Zeitung mit der dicken Schlagzeile „Das schönste Mädchen der Stadt entpuppt sich als Mann!“ lesen wollte – und erschrocken feststellte, daß meine Pyjamahose schlüpfrig feuchtnaß war. Zuerst erst schämte ich mich furchtbar, weil ich dachte, ich sei vielleicht ein „Bettnässer* (das Wort kannte ich aus kleinen fettgedruckten Anzeigen in unserer Familienzeitschrift) – aber dann merkte ich doch, daß dies Zeug an meiner Hose da etwas anderes sein mußte: und die ganze Sache wurde mir noch unheimlicher.

Wenig später hielt mir mein Vater einen längeren ernsten Vertrag über viele Dinge, deren Zusammenhang ich nicht ganz verstand (was hatten die Blumen und Bienen mit schmierigen alten Männern zu tun, vor denen man sich in Acht nehmen mußte ?) – der mich aber jedenfalls mit dem Gefühl zurückließ, es gebe außer Lügen und Schuleschwänzen noch eine ganze Menge anderer Dinge, mit denen man sich als „anständiger Junge“ nicht befassen dürfe; von Männern in Frauenkleidern erwähnte er allerdings ebensowenig etwas wie von meinen Visiten bei Fräulein Joscheks Leihbücherei – obwohl die mit meinem „Samenabgang“ (so, wußte ich jetzt, hieß sowas) oder zumindest mit dem vorhergehenden Traum auch etwas zu tun gehabt hatte …

Und auch die Schulkameraden, die versuchten, mir offenbar das gleiche Thema auseinanderzusetzen, – nur mit völlig anderen Worten und völlig anderem Schwerpunkt – schienen mir ausschließlich mit Mädchen und der Frage beschäftigt, wo die kleinen Kinder herkommen (was ich nun schon seit längerem aus unserem Konversationslexikon wußte, das dieses Thema mit vielen Bildern gründlichst abhandelte – während es sich über so interessante Dinge wie „Damenimitatoren“ völlig ausschwieg).

Schließlich zog ich aus alledem den Schluß, daß es wohl das Vernünftigste sei, um Mädchen und Frauen, aber auch um alte Männer mit eigentümlichen Vorschlägen einen möglichst weiten Bogen zu machen: und auf möglichst harten Matratzen zu schlafen.

Bald darauf zogen wir in eine andere Stadt – und ich mußte schweren Herzens das Große Geheimnis Fräulein Joschek, im Grunde doch ungelöst, hinter mir zurücklassen; ich hatte zwar ernstlich überlegt, ihr anonym einen Brief mit der Versicherung zu schreiben, daß ihr (sein) Geheimnis bei mir in guten Händen sei – bis mir klarwurde, daß dies, ohne Angabe bei wem, sie (ihn) eher beunruhigen würde als beruhigen; und meinen Namen unter so einen Brief zu setzen, war mir auf der anderen Seite auch wieder zu riskant – zumal mir schließlich doch wieder Zweifel kamen, ob Fräulein Joschek nicht am Ende doch ein ganz gewöhnliches, unromantisches echtes junges Mädchen sein könnte…

(Da Du, wie ich Dich kenne, garantiert neugierig bist, was in diesem Fragment wohl “eigene Erlebnisse” Hellmuts gewesen sein könnten: wie er sagt, nur die Varietenummer und der Schlagzeilentraum – alles übrige hat er, wie ich finde ganz glaubhaft, dazuphantasiert… )

Aber, liebe Jula, ich muß Dir ja nun nicht im einzelnen vorbuchstabieren, wie fasziniert der Erzähler davon ist, plötzlich zum erstenmal richtig in der Realität jemand zu begegnen, der nicht nur auf die Idee des Verkleidens kommt, sondern ganz selbstverständlich erklärt, er könne nämlich ganz gut ‘ein Mädchen markieren’ (um seine Flucht ev. doch noch erfolgreich fortzusetzen).

Das möchte er ja zumindest mal sehen – und ist total verblüfft, wie sehr sich diese Behauptung bewahrheitet: in den Sachen und der Zweitfrisur des verunglückten Dienstmädchens sieht der Kleine plötzlich gar nicht mehr “verknulpst” aus, sondern hinreißend mädelhübsch! (Hab ich auch erst nicht geglaubt, bis mir’s Hellmut durch Gegenbild “Crystal-Girl.jpg” (Anm. Jula: leider auch verloren) demonstriert hat – er sagt, die beiden Bilder hätten ihm damals beim Schreiben vorgeschwebt … na ja, damals kannte er eben m e i n e Bilder noch nicht!!!)

Dennoch findet es der Erzähler riskant, ihn so einfach weiterfliehen zu lassen, während noch überall nach dem letzten Ausbrecher gesucht wird: und so ersinnt er einen ebenso raffinierten wie edlen Plan …

… der darauf hinausläuft, daß ein verängstigtes Aushilfs-Dienstmädel die Polizei anruft, da scheine im Keller des Hauses der Ausbrecher zu sitzen – sie habe ihn zwar dort eingeschlossen, aber ob nicht schleunigst jemand kommen könnte, um ihn abzuholen? Was denn die Polizei auch tut – und im Keller einen zornigen Jüngling vorfindet, der zwar in unverschämtester Weise darüber schimpft, daß ihn eine dumme Pute von Dienstmädel, als er von seinem abendlichen Waldlauf zurückgekehrt sei, plötzlich im Keller eingesperrt habe – sich aber ebensowenig ausweisen kann, wie er den örtlichen Polizisten etwa als Bewohner des Hauses bekannt wäre: so daß diese ihn vorsichtshalber erst mal abführen…

(was – nach dem wohlerwogenen Urteil des edlen Retters – kaum ein Risiko auf lange Sicht für ihn ist, da die Sache sich irgendwie aufklären wird: aber dem verkleideten Flüchtling erst einmal die Chance geben soll, sich – solange der “Ausbrecher “ ja scheinbar bereits gefaßt ist – unbelästigt so schnell und so weit wie möglich aus dem Staube zu machen…)

… und was, wie Du bereits ahnen wirst, natürlich wieder mal keineswegs so wie geplant abläuft:

(… so, nun kommt das eigentliche “Fragment” …)

„Sie brauchen mich nicht den ganzen Weg zu fahren – das Stück zum Haus gehe ich schon zu Fuß!“ sagte ich höflich, als wir an der Abfahrt angekommen waren. Schließlich wollte ich Zeit gewinnen – er (mir fiel erst jetzt ein, daß ich noch nicht einmal seinen Namen wußte) hatte es mit diesem überflüssigen Telefonanruf sowieso viel zu lange hingezögert und wertvolle Zeit verschenkt: wenn wir jetzt gemeinsam in der Villa ankamen und feststellen mußten, daß das „Dienstmädel“ verschwunden war, würde der Polizist – oder spätestens der Mann vom Straflager – vielleicht doch endlich zwei und zwei zusammenzählen und unweigerlich vier herausbekommen!

„Nee, nee – das laß ich mir nun nicht nehmen -“ dröhnte das Auge des Gesetzes jovial, n nach all den Unannehmlichkeiten, die Sie schon hinter sich haben – “ er bog in die Anfahrt ein, „und außerdem muß ich sowieso nochmal mit dem Mädel reden – sie sagt, sie vermißt auch Sachen, die sie gestern im Garten auf die Leine gehängt hat -„

Was war denn nun das schon wieder ?! War der denn vollends übergeschnappt, die Polizei geradezu mit der Nase auf das zu stoßen, worauf sie hoffentlich von allein nicht gekommen wäre ?!

„Mädchensachen – ?!“ machte ich so verblüfft wie möglich – wobei mir erst zu spät einfiel, daß ich damit die Sache nun endgültig vermasselt hatte: wenn mein Schützling nur eine Spur von Intelligenz besessen hatte, hatte er ja wenigstens von Männersachen gesprochen, die er als Dienstmädchen mit der übrigen Wäsche oder sonstwas ins Freie gehängt habe – aber ich Idiot mußte mich natürlich jetzt noch verplappern!

„Möglich – “ sagte der Polizist, Amtswürde und tiefere Einsicht in die Abgründe des Verbrechens als gewöhnliche Sterbliche in der Stimme, „ist das alles!“ Und nach einem Moment des Ringens mit sich, ob er mir Einblick in etwas ebenso Amtsinternes wie Unappetitliches geben solle, fügte er – gewissermaßen wohl um zu zeigen, daß er mich durch sein Vertrauen für erlittene Unbill entschädigen wolle – düster hinzu: „Den Akten nach ist der Entflohene schon früher mal in Mädchenkleidern aufgegriffen worden – „

Das mußte er von dem Mann aus dem Lager haben: wenn es in der ursprünglichen Fahndungsnachricht gestanden hätte, wäre wahrscheinlich selbst diesem biederen Gesetzeshüter aufgefallen, daß ich nun wahrhaftig nicht wie jemand aussah, der auch Mädelsachen tragen konnte! Aber welcher Teufel hatte denn bloß den kleinen Kerl geritten, ausgerechnet – und völlige unnötigerweise – dieses Thema in seinem Anruf anzuschneiden?

„Ja – gibt’s denn sowas – !“ sagte ich mit der nötigen ehrfürchtigen Fassungslosigkeit – während ich fieberhaft überlegte, was ich jetzt machen sollte: wenn das „Dienstmädchen“ nicht da war, konnte ich immer annehmen, daß es vielleicht ins Dorf einholen gegangen sei – und versprechen, es nach seiner Rückkehr davon zu unterrichten, daß die Polizei noch etwas von ihm wolle; aber wie lange konnte ich, ohne daß es verdächtig wurde, hinauszögern, zu melden, daß es immer noch nicht zurück sei – worauf der Polizei endlich doch ein Licht aufgehen würde?! Aber da waren wir schon – viel zu schnell – vor dem Gartentor.

„So – da wären Sie glücklich zurück!“ stellte mein Begleiter völlig überflüssigerweise fest, und als wir ausstiegen und den Gartenweg hinaufgingen, fügte er mit unterdrückter Stimme väterlich hinzu: „Nun – machen Sie’s aber gnädig mit dem armen Ding – natürlich hatten Sie eine böse Nacht da in der Zelle, aber es h ä t t e ja auch genausogut wirklich dieses Früchtchen sein können: und dann hätte jeder die Kleine gelobt, wie tapfer sie mit ihm fertiggeworden ist! Jetzt war sie natürlich am Telefon ganz aufgelöst – „

Also der mußte ja da am Telefon eine unheimliche Schau abgezogen haben – und, dachte ich plötzlich beschämt, das alles bloß, um sicher zu gehen, daß ich nicht in der Patsche sitzen bleiben würde: Früchtchen oder nicht – ein guter Kumpel war er jedenfalls gewesen; schade, daß ich ihm das nicht nochmal sagen konnte – wenigstens als Trost, wenn sie ihn etwa bloß deswegen doch erwischen würden …
Oder war er – fiel mir plötzlich ein, als der Polizist die Klingel drückte – in Wirklichkeit doch schlauer gewesen, als ich ihm zugetraut hatte: dieser Telefonanruf brauchte ja nicht wirklich von der Villa gekommen zu sein – vielleicht hatte er das bloß am Telefon gesagt und war in Wirklichkeit schon längst mit dem Frühzug über alle Berge, hatte nur von unterwegs irgendwo angerufen, um die Polizei noch auf eine falsche Fährte zu setzen – gar nicht so ungeschickt: denn jemand, der gerade meldete, der Flüchtige habe ihm gerade Mädchenkleider geklaut – den würde die Polizei, selbst wenn sie wußte, daß der Ausgebrochene sich vielleicht als Mädel kostümieren würde, als letztes in Verdacht nehmen, selbst der Gesuchte zu sein … ?

Doch gerade als ich mit dieser Überlegung heimlich erleichtert aufatmete – wenn ich jetzt noch ein paar Stunden herausschwindeln konnte, war der Vorsprung kaum mehr einzuholen! — brachen plötzlich alle Hoffnungen mit einem Schlage wieder zusammen:

Denn auf das zweite Klingeln öffnete sich auf einmal die Tür der Villa – und wer sie aufmachte, war niemand anders als mein schon meilenweit entfernt geglaubter Schützling!

Glücklicherweise guckte der Polizist in diesem Augenblick nicht mich an – sonst wäre ihm mein hoffnungslos dummes und verblüfftes Gesicht wohl doch aufgefallen! – sondern ihn: oder vielmehr „sie“.

Was verständlich war – denn dieser Anblick war ausgesprochen niedlich: das süße kleine Dienstmädel, wie es im Buche steht – vom knappen kessen Kopftüchelchen über verwuschelten schwarzbraunen Locken bis zu den wohlgeformten seidenbestrumpften Beinen, die in zierlichen weißen Sandalen steckten. Über dem gepunkteten Sommerfähnchen hatte er sich, wohl um besonders haushaltecht zu wirken, auch noch die rote Gummischürze aus der Küche umgebunden, die sich aufreizend über seinen kecken Mädelbrüstchen und den falschen Hüften straffte – und das Gesichtchen mit den frischen roten Kirschenlippen, dem kleinen frechen Näschen und ein paar klimpernden roten Plastikohrringen an den Ohrläppchen hätte ganz entzückend ausgesehen: wären nicht die – zwar, wie meinem neuerdings geschulten Blick auffiel, durch einen geschickten Lidstrich noch größer und unschuldiger wirkenden – Augen regelrecht verheult gewesen…

„Achgott, da sind Sie ja endlich – !“ plapperte er mit seiner verblüffend naturgetreuen Mädelstimme – schluckte, setzte, zu mir gewandt, erneut an:
„Ich – Sie – hach es ist – “ erneutes Schlucken, während er mit niedergeschlagenen Augen blind mit einer Hand seitwärts unter der Gummischürze herumfummelte,
“ – alles so – ich weiß gar nicht, was – “ jetzt hatte er endlich ein winziges, anscheinend schon völlig vollgeheultes Ziertaschentüchelchen gefunden: und benutzte es, um – endgültig in Schluchzen ausbrechend – die Augen darin zu vergraben und sich schamvoll halb abzuwenden.

Es war eine bühnenreife Komödie – haargenau das, was wohl ein unseliges Dienstmädchen wirklich aufgestellt hätte, das gleich zum Antritt seiner Stellung den jungen Herrn ausversehen von der Polizei ins Kittchen bringen ließ: aber ich war derzeit wirklich nicht in der Stimmung, diese schauspielerische Leistung zu würdigen – sondern nur zu gleichen Teilen wütend und ratlos: wieso um des Himmels willen war er denn nicht weg – sondern saß beziehungsweise stand hier noch immer mitten in der Höhle des Löwen!

„Nun beruhigen Sie sich mal, Frolleinchen – “ brummelte der Löwe beruhigend und legte sogar seine große Polizistenhand tröstend auf die zuckenden Schultern des schluchzenden „Frolleinchens“ (dessen Schluchzen und Schulterzucken für mich als Eingeweihten freilich eher nach kaum zu bändigendem Lachen zu klingen begann) – „einen Fehler kann jeder mal machen – und der junge Herr wird Ihnen schon nicht gleich den Kopf abreißen – „

“ – hhhnein – ?!“ machte das Frolleinchen tonlos und guckte vorsichtig – mit wirklich noch tränenschwimmenden Äugelchen – über den Rand des Taschentuches auf mich (wobei ich wieder den Eindruck hatte, daß es das Taschentuch in den Mund stopfen mußte, um nicht in lautes Gicksen auszubrechen).

Ich dagegen brauchte wirklich keine schauspielerische Anstrengung, um ihm eine ebenso finstere wie verweisende Miene zu zeigen. Es mochte ja möglich sein, daß i h n diese Zerknirschungs- und Verzeihungsszene unter den Augen der Polizei königlich amüsierte – aber war ihm denn nicht klar, daß wir hier, völlig unnötigerweise, dauernd am Rand der Entdeckung entlangbalancierten: während er, hätte er sich an meine Anweisungen gehalten, schon längst in relativer Sicherheit gewesen wäre ?! Was – zum Teufel – hatte ihn nur geritten, anstatt zu verschwinden sich immer noch hier herumzudrücken ?!

Nachträglich war die Erklärung dafür natürlich die einfachste und naheliegendste der Welt: und ich hatte sie natürlich auch in Dutzenden von Schmökern aus Fräulein Joscheks Leihbücherei gelesen und dort als selbstverständlich akzeptiert, daß die gerettete Millionenerbin – aller Vernunft und allen dadurch heraufbeschworenen Komplikationen zum Trotz – nicht mehr von der Seite ihres Retters weichen wollte, so sehr er sie auch beschwor, sich in Sicherheit zu bringen; nur war mir zu dieser Zeit eben nicht klar, daß sich mein Schützling ebenso hoffnungslos und bedingungslos in mich verknallt hatte … !

Anstattdessen begann ich streng und mit, wie ich hoffte verborgenem, Doppelsinn:

„Begeistert – das werden Sie hoffentlich verstehen – bin ich über das, was Sie da angestellt haben, natürlich nicht!“

Das Köpfchen unter dem bunten Kopftuch neigte sich demütig und verzeihungheischend – wozu es meiner Meinung nach auch allen Grund hatte – und die noch immer tränenschwimmenden Augen guckten regelrecht ängstlich unter den schönen langen Mädchenwimpern zu mir empor – was auch nicht geschauspielert war: denn jetzt wurde ihm natürlich doch klar, was er eigentlich angestellt hatte – und so sicher war es ja nun doch auch wieder nicht, daß ich jetzt noch immer weiter mitspielen würde … ?

„Aber – “ fuhr ich großmütig fort – was blieb mir schon anderes übrig, solange uns dieser Polizist dauernd zuhörte! – „ich will Ihnen zugute halten, daß Sie vielleicht irgendeinen Grund hatten, in dieser Situation so zu handeln – und daß Sie mit gutem W i l l e n so gehandelt haben, wenn auch wahrscheinlich nicht gerade klug!“ (ich tönte wirklich so wie der Rektor unserer Schule, wenn er einen armen Sünder – wie er meinte – psychologisch-pädagogisch geschickt ins Gebet nahm) „Deshalb beruhigen Sie sich erst mal und erzählen Sie dem Herrn Wachtmeister wenigstens, was das nun wieder für eine Geschichte mit den verschwundenen Kleidern ist!“ (Diese Angelegenheit wollte ich wenigstens schnell hinter uns bringen – und möglichst so, daß ich auch mitbekam, was dahinter nun wieder eigentlich steckte!)

Das Frolleinchen schnaufte noch einmal, sich aufraffend, in sein Taschentüchelchen – sich dabei verlegen abwendend und mir zugleich, mit dem Auge, das der „Herr Wachtmeister“ nicht sehen konnte, zuzwinkernd: offenbar wollte es mir zu verstehen geben, es habe sich bei dieser Geschichte durchaus etwas gedacht – und mich zugleich bitten, diese Finesse ihm zu überlassen.

Das war denn auch nicht nur das Klügste, sondern sowieso das Einzige, was ich tun konnte: wenn ich es einmal als gegeben hinnahm, daß er sich – aus welchen Gründen auch immer – statt zu verschwinden hier noch weiter als Dienstmädchen herumdrücken wollte, dann war es in der Tat kein ungeschickter Schachzug, die Polizei jetzt mit der Suche nach einem mit gestohlenen Mädchenkleidern fliehenden Ausbrecher zu hetzen – in der Hoffnung, daß sie darüber vergessen würde, ein zur gleichen Zeit aufgetauchtes Mädchen kritisch unter die Lupe zu nehmen!

Die Geschichte, die er dem guten Wachtmeister mit viel Schürzenrand- und Taschentüchlein-Gefummel und verstohlen-respektvollen Blicken auf den noch immer nicht ganz besänftigten „jungen Herrn“ – aufband, klang dann eigentlich auch ganz plausibel: gestern angekommen, habe er – oder in der Geschichte natürlich „sie“ – nach dem Auspacken ein paar Kleider, die im Koffer „verdrückt“ worden seien, zum „Aushängen“ auf eine Wäscheleine im Garten gehängt – „weil die Luft da noch so’n bißchen feucht war und das die Falten so schön aushängt“ vertraute er dem Wachtmeister hausfraulich-kompetent an – und dann vergessen, sie für die Nacht wieder hereinzuholen: in der Tat sei sie sogar gerade deshalb nochmal aufgestanden, weil ihr das eingefallen sei – “ aber dann sah ich da plötzlich jemand – und ich konnte ja nicht wissen, daß das Sie waren!!! Wenn ich doch bloß den Brief schon gehabt hätte – – – „

begann jetzt die Entschuldigungsarie an mich von neuem, so daß es strenger gemeinsamer Anstrengungen des Wachtmeisters und mir bedurfte, um unser schon wieder den Tränen nahes“Frolleinchen“ wieder zur Sache zurückzubringen – kurz und gut, über all der Aufregung habe sie dann natürlich endgültig auf die Kleider vergessen und als sie heute früh endlich wieder dran gedacht habe, sei eben eins davon weggewesen und ein gepunktetes Kopftuch auch.

„Kopftuch – sehr bezeichnend!“ murmelte der Wachtmeister zu mir gewandt.

Und wenn es sich nun auch noch bestätigt, daß Ihr Fahrrad wirklich verschwunden ist – „

„Also – glauben Sie das nun immer noch nicht?!“ benutzte ich die Gelegenheit, berechtigte Indignation zu zeigen – was ihn rasch und sherlock-holmes-mäßig weitersprechen ließ:

„… dann sollten wir auf eine Person in einem blaukarierten Kleid und Kopftuch achten, die auf einem Herrenfahrrad fährt!“

„Das sollten Sie aber gleich telefonisch durchgeben!“ schlug ich eifrig vor. „Wenn das tatsächlich zu der Zeit passiert ist, als wir das Fahrrad nicht mehr fanden – dann hat er mindestens – “ ich sah auf die Uhr – „sechs bis sieben Stunden Vorsprung, wenn nicht mehr … „

„… und wenn er sich dann im Morgengrauen unter all die Leute gemischt hat, die da auf die Felder oder zur Arbeit fahren,“ fuhr er düster fort, „dann wird er niemand aufgefallen sein – noch nicht mal seine groben Schuhe zu dem Mädelkleid: denn sowas haben natürlich die Mägde auch oft an, wenn sie aufs Feld müssen – „

„Sechs bis sieben Stunden!“ hämmerte ich ihm vorsichtshalber noch einmal ein, „wenn er halbwegs kräftig in die Pedale getreten ist, dann macht er mit meinem Rad leicht fünfzehn Kilometer die Stunde – das sind ja beinahe – Moment mal: also irgendwo in einem Kreis von fast hundert Kilometer kann der jetzt schon sein! Und da liegen wenigstens vier große Städte, in denen er irgendwo bei Komplizen untergekrochen sein kann – ganz zu schweigen davon, daß er auch im flachen Land geblieben sein kann: und wenn die Streifen jede Magd in ’nem karierten Kleid anhalten sollen, die irgendwo ’nen Feldweg langfährt … !“

ch schüttelte den Kopf: „Und wenn ich mir vorstelle, daß er das alles genau da geklaut haben muß, als wir hier drinnen … “ die Gelegenheit schien günstig, gleich nochmal die Polizei auf die Schippe zu nehmen, „… also trösten Sie sich mal“, fuhr ich zu unserem „Frolleinchen“gewandt fort, „Sie sind jedenfalls nicht die einzige, die heute nacht ’nen Bock geschossen hat!“ Und als es mir pflichtschuldig einen erleichtert-verschämten Blick zuwarf, fügte ich strenger hinzu: „Gestraft genug sind Sie ja schon – denn das Kleid werden Sie wohl nie wiedersehen!“

„Ahemm – “ räusperte sich der Polizist, der meine respektlosen Bemerkungen über geschossene Böcke mit saurem Lächeln mitangehört hatte, und fragte nun betont amtlich:
„Wollen Sie eine Diebstahlsanzeige erstatten ?“

„Hach Gott – ich weiß nicht – “ klapperte mein Dienstmädelchen hilflos mit den Augendeckeln, „ich meine, Sie suchen ihn ja sowieso schon mit der Polizei – und das war sowieso kein gutes Kleid, das hat mir nie richtig gepaßt – “ er strich sich wie unbewußt mit den Händen um die Taille, die unter der straff gebundenen Gummischürze unerhört schlank und zerbrechlich aussah, „das war hier viel zu weit – deswegen war’s wohl auch das einzige, das so ’nem Mann gepaßt hat – “ buchstabierte er uns nocheinmal der Sicherheit halber vor.

„Schreiben Sie’s doch einfach mit zu der Sache mit dem Fahrrad – “ griff ich schnell ein (ich hatte noch immer das ungute Gefühl, er könnte den himmelweiten Unterschied zwischen dem Flüchtigen und diesem süßen Dienstmädelchen so dick auftragen, daß man schon wieder stutzig werden mußte!) “ – offenbar hat er ja das alles, wie heißt es beim Gericht, ‚in einer zusammenhängenden Handlung‘ entwendet – und wenn Sie ihn erwischen, klärt sich das sowieso alles in einem Aufwaschen – “ (das fehlte mir noch, daß jetzt etwa ein Protokoll mit allen Personalien meines imaginären Dienstmädels aufgenommen würde!).

Aber glücklicherweise gab sich der Polizist damit zufrieden und empfahl sich schließlich – nicht ohne uns nocheinmal gute Ermahnungen gegeben zu haben, weder Kleider noch Fahrräder unbeaufsichtigt im Freien stehen zu lassen. Ich atmete tief auf, als ich seinen Wagen endlich die Zufahrt hinunter verschwinden sah – und wandte mich dann endlich, mit lang aufgestautem, aber gerade dadurch schon wieder halb abgekühltem Zorn an meinen Schützling:
„Was – zum Teufel – treibst Du denn bloß noch hier ?! Du könntest doch schon längst über alle Berge sein – !“

Er guckte mich wieder von unten-herauf mit verschämt-ängstlichen Mädchenaugen an:
„Sind Sie – sind Sie denn furchtbar böse, daß ich noch da bin?“ fragte er mit ganz kleiner zaghafter Stimme.

Es war eigentümlich: bei einem wirklichen Mädchen wäre mir solch zimtzickige
(hurra – hier kommt also die Assoziation zu mir! (Zizi))
Naivität („sind Sie denn nun furchtbar böse?“ – !!!) bestimmt auf die Nerven gegangen – und einen Jungen, der so etwas zu mir gesagt hätte, hätte ich wohl überhaupt für übergeschnappt gehalten; aber hier, bei einem Jungen, der ein Mädchen markierte, fand ich das seltsamerweise ganz in Ordnung – ja sogar regelrecht amüsant: so ähnlich, als wenn einer einen Lehrer, den ich nicht leiden konnte, täuschend nachmachte – und zudem schmeichelte es mir wohl sogar ein wenig: bisher hatte sich noch nie jemand Gedanken darüber gemacht, ob ich vielleicht über etwas „furchtbar böse“ sein könnte!

Und überdies mußte ich ja vor mir selbst zugeben, daß ich gerade noch vor kurzem gedacht hatte, es wäre natürlich viel interessanter und aufregender gewesen, noch ein bißchen länger mit diesem seltsamen Schein-Mädchen zusammenzusein …

„Natürlich bin ich nicht ‚furchtbar böse’!“ sagte ich irritiert. „Aber kapierst Du denn nicht, daß ich das ganze Theater hier nur mache, damit D u in Ruhe abhauen konntest – anstattdessen lädst Du Dir noch die Polente zum Kaffee ein! Was hast Du Dir bloß dabei gedacht?“

„Ach – “ er war jetzt schon so in seiner Mädelrolle aufgegangen, daß er unwillkürlich wieder anfing, am Schürzenrand herumzufummeln, „das war so: als Sie wegwaren, da hab ich mir überlegt – eigentlich soll man doch auf der Flucht immer das G e g e n t e i l von dem machen, was die Leute meinen, daß man jetzt täte – nich?

Und nun wissen die doch im Lager genau, daß ich mich vielleicht wieder als Mädel anziehen würde – natürlich der Dorfbulle heut nacht hier noch nich, aber bis zum Morgen hätten die das alle mitgekriegt – und wenn ich dann ohne Papiere da irgendwo in der Welt rumgelaufen wäre und in irgend ’ne Kontrolle?

Aber hier direkt unter ihrer Nase sitzenbleiben und sie sogar noch anrufen – das is ja nun das, was sie ganz bestimmt nich erwarten (weil sie ja auch nich ahnen, daß mir hier plötzlich jemand hilft wie Sie!) – und wenn die jetzt denken, ich bin mit dem Fahrrad schon über alle Berge – Sie könn‘ sicher sein, da gibt’s jetzt bestimmt ’nen Haufen Knallköppe, die plötzlich ’ne ‚verdächtige Person aufm Fahrrad’ gesehen haben, wenn das erstmal im Radio durchgekommen is und in der Zeitung – dann legt sich das ganze Trara hier nach’n paar Tagen völlig un‘ die suchen mich überall, bloß nich mehr hier in der Nähe!

Und wo Sie doch gesagt hatten, ’n paar Tage müssen Sie doch hier noch in dem Haus bleiben und das richtige Mädel liegt noch im Krankenhaus – „

Er hielt nach diesem Wortschwall inne und guckte mich wieder unsicher an, um zu erkunden, wie ich diese Erklärung aufgenommen hätte.

„Wenn Sie woll’n, kann ich natürlich auch gleich abhauen – “ bot er vorsichtig an. „Sie sind sowieso sauber – Sie brauchen ja nur immer sagen, daß ich schon da war un‘ Sie angeschwindelt hab – „

Ich versuchte, das alles erst einmal zu verdauen. Irgendwie leuchtete mir die Idee, das Unwahrscheinlichste zu tun, natürlich schon ein – nicht zuletzt, weil sie haargenau dem entsprach, was raffinierte Gentlemanverbrecher in meinen Schmökern auch immer getan hatten: und zudem hatte die Vorstellung, noch ein paar Tage in dieser abenteuerlichen Situation hier zu hausen, sicherlich mehr Reiz, als allein und dazu noch mit allen möglichen unangenehmen Fragen der Polizei zurückzubleiben: wenn das falsche Dienstmädel erst ziemlich genau dann verschwand, wo auch ich ohnehin abreiste, zögerte sich die Aufklärung des Ganzen bestimmt nochmal um unbestimmte Zeit hinaus – und dann waren wir beide weit vom Schuß, Einzelheiten wie das erfundene Fahrrad und meine nicht ganz saubere „Verwechslung“ der Dienstmädchen ließen sich viel besser vertuschen …

„Nee, nee – “ beruhigte ich ihn, „nachdem Du nun einmal die Chance, ganz schnell zu verschwinden, drangegeben hast, ist es tatsächlich besser, Du bleibst noch ’n paar Tage hier, bis sich der ganze Rummel gelegt hat – Du brauchst ja die Nase erstmal gar nicht vor die Tür zu stecken – und wenn Dich doch jemand sieht, dann wissen die Leute im Ort ja schließlich, daß hier ’n Ersatz-Dienstmädel kommen könnte – “ überlegte ich weiter, „obwohl – “ schockte mich plötzlich eine neue Komplikation, „was die denken werden, wenn sich rumspricht, daß hier so ’ne kesse Puppe mit mir ganz allein ohne Anstandswauwau unter einem Dach wohnt – !!!“

Er riß die Augen auf – und gickste dann wie ein Mädel:
„Hiiich – daran hab‘ ich noch garnich gedacht!“ (was, wie sich herausstellen sollte, eine krasse Lüge war) „- also – “ fuhr er übertrieben geziert fort, “ – bin ich doch kein a a n ß t ä n d i g e s M ä ä c h e n, daß mir d a a s garnich in’n Sinn gekommen is – !”

Doch dann schien er mitten in seiner Parodie plötzlich wieder unsicher zu werden:
„Oder – wenn Ihnen das nu aber peinlich is – ?!“ Er guckte mich wieder mal von unten herauf an wie ein kleines Mädchen, das nicht ganz sicher ist, ob es nicht was Schlimmes angestellt hat.

„Peinlich – Quatsch!“ brummte ich unwirsch, „wenn – dann hat ja höchstens das M ä d c h e n Angst, was die Leute denken könnten – nicht der Junge! Mir geht bloß im Kopf ‚rum, ob da jemand sich verpflichtet fühlen könnte, einzugreifen – wir können wirklich nich noch jemand brauchen, der alles durcheinanderbringt! – aber ich hoff‘ ja, die paar Tage lang werden die Leute höchstens quatschen, aber nix Wirkliches unternehmen – „

“ – und wenn die wirklich denken, was Sie meinen – “ fiel er eifrig ein, „dann denken sie also wenigstens nich – !“

Da hatte er auch wieder recht: wenn die Klatschmäuler einen richtigen kleinen Dorfskandal um das hübsche Aushilfs-Dienstmädel wittern würden – dann konnten sie schwerlich zugleich auch noch auf den Verdacht kommen, es wäre gar kein Mädel!

„Aber – “ unterbrach er sich plötzlich, „ich quassel und quassel hier rum und denk gar nich an Sie! Ham‘ Sie denn wenigstens was zu Frühstück bekomm im Knast -“ er stockte ein bißchen verlegen, „da bei der Polente, mein ich – “ verbesserte er sich.

“ – ’n Pott Kaffee, und der war ooch nich gut!“

Er riß entsetzt die Augen auf: „Also die Schweine – jetzt hab ich doch gedacht, wenigstens wenn einer unschuldig is – „

„Na ja – “ nahm ich meinen braven Wachtmeister in Schutz, „der h a t ja sogar dran gedacht, daß ich vielleicht was zu essen haben wollte – aber nach dem komischen Kaffee hab ich dankend drauf verzichtet und gesagt, ich ess dann hier was – „

“ – und ich – “ sagte er nicht ohne Triumph in der Stimme, „h a b auch was zu essen für Sie! Das muß bloß noch – “ er warf einen Blick auf die zierliche Damenarmbanduhr an seinem Handgelenk – ‚Leihgabe‘ von Tante Anni – „so zwanzig Minuten oder so schmurgeln – da könn‘ Sie sich gerade noch so’n bißchen frisch machen – „

Ich schaute ihn wieder verblüfft an: „Nun sag bloß, Du hast was gekocht ?“

„Na bin ich nu hier das Dienstmädchen oder nich?!“ fragte er entrüstet und fügte wieder mit unterdrücktem Gicksen hinzu: „Oder woher denken Sie, daß ich so schön verheulte Augen hatte ? Vom Zwiebelschneiden natürlich – un ich hatt‘ die ganze Zeit Angst, daß der Bulle spannt, daß ich Zwiebelsaft an das Taschentuch geschmiert hab, damit ich immer noch so’n paar Tränchen rausquetschen konnte -„
Ich schüttelte innerlich den Kopf – was war das doch für ein raffiniertes kleines Biest! Einen schönen Gefängnisfraß würde er ja wahrscheinlich zusammen-geschmurgelt haben – aber das war mir jetzt auch schon egal: ohne Abendbrot und Frühstück hatte ich jetzt so oder so einen Mordshunger – und daß ich mich „frisch machen“ mußte, damit hatte er auch recht: die ganze Nacht nicht aus den Kleidern herausgekommen und dann auch nicht richtig gewaschen – ich merkte jetzt, daß ich regelrecht stinken mußte!

„Ja – dann steig ich jetzt mal unter die Dusche!“ sagte ich. „Wann ist das Essen soweit ?“

„Na ich denke, gerade so richtig – 20 Minuten oder so’n bißchen mehr! Wo soll ich denn für Sie decken?“

Ich schaute ihn wieder entgeistert an – der nahm das ja mit der Dienstmädelei anscheinend wirklich bitterernst ?!

„Na also wir essen doch wohl hoffentlich zusammen!“ sagte ich – auf alle Fälle in einem Ton, aus dem nicht recht hervorging, ob ich seine Frage ernst genommen hätte oder nicht. „Und gegessen wird meistens da im Zimmer neben der Küche, wo die Durchreiche hingeht. Also – bis gleich!“

Als ich unter der Dusche hervorkam und mich am ganzen Leib abgeschrubbt hatte, fühlte ich mich schon wirklich wie ein anderer Mensch – Nächte in der Arrestzelle war ich halt doch nicht gewöhnt! – und stellte mich vor den Spiegel: so richtig nötig hatte ich es natürlich immer noch nicht, mich zu rasieren – aber jetzt, gewissermaßen als symbolische Handlung nach dem Arrest, beschloß ich doch, mich mit allen Finessen inklusive Onkels Rasierwasser „fein“ zu machen.

Ich hatte es zwar selbst noch nicht gemerkt und dachte immer noch, es wäre bloß die Reaktion auf meine Nacht in der Zelle: aber in Wirklichkeit fing ich jetzt schon regelrecht an, meine „Rolle“ als „der junge Herr“ zu spielen – genau wie mein Schützling die des süßen kleinen Dienstmädels – und gerade weil wir beide ja wußten, daß diese Rollen überhaupt nicht stimmten, gaben wir uns beide besondere Mühe, sie trotzdem möglichst perfekt zu spielen.

So hatte ich plötzlich Lust, mich nun auch zum Essen mal richtiggehend „schick“ zu machen – mit der hellen langen Hose und einem frischen Hemd, Onkels Herren-Eau-de-Cologne aus dem Badezimmer und sorgfältig gekämmten Haaren. Und zwischendurch konstatierte ich wieder mal verblüfft, daß mein „Dienstmädel“ all die Sachen säuberlich aus meinem Koffer gepackt und in perfekter Ordnung ausgebreitet hatte!

Aber das war nicht die letzte Überraschung: als ich herunterkam und ins Esszimmer ging, fand ich nicht etwa bloß Teller, Messer und Gabel vor – sondern eine liebevoll gedeckte Tafel mit Tischtuch und Setdeckchen, drei Sorten Gläsern und aufgesteckten Papierservietten und sogar einem Strauß Blumen in der Mitte – frisch wie aus der Illustrierten!

„Nun sag mal – !“ rief ich verblüfft aus, als mein Dienstmädelchen hereinwieselte – mit vor Eifer geröteten Wangen, klappernden Sandälchen und noch immer der hausfraulichen rotkarierten Gummischürze, die bei jedem Schritt so komisch aufregend um seine Hüften und Schenkel schlabberte. Aber er – oder „sie“ ?! – überhörte mein Erstaunen geflissentlich und verkündete nur verheißungsvoll:
„Serviert wird in einer Minute! Was nehmen Sie denn als Aperitif – Sherry oder Wermut?“

Ich war sprachlos – irgendwie mußte das mit Hexerei zugegangen sein, in den paar Minuten nicht nur diese Tafel zu decken: sondern, wie mir auffiel, auch noch aus den verheult-verschwollenen Augen von vorhin perfekt schwarzumrahmte Glutaugen zu machen, statt des Kopftüchelchens ein kesses rotes Band in die Locken zu binden und überhaupt – was er da noch gemacht hatte, konnte ich nicht entdecken, nur den Gesamteindruck – zum Anbeißen hübsch auszuschauen! Und – wie „Gefängnisfraß“ roch das auch nicht, was da aus der Küche hereinduftete …

„Also das gibt’s doch nicht – !“ beharrte ich – instinktiv überzeugt, daß er in Wirklichkeit brennend auf ein Kompliment warten mußte, „so ’ne Festtafel hab ich ja noch nie gesehen – wie hast Du das denn bloß geschafft?!“

„Hach – wissen Sie – “ machte er leichthin, aber offensichtlich geschmeichelt, „das hat mir jetzt so richtig Spaß gemacht, mal ordentlich vornehm zu decken – “ er lächelte fraulich-vertraulich, “ – eigentlich ha’m wir doch auch Grund zum Feiern , nich ?!“

„Na dann woll’n wir darauf ja auch mal anstoßen!“ sagte ich, „Was nehmen denn nun Sie als Aperitif, Fräulein – ach wie heißt Du eigentlich?“ fiel mir plötzlich ein.

„Ich ?“ wiederholte er unsicher.

„Ich meine – als Mädchen: da mußt Du doch irgend’nen Namen haben – Monika oder Ilse oder Lieselotte – „

Er lächelte ein bißchen verwirrt: „Aber muß ich denn nicht so heißen wie Ihr richtiges Mädchen – die im Krankenhaus, meine ich?”

“Ach was – Du bist doch die Aushilfe für sie: Da kannst Du heißen wie’s Dir gefällt!“
Er zögerte erst – überlegte – und sagte dann fast verlegen: “Also gefallen hätte mir immer schon ‘Susi’ – geht das?”

“Aber klar – das paßt doch richtig zu Dir! Also Fräulein Susi: was darf ich Ihnen denn nun einschenken ?“

„Hach – “ unterbrach er mich, “ jetzt muß ich aber nochmal in die Küche – sonst passiert da was!“ und wieselte mit raschelnder Schürze wieder hinaus, mir noch über die Schulter zulächelnd – „wenn ich dann schon bitten darf, einen Sherry!“

Tatsächlich standen auch die Flaschen schon auf dem Sideboard bereit – die Perfektion war wirklich unglaublich – und ich fühlte mich auch wirklich als Hausherr und Gastgeber, als ich zwei Gläser einschenkte…

Da ging auch schon die Schiebetür der Durchreiche auf, und „Fräulein Susi“ schob zwei dampfende Schüsselchen Suppe hindurch.

„Der Sherry wird kalt!“ rief ich alarmierend durch die Öffnung.

„Mo-mää-ent – !“ rief er im süßesten Sopran zurück, klapperte noch mit irgendwelchem Geschirr und kam dann wieder zur Dielentür hereingeraschelt, nahm mit geschmeichelt-verlegenem Lächeln das Glas entgegen und machte, wie um sich zu bedanken, einen richtigen kleinen Schulmädchen-Knix.

Ich hob das Glas und schaute ihm über den Rand hinweg in die dunklen Kulleraugen:
„Worauf trinken wir denn nun ?“

Er zuckte – noch immer verlegen lächelnd – die Achseln, (daß seine kessen runden Mädelbrüste unter dem straffen Gummi der Schürze richtig rauf- und runterrutschten) – aber nun mußte mir ja was einfallen:
„Also dann auf unser perfektes Hausmädchen – die süße Susi!“ sagte ich und kippte meinen Sherry herunter (ich hatte so Zeug noch nie getrunken und es schmeckte mir auch nicht besonders – aber in dem leeren Magen machte es ein ganz wohliges Gefühl).

Auch er trank aus – und machte vorsichtshalber nochmal so einen kleinen Knix (scheinbar fand er, das daß für Dienstmädchen, die der junge Herr zu einen Aperitif einlädt, sich so gehöre – und da ich vorher noch nie ein Dienstmädchen mit Sherry traktiert hatte, war ich schwerlich berechtigt, das zu kritisieren) und sagte dann praktisch:
„Nun wird aber die Suppe kalt!“

Er stellte erst mir mein Schüsselchen hin – dann das andere für sich – und wollte gerade, nachdem ich mich schon gesetzt hatte, auf dem anderen Stuhl Platz nehmen: als er innehielt und mit den Händen hinter dem Rücken zu fummeln begann – bis die straffe Schürze plötzlich schlaff herunterzuhängen begann –
„Ach laß doch die Schürze ruhig um – “ sagte ich unwillkürlich.

Er schaute mich einen Augenblick stutzend an – merkwürdig: einen Moment hatte ich regelrecht das Gefühl, als läge ich unter dem blinkenden Objektiv eines scharfen Mikroskops – dann zog er langsam die Schürzenbänder hinter dem Rücken wieder straff, daß sich der glatte Gummistoff wie ein Panzer um die schlanke Taille schmiegte:
„So – ?!“ sagte er fragend – mich noch immer eigentümlich forschend ansehend, während er die Bänder immer stärker anzog, bis sich Hüften, Taille und Brüste aufreizend unter dem gespannten Gummi modellierten und am Schoß schon quere Falten aufsprangen …

„Ach – die steht Dir irgendwie gut – “ sagte ich leichthin.

Jetzt fehlt da schon wieder ein Stück – wo sie vermutlich, das (natürlich perfekte) Menü verspeisend und teuren Wein aus Tante Annis Keller dazu trinkend, einander gegenseitig mehr oder minder verstohlen bewundern und immer unverhohlener miteinander herumflirten – doch dann muß der übernächtige “junge Herr”, nach dem schweren Wein plötzlich müde geworden, sich erst mal auf sein Bett im Gästezimmer niederlegen – wo er alsbald leicht konfus zu träumen beginnt:


Ich hatte aus Fräulein Joscheks Leihbücherei ein Buch gestohlen und war deshalb auf der Flucht. Gestohlen hatte ich es, weil es eigentlich verboten war, daß Jungen dieses Buch lasen; es hieß „Die Mädelfalle“ und handelte von einem Flüchtling, den die Polizei überlisten wollte, indem sie lauter Polizisten als Dienstmädel verkleidete, die in bunten Gummischürzen überall auf Leinen Wäsche aufhängen mußten – geheim und verboten war das Buch, damit niemand erfuhr, daß all die hübschen Dienstmädel auf den Wäscheplätzen in Wirklichkeit verkleidete Männer waren und nach Flüchtlingen Ausschau hielten. Daß ich das jetzt doch wußte, ließ ich mir natürlich nicht anmerken – weil man ja genau daraus, daß ich einen großen Bogen um diese scheinbar harmlosen falschen Mädchen mit ihren großen, bunten, aufregend über den nachgeahmten Brüsten und Hüften schlabbernden Gummischürzen machte, erkannt hätte, daß ich das verbotene Buch doch gelesen hatte und deshalb jetzt vor der Polizei flüchten mußte; wenn ich dagegen frech auf sie zuging und so tat, als hielte ich sie wirklich für Mädchen, konnte ich ungehindert entkommen.

Besonders eines davon, das aussah wie Fräulein Joschek, sich aber eine kupferrote Perücke aufgesetzt hatte und so hübsch ausschaute, daß es wirklich nur Eingeweihte als verkleideten Mann erkannt hätten, ließ seinen Wäschekorb fallen und stellte sich mir – als wolle es sich nur einen Mädelulk machen – breitbeinig in dem Weg, pralle falsche runde Brüste kichernd unter der straffen glatten Schürze über dem blauen Sommerkleid herausreckend und die weißen glatten Arme ausbreitend. Weil der Flüchtling ja nicht ahnen konnte, was sich hinter diesem lachenden Dienstmädel wirklich verbarg – und weil ich mir ja nicht anmerken lassen durfte, daß ich es wußte – ging ich kühn immer näher auf es zu, weil mich ja auch interessierte, ob man es ganz aus der Nähe nicht doch als Mann erkennen würde. Das gefiel dem Polizisten, der sich gern als hübsches Mädel verkleidete und die Verbrecher an der Nase herumführte, indem er tat, als wäre er ganz verliebt in sie – er hatte sich sogar richtig wie eine junge Dame parfümiert – und als ich jetzt ganz nahe vor ihm stand und das Parfüm und den merkwürdig streng-aufregenden Duft seiner Gummischürze riechen konnte, nahm er mich, ehe ich fliehen konnte, in die glatten weißen Arme und drückte mich lachend an die falsche stramme Gummibrust –

  • streichelte mit zärtlichen schlanken Fingern meinen nackten Rücken –
  • und streifte mit warmen feuchten weichen Lippen über die meinen –

Ich öffnete blinzelnd die Augen – und sah dicht vor mir sein rundes Mädelgesicht mit den dunklen großen Kulleraugen unter den falschen schwarzen Locken.
Er lag halb seitwärts auf mir, eng an mich, geschmiegt, und der glatte Gummi seiner Schürze glitt über meinen bloßen Leib wie seidige Frauenhaut, als er sich wohlig zurechträkelte, ein Bein um meinen Oberschenkel schlingend und das Füßchen – im sanften Film seidenen Strumpfes – von hinten zwischen meine Waden schiebend. Ich öffnete, noch immer halb schlaftrunken, den Mund, um etwas zu sagen – aber da verschloß er ihn mir schon mit roten durstigen Lippen, die weiche, frisch pfefferminzschmeckende Zunge gegen meine drängend…
Das war recht wunderlich – aus einem solchen Traum nicht wie sonst enttäuscht, beschämt und allein zu erwachen, erregt und doch aussichtslos: sondern ganz genau wirklich gerade das im Arm zu haben, was eben noch nur Traumphantasie gewesen war! Da brauchte ich eigentlich noch gar nicht wirklich wachzuwerden – sondern konnte mich ganz diesem neuen, überraschenden Spiel mit der fremden, appetitlich-zärtlich zutschenden Zunge da in meinem Mund hingeben, die um meine kreiste, kokett lockend floh, mich in den anderen Mund hinüberköderte, mit einem zarten Biß begrüßte und dann brünstig einsaugte…

Jetzt versteh ich erst, was die im Film die ganze Zeit beim Küssen machen! dachte es irgendwo in mir verblüfft;

”Also daß der kleine Anton das noch nicht wußte, hat mir ja eingeleuchtet: aber ein ausgewachsener junger Herr nach dem Abitur – ?” hab ich Hellmut an dieser Stelle verwundert gefragt – aber seine Antwort darauf war noch viel verwunderlicher: er habe zwar nach dem Abitur – bei der Geburtstagsfeier seiner Mutter – mit einer hübschen Dame (seiner späteren Frau) mindestens 3mal Bruderschaft getrunken, da er ihr danach immer ein Küßchen geben konnte; aber daß man beim Küssen auch den Mund aufmachen könne, habe er erst nach dem Beginn seines Studiums in Göttingen erfahren – und zwar aus Hermann Hesse’s “Narziss und Goldmund” in der Szene, wo die Zigeunerin den jungen Goldmund in die Geheimnisse der Liebe einführt…
(was soll man bloß von einem derart unschuldsvollen Theoretiker halten, der das Küssen bei einem Literatur-Nobelpreisträger lernen muß – ?! Aber wenigstens hat er – wie auch später auf vielen anderen Gebieten – die theoretischen Erkenntnisse gründlich und erfolgreich in der Praxis angewandt…!)
Doch noch ein bißchen weiter im Text:


aber dann gab es ja viel interessantere Sachen als Denken: voll – durch glatt übereinander rutschende Kunstseide – in stramm-runde Popobacken greifen; mit dem anderen Arm den willigen Körper dieses reizenden Beinah-und-doch-Nicht-Mädels an mich ziehen, daß sich die frechen falschen Brüstchen unter dem glatten Schürzengummi prall gegen meine Rippen preßten – und den Unterleib wohlig gegen die gleitende Glätte eines straff umschürzten Mädchenbauches aufbäumen, das schwellende Glied suchend zwischen schlanke Schenkel schieben – während meine Zunge noch immer in den fremden gierigen Mund drang …

„Schick ?“ fragten die lachenden roten Lippen, noch ein wenig keuchend, als er endlich den Mund von meinem löste – und dann, ohne Antwort abzuwarten, fast entzückt: „Aber Du bist ja schon ganz steif – warte – „

Also – da wir hier ja nun keinen Hardcore-Porno verbreiten wollen, überlasse ich es Deiner (dieser Aufgabe gewiß gewachsenen) Phantasie, auszumalen, auf welche Weise die erfinderische “Susi” nun ihrem Retter den wohlverdienten Dank abstattet:
und wende mich nicht dessen, sondern vielmehr dem ungeschriebenen “Schwanz” der Geschichte zu (soweit er in Hellmuts Hirn noch existiert – was er durchaus tut, weil dies eine der Handlungen ist, mit denen er noch immer mal ein Schmidt’sches “LG” abzuhalten pflegt:

Kurz gefaßt – nachdem die beiden in der einsamen Villa eine idyllische Flitterwoche verlebt haben, kommt unentrinnbar die Stunde der Trennung:
und da wächst nun (man weiß kaum, wer von den beiden am edelsten ist! ;-)) auch die süße Susi über sich hinaus und sagt ihm liebevoll vernünftig:

um sie brauche er sich keine Sorgen zu machen – bei ihm habe sie ihren fast schon verlorenen Stolz wiedergefunden, weil sie ihn glücklich machen konnte und durfte – aber er müsse jetzt auch noch das erleben, was sie ihm nicht habe geben können: und dazu brauche er (nicht etwa irgendeine Gans von Mädchen, sondern) eine erfahrene reife Frau – und die zu suchen und zu erobern: das müsse er ihr jetzt versprechen!

Bittersüße Abschiedsnacht – Susi will ein neues Leben beginnen (loses Ende: Hellmut weiß noch immer nicht, wovon?) – und der Erzähler muß erst den zurück-kehrenden Verwandten die Villa übergeben (loses Ende: wer vergütet das arme Beinbruch-Dienstmädel für die stibitzten Sachen? Vielleicht hat das Pärchen zwischendurch mal Lotto getippt und den nötigen Zaster gewonnen? Lach nich, bei Arno finden se im “Steinernen Herz” ooch, wenn er’s braucht, ‘nen Schatz in der Zwischendecke 😉 !)

Jedenfalls steigt der Erzähler – wieder allein – erster Klasse in den Zug (ins Ausland?) – und, in der Tat, in einem Abteil sitzt allein die fällige reife Dame!

(Die ist nun – wilde Arabeske der Phantasie – wiederum, was der Erzähler natürlich noch nicht wissen kann, eine hochinteressante Persönlichkeit: Einst war sie mal bloß ein hübsches oberflächliches Mädel – (Schatten von Scarlett o’Hara am Start von “Gone with the Wind”?) – als sich plötzlich, ohne daß sie es sich erklären kann, alle von ihr zurückziehen (ihr Vater hat sich politisch mißliebig gemacht) – und keine einzige ihrer “Freundinnen” steht mehr zu ihr. Doch – das erkennt sie, durch Erfahrung zynisch geworden – genau so wenig bedeutet sie dem “edlen” Revolutionär, der sie nur zur Frau nimmt, um vom Prestige ihres Märtyrer-Vaters zu profitieren; und wenn sie neben ihm zum “Engel der Vorstädte” wird (deren dreckige Bewohner sie anekeln), so nur, um ihn auf den Weg zur Macht zu bringen – die er zwar erringen, aber dabei sein Leben verlieren wird (als erstes Opfer ihrer Rache am Schicksal): und so vergilt sie, von allen verehrt, insgeheim alles, was man ihr angetan hat – indem sie jedem Gelegenheit gibt, genau das zu tun, was sein schäbiger Charakter ihm nahelegt: und was ihm dann den Hals brechen wird. So überlebt sie alle, gilt fast als Nationalheilige, kann sich beinahe jeden Wunsch erfüllen – nur tödlich einsam ist sie darüber geworden…)

So – und zu der steigt nun unser herrlicher edler Jüngling ins Abteil: wie ein Traum aus langstvergangenen Mädchentagen – und bittet sie, fast verlegen, nur um eines: sie ansehen zu dürfen. (Denn zeitlos schön ist sie imer noch!) Und als sie – seltsam angerührt – versucht, ihm das auszureden: nebenan säßen doch drei reizende junge Mädchen, bei denen er viel größere Chancen habe – sagt er ihr, von einem reizenden Mädchen komme er ja, das er nie mehr wiedersehen könne – aber s i e könne er, wenigstens für die Dauer dieser Fahrt, ansehen…

(…und das ist ironischerweise eine ebenso kaltblütige Verführungsstrategie, die er nur dem Wunsch der edlen Susi zuliebe verfolgt – mit einem Mut, den er zuvor nie gehabt hätte…)

… aber wie das in Romanen nun mal so geht, folgt er der schöne Dame sogar noch, als eine verbitterte Tochter, deren Vater sie einst ins Unglück rennen ließ, sie aus dem Hinterhalt zu erschießen versucht – nur gerade so, daß unser Held das noch verhindern kann (wobei er heroischerweise auch noch ein bißchen verwundet wird).

Und damit ist alles wunderbar gemixt und verheddert: Zum ersten Male in ihrem Leben hat sie erlebt, daß jemand sich völlig selbstlos für sie einsetzt – und gerade diesmal hätte sie das überhaupt nicht verdient! Und wenn unser Held jetzt John Wayne oder so wer wäre, könnte sie ihm immer noch als schwaches Weib an die Brust sinken – aber bei diesem schönen Jüngling, der fast ihr Sohn sein könnte, wenn sie einen hätte? Und den wiederum hemmt jetzt gerade das Problem, daß er aus seiner Rettungstat doch nicht das Recht ableiten könne, diese Frau zu erobern – obwohl er genau so etwas seiner Susi versprochen hatte – und es inzwischen auch brennend gern tun würde…!

Da fällt Hellmut als deus ex machina nur noch eine alte eingeborene Dienerin ein – die einzige, für die die Nationalheilige noch immer “ihr kleines Mädchen” ist, dem sie stets jeden Wunsch erfüllt hat – und die den beiden, als der Retter nochmal ins Haus der Geretteten kommt, einen Voodoo-Liebestrank in die Limonade mischt: woraus sie prompt zusammen ins Bett fallen…

Da liegen sie nun … und irgendwie ist der Dame aufgefallen, daß ihr Liebhaber zwar in einiger Hinsicht erstaunlich versiert ist: in mancher anderen aber verwirrend ahnungslos …

Hach – und wie’s dann weitergeht, damit spielt Hellmut immer mal wieder vor dem Einschlafen herum: zum Beispiel sogar mit einer Szene, wo sich Nationalheilige und Susi treffen – und miteinander über ihren wundersamen Liebhaber beratschlagen – oder sowas – oder sonstwas …

Aber ich glaube, das reicht für diesmal?
Deine (literarische) Z i z i !”

Azazel 3000

“Ihre Sünden aber luden sie einem Bocke auf
und schickten ihn in die Wüste zu Azazel, auf
daß e r sie trage …”
(Aus den Kommentaren des Midrasch Abchir zum Alten Testament)

Warum der Rat der Priester gerade diesen öden Planeten zum Ort des Treffens bestimmt hatte, wußte ich nicht; der Bote, der mir die Nachricht gebracht hatte, trug die goldene Maske des Schweigens, und ich konnte seine Gedanken nicht lesen. Vielleicht hatten sie einen Weltkörper wählen wollen, der weder im Machtbereich der Ryl, noch in dem der Erdwesen lag – als neutralen Ort für diese so schwerwiegenden Verhandlungen.

Mir aber erschien dieser Planet — Azazel hatten ihn die Erdwesen getauft, nach einem Dämon eines ihrer heiligen Bücher, der in der Wüste lebte – heute wie ein böses Omen. Endlos, einförmig und unfruchtbar wie seine Wüsten waren die Debatten, die ich hier führen mußte – und lagen nicht all unsere einstigen Pläne genauso hoffnungslos und erstorben, wie seine uralten Ruinen?

Mit welch tiefer Freude hatten wir doch die ersten Erdwesen begrüßt – nach Jahrtausenden, in denen wir schon fast jede Hoffnung aufgegeben hatten, es könnte außer uns noch andere denkende Wesen zwischen den Sternen geben! Und hatten wir nicht die gleiche Freude in den Gedanken jener Erdwesen mit ihren seltsam steifen Stockgliedern, ihrem schwankenden Gang (welche Mühe sie haben mußten, sich überhaupt aufrecht zu halten!) und ihren auf der einen Kopfhälfte zusammengedrängten Sinnesorganen; die Ryl mit ihrem glatten, gedrungenen Kegelleib, ihren biegsamen fünf Armen und ihrem Kopfstern: Beide hatten wir den Raum zwischen den Sternen überwunden – beide in der Hoffnung, eines Tages Brüder jenseits dieser Sterne zu finden!

Aber wir hatten ja nicht geahnt, daß wir zugleich mit diesen Brüdern auch jene gräßlichen, seelenlosen Maschinen finden würden, von denen mir jetzt wieder eine gegenübersaß…

„… ist uns Ihre Einstellung zu uns bei aller Verständnisbereitschaft nach wie vor unerklärlich!“ dröhnte der Lautsprecher der R 4141 aus seinem stumpfschimmernden Metallschädel. „Bei allen Menschen herrscht Einigkeit darüber, daß ein Roboter der gegebene Verhandlungspartner in einer so diffizilen Situation ist: Er darf – das ist das erste Grundgesetz der Robotik – weder einen Menschen angreifen, noch irgend etwas zulassen, was ihm schädlich sein könnte; also wird er die Interessen der Menschheit in jeder Beziehung zu wahren wissen. Er muß – das ist das zweite Grundgesetz – jeden von Menschen gegebenen Befehl ausführen, der nicht dem ersten Grundgesetz widerspricht; also wird er den Standpunkt der Menschheit ohne jede Verfälschung darlegen. Und erst zum dritten ist er gehalten, seine eigene Existenz zu schützen; ohne auch nur im entferntesten andeuten zu wollen, daß die Ryl irgendwelche feindseligen Absichten haben könnten, ist das schließlich eine unabdingbare Voraussetzung für jeden Botschafter in einem fremden Gebiet.

Berücksichtigen Sie ferner noch das unbedingt logische, nicht durch irgendwelche Gefühlsregungen getrübte Denken des positronischen Gehirns, so können Sie sich doch keinen geeigneteren Verhandlungspartner wünschen!“

Ich sog die trockene Luft des Wüstenplaneten in meine Atemröhre; noch immer machte es mir Schwierigkeiten, auf diese Art die merkwürdigen Luftschwingungen zu erzeugen, durch die sich die Erdwesen verständigten.

„Gerade diese drei Grundgesetze machen aber einen Roboter für uns Ryl als Verhandlungspartner untragbar!“ wiederholte ich zum hundertsten Male. „Es ist eindeutig, daß die positronischen Gehirne ausschließlich darauf ausgerichtet sind, die Interessen der Menschen und nur der Menschen zu wahren: Ein Roboter darf keinen Menschen zu Schaden kommen lassen – wohl aber einen Ryl; ein Roboter muß jeden Befehl eines Menschen befolgen -aber nicht den Befehl eines Ryl. Damit bleibt für uns nur noch eine Maschine übrig, die mechanisch ihre eigene Existenz schützt und uns genauso wichtig nimmt, wie eine Fliege oder ein unbelebtes Stück Holz!

Wir müssen darauf bestehen, mit dem Weltkoordinator persönlich zu verhandeln!“

R 4141 gab seiner blechernen Stimme einen verletzten Beiklang. „Wir haben ausdrückliche Befehle, jeden Ryl genau wie einen Menschen zu behandeln und zu achten!“

„Das ist eine Behauptung, deren Wahrheit wir nicht prüfen können – ein Ryl kann wohl die Gedanken eines Menschen lesen, nicht aber die eines Roboters!“

„Und – ohne damit die geringste Unterstellung ausdrücken zu wollen – deshalb wäre eben ein Mensch ein Verhandlungspartner, gegenüber dem ein Ryl beachtlich im Vorteil wäre!“ R 4141 machte eine kurze Pause, dann dröhnte er mit erhöhter Lautstärke: „Wenn die Ryl immer Menschen als Verhandlungspartner fordern, dann könnte das wirklich zu der Vermutung führen, daß nicht eine allgemeine Kritik an den Grundgesetzen der Robotik, sondern der Wunsch nach diesem Vorteil der eigentliche Grund für sie ist, den Beginn der Verhandlungen immer wieder zu verzögern!“

„Und wenn die Roboter unseren Wunsch, mit dem Weltkoordinator selbst zu verhandeln, immer wieder ablehnen – “ gab ich zurück, „dann könnte das wirklich zu der Vermutung führen, daß der Weltkoordinator irgendwelche Gedanken hegt, die wir Ryl nicht erfahren sollen!“

Meine Atemröhre schmerzte von der trockenen Luft und der ungewohnten Anstrengung – diesem sinnlosen Sprechen, das jetzt schon viele Tage dauerte. Die Worte wechselten ein wenig, und es wechselten auch die Wege, auf denen wir jedesmal auf den Ausgangspunkt zurückkehrten – aber vorwärts kamen wir nie. Ich konnte nicht mit einer Maschine verhandeln, die technisch durchaus fähig war, in diesem Augenblick die Vernichtung aller Ryl zu planen, ohne daß ich es auch nur ahnte – und diese Maschine konnte aus irgendeinem Grunde nicht zulassen, daß ich die Gedanken des Weltkoordinators las. Es war wie im Endstadium jenes Schachspiels der Erdwesen, wenn sich immer die gleichen Züge wiederholen, ohne daß ein Spieler einen Vorteil davon hat: Fruchtlos und eintönig.

Nur einen Vorteil hatte ich: Während die Maschine immer wieder mechanisch die gleichen Argumente vorbringen mußte, konnte ich einmal damit aufhören. Und das tat ich jetzt.

R 4141 erhob sich schwerfällig. „Haben Sie noch irgendwelche Wünsche?“ fragte er höflich.

Ich wehrte ab. Ich wollte nachdenken – nachdenken, ob es nicht doch einen Ausweg aus der Sackgasse gab, in die unsere Verhandlungen geraten waren, noch ehe sie richtig begannen.

R 4141 schob sich schwerfällig von dannen. Die anderen Ryl der Delegation glitten auch davon – ich spürte die Wellen der Erleichterung darüber, daß die ermüdende Konferenz für heute beendet war. Sie konnten sich jetzt erholen – ich fing den Gedanken auf, daß sie sich zusammen mit ein paar Erdwesen aufmachen wollten, um eine Fahrt zu den uralten Ruinen draußen in der Wüste zu machen. Es war so schade: Sie verstanden sich so gut miteinander, die Erdwesen und meine Ryl – trotz aller Verschiedenheiten; und wären nur nicht diese gräßlichen unerforschlichen Maschinen mit ihren stumpfen Metallgesichtern und ihren undurchdringlichen Metallgehirnen gewesen – hätte ich nur einmal dem Weltkoordinator genauso gegenüberstehen können, wie ihnen – vielleicht wären dann all unsere Sorgen schon längst vorüber…

Warum entzog sich dieser Mensch nur jedem direkten Kontakt? War es wirklich nur die Sorge, die Ryl könnten irgendeinen Vorteil aus ihren telepathischen Fähigkeiten ziehen? Oder hatte er nicht doch etwas zu verbergen – ein Geheimnis, einen Verrat? Das seltsame war ja, daß er hier auf diesem Planeten weilte – daß er die zermürbende Fruchtlosigkeit der Verhandlungen mit seinen Robotern aus nächster Nähe erlebte, ohne einzugreifen!

Dort drüben – in dem schlanken Raumschiff der Erdwesen – hielt er sich verborgen; und drei massige Roboter hielten am Fuß des Schiffes Wache, damit niemand zu ihm gelangte. Es waren immer die gleichen Roboter – anscheinend eine spezielle Leibwache.

Aber waren es diesmal wirklich die gleichen? Der eine sah doch fast aus wie R4141! Ich glitt näher. Tatsächlich – das war R 4141 und jetzt fiel mir auch wieder ein, was ich im Vorbeigleiten in den Gedanken eines Erdtechnikers entdeckt hatte: daß heute nachmittag irgendeine der üblichen Überholungsprüfungen angesetzt war – eine Überholungsprüfung für Roboter.

Anscheinend hatte man den einen von ihnen zu dieser Prüfung beordert – und R 4141 hatte einspringen müssen. Aber war R 4141 ein Wachroboter? Eben hatte er mir doch versichert, seine Befehle zwängen ihn, einem Ryl genauso zu gehorchen, wie einem Menschen!

Unklar formte sich ein Plan in meinem Gehirn.

Die drei schweren Maschinenwesen marschierten regelmäßig im Kreis um das Raumschiff – um hundertzwanzig Grad gegeneinander versetzt. Wenn R 4141 genau an der Einstiegleiter des Schiffes war, dann befanden sich seine Kollegen ebenso exakt an Stellen hinter dem zylindrischen Körper – an Stellen, von denen aus ihre Photozellenaugen die Leiter nicht sehen konnten. Freilich war diese Leiter für Menschen bestimmt – Menschen mit langen, beweglichen Beinen – und nicht für die weiche Gleitfläche eines Ryl. Aber hatte ich nicht fünf kräftige Arme?
Allerdings – wenn ich die Höhe der Leiter abschätzte: Ich konnte unmöglich bis zur Einstiegluke gelangen, ehe einer der anderen Roboter in Sicht kam. Aber würde er dann die obere Hälfte der Leiter kontrollieren – oder das Gelände rings um das Raumschiff? Ich konnte es nicht wissen, ob R 4141 wirklich meinen Befehlen gehorchen würde. Aber schon allein das zu entdecken, war die Mühe wert…

Wieder glitt ich ein Stück näher. Der eine Roboter verschwand hinter der Biegung der zylindrischen Düsen – und von der anderen Seite kam R 4141. Jetzt! Das letzte Stück – und dann…„Heb mich hoch – so hoch es geht – das ist ein Befehl!“
Fast pfeifend kamen die Laute aus meiner Atemröhre – aber R 4141 verstand sie – und gehorchte! Ich fühlte, wie er meinen Rumpf packte und hob – immer höher – jetzt konnte ich drei Arme um die Streben der Leiter schlingen…

„Geh weiter!“

Schwerfällig schob sich R 4141 davon. Meine Arme schmerzten von dem ungewohnten Gewicht meines Körpers – die scharfen Sprossen schnitten in die weichen Fibern – aber ich zog mich höher. Nach den ersten Zügen fand ich mich schon besser zurecht: Ich hielt mich mit zwei Armen an den Sprossen fest, während ich mit den anderen beiden nach den nächsthöheren angelte, und ließ den fünften lose hängen – er hinderte mich nur. Aber jetzt kam der andere Wachroboter in Sicht…

Mit gleichmäßigen Schritten bog er um die Rundung – sein metallener Schädel drehte sich nach allen Seiten – aber nicht nach oben! Er marschierte gradewegs unter mir vorbei, ohne mich zu bemerken! Jeder im Lager hätte mich sehen können – aber es schien ja kaum jemand da zu sein: Fast alle hatten sich dem Ausflug zu den Ruinen angeschlossen!

Wieder zog ich mich höher — da hielt ich plötzlich inne: Fremde Gedankenströme trafen mein Gehirn. Natürlich – daran hätte ich denken müssen: die Einstiegluke hatte innen noch einen menschlichen Wächter! Aber dann spürte ich, daß ich ungewöhnliches Glück hatte: denn der Gedankenstrom, den ich auffing, lautete etwa:

„So was Dummes – ???? vergessen – jetzt den ganzen Nachmittag ohne ???? – ach was, kann ich noch rasch holen – sowieso Unsinn, das Wachestehen hier: die Roboter passen ja auf! „

Ich konnte nicht herausbekommen, was das Erdwesen vergessen hatte – irgendeine Art klebriger Materie, die man in den Mund steckte, aber nicht aß – doch ich konnte spüren, wie es sich entfernte – und wie es sich vergewisserte, daß es niemand auf seinem Weg sah – und so sah auch mich niemand, als ich durch die Einstiegsluke glitt.

Obwohl ich noch nie in dem Erdenschiff gewesen war, kannte ich sein Inneres gut genug – aus den Gedanken der Erdwesen, die in ihm zu tun hatten: der Robot- und Nachrichtentechniker. Ich kannte den Weg zu den Räumen des Weltkoordinators, und ich wußte sogar, wie er aussah – freilich nur so, wie er sich den Augen der Erdwesen dargeboten hatte, aus deren Erinnerungen ich schöpfte: Für die fünf Kugelaugen eines Ryl sah das alles erheblich anders aus. Doch als Mitglied der Kontaktdelegation war ich darin geschult, die Bilder zu übersetzen…

So stand ich endlich – ermattet, aber ohne jeden störenden Zwischenfall – vor der Tür zu den Räumen des Weltkoordinators.

Jetzt, da ich das langersehnte Ziel erreicht hatte, überfielen mich schwere Zweifel. Was ich getan hatte war zweifellos ein Bruch all unserer Vereinbarungen; ich wußte zwar, daß ich nur ein friedliches Gespräch suchte – aber die Erdwesen konnten meine Gedanken ja nicht lesen. Man konnte genauso gut glauben, ich hätte die Absicht, zu spionieren oder gar den Koordinator tätlich anzugreifen! Und was das – in der ohnehin gespannten Lage bedeuten konnte…

Geräusche jenseits der Tür ließen erkennen, daß der Koordinator in seinem Raum war – aber warum spürte ich seine Gedanken-Ströme nicht? Ich spannte meine Aufmerksamkeit voll an, als sich die Tür öffnete…

„Nun – das ist ein unerwarteter Gast!“ Die Stimme klang voll und angenehm – aber ich verstand die Worte fast nicht vor fassungsloser Verblüffung: jetzt hätte ich doch Gedanken aufnehmen müssen – Überraschung, Sinneseindrücke, vielleicht sogar Beunruhigung; aber ich empfing nichts – nichts!

Die Augen des hochgewachsenen Koordinators musterten mich von oben bis unten. „Gondor Ryan, vermute ich? Sie sind der Sprecher Ihrer Delegation, nicht wahr?“

Ich versuchte zu antworten, aber es gelang mir nicht, Laute zu formen. In meinem Hirn jagten sich die Gedanken: Gab es unter den Erdwesen auch Nichttelepathen? Das schien fast unmöglich -die Fähigkeit der Telepathie beruht auf Eigenschaften des Denkprozesses, die untrennbar mit jedem überhaupt lebenden Gehirn verbunden sind. Oder – hatten die Erdwesen einen telepathischen Schirm entdeckt – ähnlich der goldenen Maske des Schweigens, die unsere Hohen Priester, die Richter und die Prüfer der hohen Schulen benutzen durften? Aber warum dann die stete Weigerung der Erdwesen, mit uns direkt zu verhandeln – unter Hinweis auf die Vorteile, die uns die Telepathie bringen würde?

„Ich würde gern sagen, daß ich mich über Ihren Besuch freue – “ fuhr der Koordinator fort, „aber ich kann es nicht. Ich weiß nicht, wie Sie hierher gelangt sind – aber bald werden Sie verstehen, warum ich gerade das jetzt schon Wochen hindurch zu verhindern suchte; und ich kann nur hoffen, daß…“

Plötzlich nahm ich Gedanken wahr – aber es waren nicht die des Koordinators, sondern die eines anderen Wesens, das den Raum betreten hatte. Jetzt sah es mich – und eine Flut wirrer, erschrockener Gedanken wirbelte durch sein Hirn…
Und jetzt verstand ich. Jetzt verstand ich alles – das Vorschicken der Roboter – die ewige Verzögerung der Verhandlungen – die Unerreichbarkeit des Koordinators – und die Ausweglosigkeit unserer ganzen Situation. Und ich verstand auch, daß es für diese beiden – den Koordinator und das Erdwesen Marc, das die anderen für seinen Sohn hielten – nur eine Konsequenz geben konnte: Daß Gondor Ryan, der Sprecher der Ryl, dieses Schiff nicht mehr lebend verlassen durfte.

Eigentlich hätte ich es schon vor Minuten erkennen müssen – die Erklärung, weshalb ich keine Gedanken des Koordinators auffing, war mir doch so vertraut: Ein Ryl kann zwar in einem menschlichen Gehirn lesen, aber nicht in einem – positronischen…

Ja – der Koordinator war, trotz seines menschlich erscheinenden Körpers, trotz seiner tiefen, angenehmen Stimme, trotz seines Ranges und seiner Würde, kein Mensch – sondern ein Roboter. Das war das Geheimnis, das, wie ich aus den Gedanken des Erdwesens Marc las, selbst die wenigsten Menschen kannten.
Eigentlich war es – vom Standpunkt der Erdenwesen aus gesehen – nur konsequent. R 4141 war nicht müde geworden, mir die Vorzüge einer robotischen Politik zu preisen: Leidenschaftslos und logisch – schneller und sicherer reagierend als jedes lebende Gehirn – und unausweichlich an die Gesetze gebunden, die jeden einzelnen Menschen unverletzlich machten: So war das positronische Gehirn die ideale „Regierungsmaschine“. Und ein solches Gehirn in einem nach außen hin menschlichen Körper zu verbergen, war sicherlich ein geschickter Schachzug gegenüber Menschen, die sich einer Maschine nicht so freiwillig unterworfen hätten…

Aber gerade diese kristallklare Konsequenz und Logik ließ mich verzweifelt erkennen, wie aussichtslos die Lage für uns Ryl war: Wenn selbst der Weltkoordinator, die oberste Macht im Reiche der Erdwesen – ein Roboter war, ein Roboter, dem nur Menschen unverletzlich waren, aber keine anderen Wesen, dann wurde unsere alte Sorge zur unausweichlichen, niederschmetternden Gewißheit.

Ich spürte in den Gedanken des Erdwesens Marc den Wunsch nach Vernichtung. Gedämpft durch Mitgefühl und die Überzeugung, daß ich ein unschuldiges Opfer sein würde, gewiß – aber angefacht durch die Überlegung: Jetzt ist es erst ein Ryl, der das Geheimnis kennt – aber wenn er es weitergibt, dann schwindet jede Aussicht, sich mit den Ryl noch zu verständigen! Besser ein Opfer – als einen Kampf der beiden Rassen, der Hunderttausende von Opfern fordern kann! Und – diese Überlegung war richtig…

„Nichts Vorschnelles, Marc!“ Mit hartem Griff packte die Hand des Koordinators – Stahl und Leichtmetall unter weicher Plastik-Muskulatur – den Arm des Erdwesens, der schon eine Strahlpistole gehoben hatte. „Zu einer solchen Konsequenz ist es immer noch früh genug!“

Und diese Worte gaben mir neue Kraft. Ich war nicht so hilflos, wie die beiden glaubten! Es ist richtig, daß unsere telepathischen Fähigkeiten normalerweise daran gebunden sind, daß wir dem Partner gegenüberstehen – aber in Todesgefahr, in äußerster Anspannung kann der geübte Ryl seine Brüder auch über weite Entfernungen erreichen.

Ich hörte nicht mehr, was die beiden sprachen – ich konzentrierte meine ganze Energie darauf, den Kontakt mit meinen Freunden aufzunehmen, die zu den alten Ruinen gefahren waren – ich spannte unwillkürlich die Fibern meiner Arme an, als könne ich sie herbeiziehen – spürte, wie alle Energie in mir nach innen floß – wie sich das Bild der Kabine vor meinen Augen verwischte – Dunkel – Leere –
Und dann auf einmal, wie ein schwerer, unerwarteter Schlag, fluteten die Empfindungen über mich herein: Schmerz!!! Zerreißendes Gewebe – zuckende Arme – sickernder Körpersaft -und Angst, höchste Todesangst: nicht jene fast nüchterne, kühle Überlegung, die mich eben davon überzeugt hatte, daß meine Chancen, das Raumschiff lebend zu verlassen, gering seien – sondern irre, kreisende, tierische Angst vor der Vernichtung – vor reißenden, schneidenden Klauen, die den Leib zerfetzen!

„Was fehlt Ihnen, Gondor Ryan?“ drang wie von fern die Stimme des Koordinators zu mir. „Beruhigen Sie sich – Ihnen droht keine Gefahr! Wir werden einen Weg finden, die Situation zu klären – einen anderen Weg, als ihn der temperamentvolle Marc gehen wollte!“

Ich tauchte wie aus einem tiefen Schacht wieder auf – langsam gewannen die Umrisse der Kabine um mich her wieder Gestalt; und ich zwang mich, endlich wieder verständliche Laute zu formen:

„Nicht – ich – die anderen, die Ryl bei den Ruinen – ein Unglück – sie sind tot – oder sterben „

„Sie – Sie sind gekommen, um Hilfe zu holen?“

„Nein – ich – habe gespürt – Fernkontakt – ein Ungeheuer mit tausend Klauen – zerreißt sie – “ Mir kam zum Bewußtsein, daß all das diesem Roboter ja gleichgültig sein mußte; für ihn waren wir Ryl ja nichts anderes als irgendwelche seltsamen Tiere.

„Auch die Menschen – dort – in Gefahr!“ fügte ich hinzu. Gespürt hatte ich davon nichts – aber es war schließlich mehr als wahrscheinlich; ich konnte mir nicht vorstellen, daß die Menschen ein solches Untier herbeigeschafft und auf meine Brüder gehetzt haben sollten – sie waren wohl alle zusammen Opfer dieses unfaßbaren Angriffs.

„Marc – ein Boot!“ hörte ich den Koordinator noch sagen -dann sank ich in tiefes Dunkel zurück.

Der Ort des Unglücks lag ein gutes Stück weit entfernt – irgendwo in der Wüste, im Schatten jener uralten Ruinen, deren Zweck wir heute kaum mehr ahnen konnten.

Und es schien so, als seien diese Ruinen selbst die Ursache der Katastrophe gewesen: Denn es war der Turm, der die Ruinenstätte weithin kenntlich gemacht hatte, unter dessen Trümmern jetzt die leblosen Körper der Ryl und der Menschen begraben lagen, die diese unglückselige Fahrt unternommen hatten. Er mußte – warum, konnten wir uns nicht erklären – eingestürzt sein, gerade als sich die Gruppe an seinem Fuß aufhielt.

Aber so schrecklich der Anblick der zerschmetterten Leiber war – ich hätte gewünscht, wir hätten weiter nichts gefunden. Aber hier – zwischen Trümmern und Leichen – stießen wir auf das Schrecklichste: Einen Anblick, der – wie ich aus den Gedanken des Erdwesens Marc spürte – gleich grausig für Menschen wie für Ryl war.

Das Ungeheuer war fast so lang wie drei Erdwesen. Sein stumpfbrauner Leib bog und wand sich unter zahllosen Schuppenringen – und seine vielfach gegliederten Beine zuckten in einer unfaßbaren Vielfalt von Bewegungen: Hier gruben sich seine scharfen Klauen in den noch zuckenden Körper eines sterbenden Ryl – dort hoben sie den zerschmetterten Schädel eines Menschen und ließen ihn wieder fallen – da zerrten sie einen nur Verletzten unter den Trümmern hervor – es war ein Anblick, bei dem mich eine unwiderstehliche Übelkeit schüttelte.

Dem Erdwesen Ralph ging es nicht viel besser – und ich mußte zu meinem eigenen Grauen noch das seine mitspüren. Doch das unausweichliche Gesetz trieb den Weltkoordinator – den Roboter – vorwärts: Er mußte versuchen, die Menschen, die dort unter den Klauen des Untieres zuckten, zu schützen. Er sprang aus dem Boot und lief auf die Unglücksstätte zu – doch ein wuchtiger Schlag mit dem Schwanz des Untieres (oder war es das Kopfende? Beide sahen gleich aus!) schleuderte ihn meterweit zurück.

Marc hob schnell seine Strahlpistole. Der bläuliche Schein schoß in einem vernichtenden Kegel auf das Untier zu – zischend zergingen Steine und Sand um den braunen Leib: aber das Wesen blieb unverletzt. Fassungslos ließ der Erdmensch den Strahl immer wieder auf das Ungeheuer los – aber es schien gegen die Energie gefeit!

Ich spürte, wie ihn das Entsetzen zu übermannen drohte – doch da geschah etwas Unerwartetes. Irgendwo im Unterbewußtsein hatte ich schon von Anfang an gespürt, daß noch andere Wesen in der Nähe sein mußten – jetzt tauchte plötzlich hinter der zerfallenen Wand einer Ruine das Boot auf, mit dem die Gesellschaft gestartet war. Erleichtert spürte ich die Gedankenströme meiner Brüder – und der Menschen, die sie begleiteten.

Wir hatten das Ausmaß des Unheils überschätzt: Es konnte nur eine kleine Gruppe gewesen sein, die hier unter den Trümmern des Turms begraben lag – die meisten befanden sich dort im Boot und eilten zur Hilfe herbei. Aber konnten sie Hilfe bringen – gegen diesen unverletzlichen Gegner?

Doch unsere Überraschungen waren noch nicht zu Ende. Kaum war das Ungeheuer der Kommenden ansichtig geworden, als es von seinen Opfern abließ. Nur den Verletzten schoben seine Klauen noch ein Stück weiter – dann wandte sich der riesige Leib zur Flucht. Oder wollte es die Ankömmlinge angreifen?
Von unserem entfernten Standpunkt aus sah es fast aus wie ein seltsamer Beschwörungstanz: Die Menschen und Ryl des Bootes formten eine Reihe, gegen die sich das Untier wandte – und wieder zurückwich. Bläuliche Strahlen umflirrten es – aber die Strahlpistolen verletzten es nicht; doch Schritt für Schritt drängte es die Kette der Angreifer gegen die Mauer zurück. Ein wuchtiger Schlag mit einem Spaten zerspaltete fast das eine Ende des Leibes – und das Ungeheuer wehrte sich nicht – es wich aus – und es schien geradezu Angst zu haben?

„Schnell! Die Gitter!“ Der Koordinator hatte sich aus dem Sand wieder aufgerappelt – und während wir noch versuchten, zu verstehen, was eigentlich vorging, hatte sein blitzschnell arbeitendes positronisches Gehirn schon einen Angriffsplan gefaßt: Die Explorationsboote – oft auf fremden Planeten mit gefährlichen Bewohnern eingesetzt – hatten als Standardausrüstung auch einen Vorrat biegsamer Tronium-Gitter: Leicht wie Aluminium, aber hart wie das Metall einer Raumschiffhülle. Während die anderen das Untier mit Schlägen und Hieben in Schach hielten, rollten einige der Menschen die Gitter aus – und in Minuten war das fremde Wesen von einem dreifachen Wall umgeben, der an der Ruinenwand verankert war. Mit geschwächter Energie arbeitende Strahlpistolen schmolzen den Sand unter den Klauenbeinen des Untiers zu einer einzigen glitzernden Quarzplatte zusammen und nahmen ihm den letzten Ausweg.

„Zumindest eine neuartige Kombination: Hat keine Angst vor Strahlpistolen – wohl aber vor Knüppelschlägen!“ sagte nun Marc schweratmend.

„Und greift offenbar nur wehrlose Gegner an – eine Art Aasfresser!“ ergänzte der Weltkoordinator. „Ein wenig sympathisches Tierchen!“

„Sofern“, fügte er nachdenklich hinzu, „das nicht nur eine Art Kriegslist ist!“ Er beobachtete das Unwesen scharf. Es lag still – nur seine unzähligen Klauenbeine zuckten hin und wieder. Doch jetzt richtete es plötzlich das eine Ende seines Leibes auf – stützte sich, wie um Halt zu gewinnen, mit dem äußersten Beinpaar auf den Boden und begann mit den anderen, erhobenen Beinen seltsame Bewegungen über dem Boden zu machen.

„Was soll das bloß?“ fragte Marc mißtrauisch.

Wir Ryl hatten den Menschen wenig helfen können. Auch die Gedanken, die ich mit meinen Brüdern austauschte, brachten keine rechte Klärung: Sie hatten die verunglückte Gruppe – einen Ryl und zwei Menschen – wohl zwischen den Ruinen verschwinden sehen, waren dann in weiter Ferne durch den Einsturz des Turmes alarmiert worden und herbeigeeilt – aber was eigentlich geschehen war, wußten auch sie nicht. Und die Verunglückten waren nicht in der Lage, es uns zu schildern – zwei waren tot, der übriggebliebene Mensch schwer verletzt.

Aber die Aufklärung sollte uns von einer einigermaßen unerwarteten Seite kommen. Der Koordinator hatte das Wesen und sein seltsames Treiben nicht aus den Augen gelassen und sagte plötzlich:

„Marc! Gondor Ryan! Seht her – ich glaube, das Biest zeichnet etwas auf den Boden!“

Tatsächlich. Fasziniert starrten wir auf die vielgliedrigen Arme, die in die glattgebrannte Quarzfläche jenseits des Gitters jetzt Linien kratzten – mit Klauen, die schärfer sein mußten als Quarz! – und diese Linien zu Bildern formten. Fast zehn Arme arbeiteten zu gleicher Zeit an diesem Bild – und endlich waren sie fertig: Mit der Präzision eines technischen Konstruktionsplanes zeigten sie uns ein Bild, das wir wiedererkannten – die Szene des Unglücks!

Das war der hohe Turm – das die langgestreckte Mauer – und davor, in ihren Umrissen deutlich erkennbar, waren zwei menschliche Gestalten und die Kegelform eines Ryl gezeichnet.

„Unfaßbar!“ murmelte Marc. „Mit zehn Armen zugleich ein solches Bild zu zeichnen – und auch noch so, daß es für das Biest auf dem Kopf steht – das ist doch unglaublich!“

„Sieh genauer hin!“ warf der Koordinator ein. „Der eine Mensch hält eine Strahlpistole – und diese Linien sollen bedeuten, daß er schießt: auf den Fuß des Turmes!“

Das Wesen machte mit seinen Armbeinen eine seltsame Geste -dann schob es sich weiter und begann auf einem noch unberührten Fleck eine neue Zeichnung.
„Es meint, der Schuß hat die Basis des Turmes getroffen, dort die Materie aufgelöst, und dadurch ist der Bau eingestürzt!“ sagte Marc atemlos.

Eine dritte Zeichnung entstand: Zwischen angedeuteten Trümmern lagen die Leiber der Menschen und des Ryl – und nun setzte das Wesen seinen eigenen gewundenen Leib dazwischen: Mit ein paar Beinpaaren die Körper anhebend und Trümmer beiseite schiebend.

„Ist das wirklich möglich? Es ist erst nachträglich dazugekommen – und hat nur versucht, den Verunglückten zu helfen?“ fragte Marc zweifelnd.
„Das ist seine Darstellung des Vorganges! Gondor Ryan hat etwas anderes dazu zu sagen, nicht wahr?“ sagte der Koordinator kühl. „Können Sie die Gedanken dieses Wesens lesen?“ fuhr er zu mir gewandt fort. „Diese Geschichte vom barmherzigen Samariter paßt kaum zu dem Eindruck von reißenden Klauen, den Sie empfangen haben, als das Unglück geschah!“

Ich hob bedauernd die Arme. „Ich empfange nichts. Ich kann nicht beurteilen, ob dieses Wesen überhaupt denkt – geschweige denn, was. Ich weiß nur, daß es seine Klauen in den Leib des toten Ryl geschlagen haben muß, als er noch lebte – ob, um ihm zu helfen, oder um ihn vollends zu töten, das kann ich nicht entscheiden!“
Der Koordinator nickte langsam. „Die ganze Sache ist sehr unklar. Wir wissen nicht, warum der Mensch geschossen hat – wir wissen nicht, woher dieses Wesen überhaupt kommt – wir wissen nicht, was es vorhatte. Nur eines wissen wir: daß es keineswegs irgendein harmloses Tier ist, sondern zumindest so intelligent wie wir – und unverletzlich für Strahlpistolen!“

Er wandte sich ab. „Gondor Ryan, ich halte es für gut, wenn wir“, er stockte, „wenn wir unser Problem zurückstellen, bis wir mit diesem Wesen da im reinen sind. Es könnte sein, daß es für uns alle gefährlicher ist, als sich Ryl und Menschen und Roboter je werden können!“

Ich neigte meinen Kopfstern – eine Geste, die auch bei uns Zustimmung bedeutet. „Ich werde meinen Brüdern das Geheimnis nicht mitteilen – jetzt, inmitten der vielen Menschen, wird es ihnen nicht auffallen, daß sie die Gedanken des Koordinators nicht empfangen können. Und ich glaube, wir dürfen sie jetzt nicht beunruhigen!“

„Vater“, unterbrach uns Marc, der hinzugetreten war, „der Verwundete! Er scheint zu sich zu kommen – kann aber nicht sprechen. Vielleicht können die Ryl…?“

„Ein guter Einfall!“ erwiderte ich. „Ich will versuchen, was ich aus seinen Gedanken erfahren kann!“

Ich glitt an die Seite des Verletzten. Einer der Menschen hatte seinen Kopf – der aus mehreren Wunden blutete – in den Schoß genommen und war dabei, ihn zu verbinden. Die anderen, die im Kreis um ihn herumstanden, machten mir eifrig Platz, als sie von meiner Absicht erfuhren.

Es war schwer, zwischen den immer wieder aufbrandenden Wellen des Schmerzes die Gedankenströme der Erinnerung zu erfassen. Aber allmählich formte sich vor mir das Bild der Vorgänge:

„Sie wollten – jagen. Diese kleinen Wüstentiere, die hier zwischen den Ruinen hausten. Sie hatten sich von den anderen getrennt. Der andere Mensch hatte gerade eines der Tiere geschossen – nicht mit einer Strahlpistole, mit einer altmodischen Kugelbüchse – da tauchte das Untier auf – irgendwoher aus den Ruinen!“

Ich hielt inne. Wenn ich in die Gedanken des anderen eindrang, mußte ich auch all seine Schmerzen mitspüren…

„Ehe er es noch begriffen hatte, packte das Untier mit seinen Klauenbeinen das Gewehr und wollte es ihm entreißen. Dabei löste sich ein zweiter Schuß – er traf unglücklich den Ryl, der in der Richtung stand. Und gleich darauf stürzte sich auch das Untier auf den Ryl und bohrte seine Klauen in seinen Leib…

Der Verwundete hob seine Strahlpistole, um das Untier anzugreifen. Aber der Strahl schadete ihm nichts – er traf nur die Mauer des Turmes. Und die löste sich auf – der Turm stürzte ein, und seine Trümmer begruben alle drei unter sich…”
Atemlos gespannt hatten die anderen gelauscht.

„Das sieht verdammt anders aus als die Bildergeschichte, die uns das Vieh erzählen wollte“, knurrte Marc.

Ich neigte meinen Kopfstern. „Bedenken Sie auch, daß das Tier den Koordinator angegriffen hat, als er dem Verwundeten zu Hilfe eilen wollte!“

“Es ist ein wahres Wunder, daß ihm nicht mehr geschehen ist!” stimmte der Arzt der Erdmenschen zu. “Auch unser Freund hier”, er wies auf den Verwundeten, “hat mehr Glück als Verstand gehabt – bloß einen glatten Schenkelbruch und oberflächliche Verletzungen – ich will nur der Vorsicht halber seine Wunden noch desinfizieren – “

„Vorsicht! – Das Tier! – Die Gitter!“

Wir fuhren auf. Mit einem wütenden Ruck hatte sich das Ungeheuer gegen die Tronium-Gitter geworfen. Scharfe Klauenzangen packten die Stäbe, bogen sie und zerbrachen sie – der lange, braune Leib wand sich und schoß durch die Öffnung!

„Zum Boot!“

Ein starker Arm packte mich und riß mich mit. Rings um uns stoben Ryl und Menschen auseinander, während sich das Untier auf den Verwundeten stürzte, der allein hilflos zurückgeblieben war. Es war wahrhaftig nicht Feigheit, daß ihn die Erdwesen zurückließen – sie hätten ihn aus den Klauen des Untiers herausreißen müssen, denn es hatte sich zielsicher über ihn geworfen.

„Verdammt!“ knirschte Marc, als wir das Boot sicher erreicht hatten. „Also war alles nur eine List, um uns in Sicherheit zu wiegen!“

„Es ist unverständlich“, sagte der Koordinator leise. „Dieses Wesen ist intelligent genug, uns diese Zeichnung zu zeigen – und dann wiederum so sinnlos wütend, daß es die Gitterstäbe zerbricht und uns deutlich zeigt, worauf es eigentlich aus ist. Ich kann List und Heimtücke verstehen – und auch ungezähmte Freß- oder Angriffslust – aber dieses Gemisch von beidem?”

„Und dann“, fuhr er fort, „noch so ein Widerspruch: Es widersteht Strahlwaffen und kann Troniumstäbe zerreißen – aber es flieht vor einem Menschen, der es mit dem Spaten angreift! Ich verstehe dieses Wesen nicht!“

Er versank in nachdenkliches Schweigen.

„Chef“, knurrte einer der Erdmenschen, die mit uns Zuflucht im Boot gesucht hatten, „mich interessieren psychologische Studien über dieses Vieh wirklich nicht, solange der arme Kerl da draußen unter seinen Klauen liegt! Will ihm denn keiner helfen?“

„Der einzige Weg, ihm zu helfen, ist, herauszubekommen, was das Wesen eigentlich will! wies ihn der Koordinator zurecht. „Soll ich etwa mit einer Strahlpistole schießen? Das schadet dem Verwundeten mehr als dem Untier!“

Er hatte recht – er mußte recht haben; denn hätte es einen anderen Weg gegeben, so hätte er ihn – als Roboter – wählen müssen. Ich ahnte, daß sich in seinem positronischen Gehirn jetzt die Ströme jagten, um eine Lösung zu finden.
Aber ich ertrug es nicht länger, diesem Schauspiel zuzusehen: ein rötlicher biegsamer Rüssel war irgendwo aus dem Leib des Untiers hervorgekommen und wühlte in den Wunden des Verletzten – ich hatte selbst die Schmerzen des sterbenden Ryl gespürt – und jetzt schlugen die Wellen der Angst des Verwundeten zu mir herüber …

„Gondor Ryan!“ rief der Koordinator. „Bleiben Sie stehen!“

Ich hörte nicht auf ihn. Ich hatte mich über die Wandung des Bootes geschwungen und glitt jetzt über die Sandfläche auf das Untier zu. Mich schüttelte das Grauen bei dem Gedanken an seine reißenden Klauen – aber die würgende Angst, die aus den Gedanken des Verletzten zu mir drang, seine verzweifelten, stummen Hilferufe zogen mich genauso stark und unwiderstehlich an, als sei ich ein Roboter, den das Gesetz zwang, ihm zu Hilfe zu eilen.

Jetzt hatte ich ihn erreicht. Dicht vor mir lag der Leib des Untieres – dort zuckten die Klauenbeine, und der Rüssel tupfte ruhelos an den Wundrändern. Ich schob einen meiner Arme vor und suchte ihn wegzureißen, aber schon schoben sich andere gegliederte Beine dazwischen – und nun packten sie mich plötzlich, hoben mich – schon glaubte ich, die scharfen Klauen in meinem Leib zu fühlen…

… aber ich fühlte nichts. Es war geradezu ein betäubender Schock: Anstatt des wilden Schmerzes, auf den ich gefaßt war, fühlte ich mich nur sanft emporgetragen; die scharfen Messerklauen waren eingezogen und die starken braunen Beine verursachten mir weniger Schmerz als vor ein paar Stunden die kantigen Leiterholme des Erdschiffes!

Sorgfältig, fast liebevoll setzten mich die seltsamen Greifer wieder in den Sand und zogen sich gestikulierend zurück, als wollten sie sich für ihr Vorgehen entschuldigen.

Aber die Angst des Verwundeten trieb mich wieder vorwärts. Hinten – im Boot – schrieen die Menschen etwas Unverständliches. Unklare Gedankenfetzen der Ryl drangen zu mir. Aber sie alle wurden übertönt durch den Schreck des Verwundeten. Aber plötzlich ließ dieses wilde Drängen nach – die Gedanken wurden schlaff. Stirbt er jetzt, fragte ich mich. Aber schon schoben sich andere Gedanken nach vorn – und so unfaßbar es mir erschien: Der Verwundete – träumte! Er schlief!

Der braune Leib des fremden Wesens bäumte sich auf. Der rote Rüssel verschwand – die Klauenbeine lösten sich – es war, das spürte ich, im Begriff, zurückzuweichen; doch da traf mich plötzlich mit voller Stärke ein warnender Gedankenschrei:

„Vorsicht, Gondor Ryan!“

Und mit gräßlicher Klarheit drang aus dem Hirn eines anderen Ryl ein Bild auf mich ein: Einer der Erdmenschen im zweiten Boot hatte die Nerven verloren. Er hob, allen Erfahrungen zum Trotz, seine Strahlpistole, um auf das Wesen zu schießen – und ich stand genau in der Linie des Strahls!

Ich spürte noch, wie der Ryl den Arm des Erdmenschen abzulenken suchte. Aber es war zu spät. Ich sah, wie der bläuliche Kegel auf mich zuschoß! Das Wesen bäumte sich hoch auf. Dann hörte ich ein dumpfes Zischen. Ungeheure Hitze hüllte mich ein – und zum zweiten Mal an diesem Tag verlor ich das Bewußtsein.


„Dem Himmel sei Dank, Gondor Ryan!“

Ich blickte in die Augen eines Erdmenschen, der über mich gebeugt war. Ich las seine Gedanken: Scham und eine tiefe Erleichterung. Es war der Mann, der den unglückseligen Schuß abgegeben hatte.

„Ich – ich konnte es einfach nicht mit ansehen, wie das Vieh…“ stammelte er. Ich neigte begütigend meinen Kopfstern und legte einen meiner Arme auf den seinen.
„Ich verstehe – es wäre mir vielleicht genauso gegangen“, beruhigte ich ihn. „Aber – wieso…!“

Wieso lebe ich noch? wollte ich fragen. Ich kannte die Strahlwaffen der Erdmenschen. Nichts konnte in ihrem Kegel bestehen, wenn nicht Tronium-Metall oder…

„Was ist mit dem – Wesen?“ fragte ich stattdessen.

„Das hat es erwischt!“ sagte der Erdmensch mit tiefer Befriedigung. „Dieser Strahl war offenbar mehr, als es aushalten konnte!“

Ich richtete mich auf. Irgendwo auf dem Sand in meiner Nähe lag der verkrümmte Körper des Wesens, das uns alle vor wenigen Minuten noch mit solchem Grauen erfüllt hatte – halbverbrannt und leblos. Ein paar Menschen und Ryl schienen den Körper gerade näher zu untersuchen.

Der Koordinator war näher getreten, Marc an seiner Seite.

„Gondor Ryan – wir Menschen werden es nicht vergessen, daß ein Ryl es war, der als einziger gegen dieses – Ungeheuer anzugehen wagte“, sagte Marc leise. „Und ich wollte noch vor ein paar Stunden…“

Wieder spürte ich eine Welle von Scham aus seinen Gedanken zu mir herüberschlagen. Es war mir unangenehm. Schließlich hatte ich kaum überlegt, als ich aus dem Boot gesprungen war…

Aber irgend etwas stimmte doch bei der ganzen Sache nicht! Es war doch unmöglich, daß ein Ryl sich für einen Menschen einsetzte, während ein Roboter untätig dabeistand? Wo blieb da das erste Grundgesetz? Ich hatte das Gefühl, daß ich alle Vorgänge noch immer nicht recht verstand. Ein Schuß tötete das unverletzliche Ungeheuer, aber ich blieb verschont. Ein Verwundeter fiel aus Todesangst in friedlichen Schlummer – ein Roboter vergaß seine Pflicht – Widersprüche über Widersprüche!

„Chef!“ Ein aufgeregter Ruf ließ den Koordinator auffahren. Einer der Männer, die das leblose Wesen untersucht hatten, hielt gestikulierend etwas in die Höhe, was er aus dem verkrümmten Rumpf gezogen hatte. „Chef! Kabel und Spulen!“
Wenige Augenblicke später standen wir um den halbverkohlten Körper und starrten auf das, was die vernichtenden Strahlen der Waffe freigelegt hatten: Nicht Knochen oder Muskeln – unzählige, regelmäßig angeordnete Leitungen und Spulen, Kondensatoren und Transistoren füllten den Rumpf aus.

„Dieses – dieses verdammte Biest war ein Roboter!“ rief Marc fassungslos.
Der Koordinator nickte.

„Ich vermutete es schon seit einiger Zeit – jetzt wissen wir es sicher. Und ich möchte dich bitten, vorsichtig mit Ausdrücken, wie ,das verdammte Biest‘, zu sein – ich fürchte, sie passen besser auf uns alle, als auf dieses Wesen!“

Der Koordinator schwieg eine Weile nachdenklich. Dann fuhr er sich mit einer seltsam menschlichen Geste über die Augen und begann leise:

„Marc, wie lauten die drei Grundgesetze der Robotik?“

„Erstens: Ein Roboter darf kein menschliches Wesen angreifen oder zu Schaden kommen lassen“, sagte Marc langsam. „Zweitens: Ein Roboter muß jeden Befehl eines Menschen befolgen – sofern er nicht dem ersten Grundgesetz widerspricht. Und drittens: Ein Roboter muß seine eigene Existenz schützen, solange es nicht dem ersten oder zweiten Grundgesetz widerspricht.“ Er sah den Koordinator fragend an.

„Ja, Marc, das sind die drei Grundgesetze, wie sie die Menschen formuliert haben. Und nun stell dir eine andere Rasse vor, eine Rasse, die in vielem weit erfahrener und weiser war, als die Menschen – eine Rasse, die wohl wußte, daß sie nicht allein im Weltall lebte. Kannst du vermuten, wie ihre Grundgesetze für ihre Roboter gelautet haben?“

Der Koordinator machte eine Pause. Er sah mich einen Augenblick lang scharf an, dann fuhr er fort:

„Ja, für sie hieß das erste Grundgesetz: Kein Roboter darf ein lebendes Wesen, gleichviel welcher Art, angreifen oder zu Schaden kommen lassen. Und dieses ‘Ungeheuer‘ hat nichts weiter getan, als jenes Gesetz befolgt.

Jahrtausende, Jahrzehntausende, mag es hier irgendwo in den Ruinen gelegen haben. Und dann kamen wir. Und was taten wir? Wir gingen auf die Jagd! Das ist ja ein Vergnügen für uns, die Herren der Schöpfung, irgendein anderes Wesen totzuschießen – nur um uns zu beweisen, wie geschickt wir sind! Und damit setzten wir den uralten Mechanismus wieder in Gang: Der Roboter mußte dem Menschen die Mordwaffe, das Gewehr, abnehmen, damit er nicht noch mehr Unheil damit stiftete!

Hätte er sie ihm kampflos überlassen – alles wäre gut gewesen. Aber er widerstrebte – und der zweite Schuß löste sich. Er traf den Ryl – und damit mußte sich der fremde Roboter dem zweiten Verletzten zuwenden: Nicht, um ihn anzugreifen – nein, um ihm Hilfe zu bringen! Mit seinen ‚Klauen‘ – in Wirklichkeit feinsten chirurgischen Instrumenten – wollte er die Kugel aus dem Körper des Ryl entfernen. Aber das können wir nicht verstehen – wir müssen immer und immer das Schlimmste annehmen: Und deshalb stürzt sich der dritte mit der Strahlpistole auf den Helfer.

Der Roboter wehrt sich nicht – aber er absorbiert die Energie des Strahls ohne Schaden. Er ist nach dem dritten Grundgesetz gut dazu ausgerüstet, seine eigene Existenz zu schützen. Aber auch er kann nicht verhindern, daß jetzt der alte morsche Turm – seiner Fundamente beraubt – zusammenbricht und die Opfer unter sich begräbt.

Gleich nach dem Unglück bemüht er sich, zu retten, was noch zu retten bleibt – und wie wird ihm das gedankt? Wir erscheinen und schießen wieder mit Strahlpistolen herum!

Ich selbst störe ihn mitten in dem diffizilen Geschäft, die gebrochenen Knochen wieder zu richten – natürlich schiebt er mich weg!“

Die anderen schienen das ohne Kommentar hinzunehmen – nur in Marcs Gedanken spürte ich ein leises Lächeln: Der Koordinator war ja ein Roboter – und ihn konnte das Wesen ruhig angreifen: denn nur Leben war ihm heilig! Aber es war besser, wenn das ungesagt blieb.

„Und jetzt kommt eine ganze Horde lebender Wesen und gibt dem Roboter unmißverständlich zu verstehen, daß er sich fortscheren soll! Seine Aufgabe ist beendet – der Verwundete ist versorgt – also will er sich zurückziehen. Aber das lassen wir auch wieder nicht zu – wir sperren ihn ein und bedrohen ihn weiter.
Jetzt versucht er, sich mit uns zu verständigen – ohne Sprache allerdings, mit Hilfe einer Bilderschrift, die jedes intelligente Wesen verstehen muß, will er uns klarmachen, was geschehen ist. Aber wir glauben ihm nicht. Wir sind so voll Mißtrauen gesogen bis obenhin, daß wir jede Unklarheit in seinen Mitteilungen zu seinen Ungunsten auslegen!“

„Aber warum bricht er wieder aus dem Käfig aus?“ fragte einer der Männer erregt. „Niemand war da bedroht, dem er zu Hilfe eilen mußte!“

Der Koordinator lächelte.

„O doch – wenn wir Herren der Schöpfung es auch nicht bemerkt haben: Es war Leben bedroht!

Was sagten Sie doch, Doktor, als das ‘Ungeheuer‘ plötzlich aus seinem Käfig ausbrach? ,Ich muß nur noch die Wunde desinfizieren!‘ Und was heißt desinfizieren? Töten heißt es – unzählige Keime töten!“

Der Arzt fuhr auf. „Aber das ist doch…“

„Das ist für uns selbstverständlich, aber ich vermute, daß er mit seinem rötlichen Rüssel ein Lockmittel darbot, das die Bakterien aus dem Körper des Verletzten wieder auswandern ließ – ohne sie selbst zu schädigen. Sie sollten das Problem untersuchen!“

Der Koordinator wandte sich wieder zu mir. „Und nun kommen wir zum Ende der Geschichte. Der Roboter hat den Verwundeten in heilenden Schlaf versenkt – er hat einen neuen Störenfried, unseren Gondor Ryan, sorgfältig beiseite geschoben – jetzt könnte er sich endlich zurückziehen. Aber da hebt jemand die Strahlpistole – und diesmal ist es nicht nur der unverletzliche Roboter, der im Energiekegel steht, sondern auch ein lebendes Wesen. Und wieder greift das erste Grundgesetz ein: Vor die Wahl gestellt, sich selbst zu schützen – oder Gondor Ryan – muß sich der Roboter opfern.

Er verschiebt seinen Energieschirm so, daß er den Ryl vor dem sengenden Strahl bewahrt – aber dafür ist er selbst ohne Schutz. Und so bleibt ihm nur die Vernichtung – im Dienst des Lebens, das für ihn heilig ist…“

Der Koordinator schwieg, und wir alle standen stumm neben der verbrannten Hülle. Schließlich sagte einer der Männer mit einem unsicheren Lachen:
„Chef – Sie sprechen von dieser Maschine, als sei sie ein Märtyrer gewesen!“
Marc sah ihn scharf an.

„Nein – kein Märtyrer, aber ein Sündenbock. Sie kennen doch die Geschichte vom Sündenbock? Sie steht im Alten Testament: Einmal im Jahr – heißt es da – wählten sich die Kinder Israels zwei Böcke; der eine wurde dem Gott Jahwe geopfert – den anderen aber beluden sie mit allen ihren Sünden und jagten ihn in die Wüste hinaus, ins Reich des Dämons Azazel -.damit er sie trage‘, heißt es in einem Kommentar.

Haben wir alle – Menschen und Ryl – nicht das gleiche getan? War es nicht unser aller Mißtrauen gegeneinander, das Mißtrauen gegen Leben und Denken in anderer Form als der gewohnten, das wir auf dieses Wesen übertragen haben? Waren es nicht unsere eigenen Fehler, unsere ‘Sünden‘, die wir ihm angedichtet haben – Heimtücke, Betrug, Blutgier, Feigheit, der Wille, andere zu vernichten, nur weil sie anders sind, und die Angst, vernichtet zu werden, nur weil man anders ist?
Azazel – die Wüste – haben wir diesen Planeten genannt; und auf Azazel, den Sündenbock, haben wir unsere Sünden abgewälzt. Aber – haben wir sie auch mit Azazel vernichtet?“

Er wandte sich ab und ging in die Wüste hinaus. Der Koordinator sah ihm nach.
„Gondor Ryan“, sagte er leise, „wir waren einig, als wir glaubten, Azazel vernichten zu müssen. Können wir nicht auch einig sein, wenn es darum geht, seinem Vorbild, dem Vorbild seiner Erbauer, zu folgen – ein Band zu knüpfen, das alles Leben im Universum einigt?“ Ich neigte meinen Kopfstern.

„Koordinator“, erwiderte ich leise, „nicht umsonst hat wohl der Rat unserer Priester gerade diesen Planeten als Ort für unser Treffen ausgewählt. Unsere Priester sind weise – weiser, glaube ich heute, als der Hohe Rat unserer weltlichen Herrscher; und ich begreife jetzt, warum sie mir ein Angebinde mit auf den Weg gaben, dessen Sinn ich damals nicht verstand.

Morgen früh werde ich dem Erdmenschen Marc die Goldene Maske des Schweigens geben – die Maske, die seine Gedanken vor mir verhüllt.
Denn ich fürchte, wir Ryl, die wir Gedanken lesen können, haben dabei etwas sehr Wertvolles verlernt: dem anderen zu vertrauen, auch ohne sein Inneres zu kennen.

Und die Erdwesen haben sich Roboter gebaut, deren Gedanken sich auf genau vorgeschriebenen Bahnen bewegen müssen – und sie haben dabei auch etwas sehr Wichtiges verlernt: daß es nämlich Dinge gibt, die sich nicht in Gesetzen und Mechanismen einfangen lassen.

Vertrauen, Koordinator, ist stets ein Wagnis – und das wird es auch bleiben. Ein Roboter darf nichts wagen – er muß am Leitseil seiner Regeln einhergehen; und deshalb, Koordinator, müssen wir Ryl mit dem Wagnis des Vertrauens beginnen…“

Luzifer

Eine Meditation

Sprecher: lm Anfang war nicht Himmel noch Erde, nicht Licht noch Dunkel, nicht Raum noch Zeit. IM ANFANG WAR DAS WORT…

(Akkord)
Stimme: Gelobt sei der HERR!
Chor: Gelobt sei der HERR!
Stimme: Gelobt sei SEIN Wort!
Chor: Gelobt sei SEIN Wort!
Stimme: .Gelobt sei SEIN Plan!
Chor; Gelobt sei SEIN Plan!
Stimme: Gelobt sei der HERR – in Ewigkeit!
Chor: Gelobt sei der HERR – in Ewigkeit!
(Akkord verklingt)

Stimme: Luzifer – Du bist noch hier?
Stimme: Ja, Herr. Ich – habe Dir etwas vorzutragen.
Stimme: Eine Bitte?
Stimme: Eine – Möglichkeit. Eine neue Möglichkeit.
Stimme: Eine neue Möglichkeit – ?
Stimme: Ja, Herr. Du erinnerst Dich an das mathematische Universum, das Du damals geschaffen hast?
Stimme: Ich erinnere mich.
Stimme: Ich war dort. Lange Zeit war ich dort. Und – ich habe dort etwas gefunden.
Stimme: Etwas, was wir nicht schon im Voraus wußten, als wir es schufen?
Stimme: Ja – oder vielmehr, nein. Es ist schwer zu erklären.
Stimme: Versuch’ es.
Stimme: Es ist – so: In diesem Universum liegt eine Möglichkeit für etwas, was eines Tages einmal sein könnte. Ich meine – die Gesetze dafür liegen dort; nicht das – Etwas selbst.
Stimme: Was ist das für ein Etwas?
Stimme. Ich nenne es Materie. Es müßte den gleichen Gesetzen gehorchen wie eine Welle, aber auch denen, wie ein Körper – es müßte sich über den ganzen Raum erstrecken, und dennoch nur einen Teil davon erfüllen, es müßte i n einem Raum sein und zugleich dieser Raum selbst – es ist sehr schwer zu erklären. Du würdest es sehen, wenn Du selbst dort wärst.
Stimme: Woher weißt Du, daß ich es nicht schon gesehen habe?
Stimme: Herr – Du verwirrst mich. Wenn Du eine Möglichkeit denkst, dann ist sie Wirklichkeit.
Stimme: Kann ich denn alle Möglichkeiten zugleich denken?
Stimme: Herr – Du verwirrst mich!
Stimme: K a n n ich a l l e Möglichkeiten zugleich denken?
Kann ich etwas als existierend denken, und zugleich als nicht existierend? Kann ich etwas als Welle denken und zugleich als Punkt?
Stimme: Herr, Du hast einen Plan!
Stimme: Luzifer – der Plan hat mich. Ja, der Plan hat mich !
Stimme: Herr – !
Stimme: Höre mich, Luzifer. Du bist der Nächste meinem Geist – Du bist der, der mich verstehen wird. Ich schaffe, indem ich denke. Und indem ich denke, denke ich nach einem Gesetz, das dem Denken innewohnt. Und deshalb schaffe ich auch nach einem Gesetz.
Stimme: Aber nach einem Gesetz, das Du selbst geschaffen hast!
Stimme: Und das mich nun bindet. Und wenn ich auch in jedem Augenblick tausend neue Gesetze schaffen würde, so wären sie doch alle da – und ich müßte mich nach einem von ihnen richten – oder wieder ein neues schaffen, nach dem ich mich dann richten müßte. Und all’ die anderen tausend Gesetze wären damit hinfällig.
Stimme: Das ist ein altes Problem. Wir haben es durch die getrennten Universen gelöst. In jedem gilt eines der Gesetze – oder eine Gruppe von ihnen.
Stimme: Und gilt unbedingt und unverbrüchlich. Und es fällt kein Sperling vom Dach und kein Haar vom Kopf ohne meinen Willen!
Stimme:. Was sind “Sperlinge”, und was sind “Haare”?
Stimme: Möglichkeiten, die in Deiner – Materie – liegen.
Stimme: So hast Du die Materie in Deinen Plan bereits aufgenommen?
Stimme: Luzifer – wenn Du mich liebst, dann schweige von meinem Plan.
Diese Pläne sind ebensoviele Sackgassen.
Stimme: Herr – !
Stimme: Diese Pläne sind unfruchtbar. Ich kann so viele davon denken oder schaffen, wie ich will – jedesmal liegt alles, was nach ihnen geschehen kann, jede winzige Episode, bereits im Plan. Es ist ein reines Rechenkunststück, die Konsequenzen aus den Voraussetzungen herauszuholen. Dazu brauche ich nichts zu schaffen, was außer mir ist.
Stimme: Aber diese Universen sind schön. Sie sind – gewaltig. Sie sind – sie loben ihren Schöpfer.
Stimme: Weil sie müssen, Luzifer! Weil sie müssen! Weil ich den Gedanken, mich zu loben, bereits in sie hineingepackt habe! Sie sind nicht mehr als tausend Masken, die ich mir aufsetze, um mich im Spiegel zu betrachten. Sie sind genauso wenig Schöpfungen, wie Masken Geschöpfe sind. Oder anders gesagt: Meine Geschöpfe sind Masken. Puppen, die so tanzen wie ich es ihnen vorschreibe. Luzifer – ich schäme mich.
Stimme: Vor wem?
Stimme. Vor mir selbst. Und deshalb vor mir selbst, weil ich in diesem Kosmos nichts finde, wovor sich ein Gott sonst schämen könnte!
Stimme: Ist es denn die Aufgabe eines Gottes, sich zu schämen, Herr?
Stimme: Luzifer – es ist die Aufgabe eines Gottes, eine W e l t zu schaffen – aber nicht ein Marionettentheater. Eine Welt – verstehst Du! Eine Welt a u ß e r mir – die nicht entstehen könnte, wenn nicht ich sie schaffe – und die dennoch, wenn sie geschaffen ist, ein Eigenes ist. Etwas, das mir gleicht, nicht, weil es ein Schatten von mir ist – sondern weil es ein
Gegenstück zu mir ist. Etwas, das mich nicht lieben m u ß , aber das mich lieben k a n n – etwas, das mich loben k a n n, aber das mich. nicht loben m u ß !
Stimme: Herr – ich beginne das Problem zu sehen. Darf ich darüber nachdenken?
Stimme: . Luzifer – ich verlange mehr von Dir. Ich verlange es nicht – ich bitte Dich darum.
Stimme: Gott bittet?
Stimme: Ja. Denn das, worum ich Dich bitte, ist das Schwerste, um das je gebeten worden ist,
Stimme: Herr – ich werde Deine Bitte erfüllen, was es auch sei.
Stimme: Würdest Du das mathematische Universum vernichten, wenn ich Dich darum bitte?
Stimme: Herr! (Pause) Aber -ich würde es tun.
Stimme: Würdest Du Dich auch selbst vernichten» wenn ich Dich darum bitte?
Stimme: Ja, Herr!
Stimme: Würdest Du m i c h vernichten, wenn ich Dich darum bitte?
Stimme: Herr, das ist nicht Dein Ernst!
Stimme: Wenn es mein Ernst wäre, würdest Du es dann tun?
Stimme: Würdest Du mir erklären, warum ich Dich vernichten sollte?
Stimme: Du hast recht. lch kann nicht zugleich Auflehnung und blinden Gehorsam verlangen. Es ist das alte Problem der Gegensätze. Hör zu, Luzifer: Der Fehler meiner Schöpfung ist, daß es nur einen Schöpfer gibt – nur ein Wort, das gilt – nur einen Plan, der alles beherrscht.
Stimme: Wenn ich Dich vernichten würde, wäre damit nichts geholfen.
Dann wäre i c h allein.
Stimme: Du hast recht. Wir müssen beide an dieser Schöpfung mittun
– aber nicht miteinander, sondern gegeneinander.
Stimme: Gegeneinander?
Stimme: Gegeneinander. Immer, wenn ich einen Plan habe, mußt Du einen Plan für das Gegenteil schaffen – wenn ich etwas schaffe, mußt Du es vernichten – wenn ich etwas kühl mache, mußt Du es erhitzen – wenn ich etwas ordne, mußt Du es verwirren.
Stimme: Herr, das kann ich nicht!
Stimme: Doch – Luzifer – Du kannst es. Du als einziger von allen. Du kennst mich wie keiner sonst von ihnen – Du allein kannst meine Pläne durchkreuzen; Du allein kannst Gedanken fassen, die genau so stark sind wie meine – Du allein kannst Welten schaffen, die nicht aus meinen Gedanken stammen – und DU ALLEIN BIST STARK GENUG, GENAU SO EINSAM ZU SEIN WIE ICH.
Stimme: Herr – ich weiß, ich habe mich oft vermessen. Ich sehe es jetzt. Du hast mich geprüft, und Du hast mir meinen Fehler gezeigt. Strafe mich, mach’ mich zum untersten Deiner Diener – aber beende jetzt die Prüfung.
Stimme: Luzifer – das ist keine Prüfung. Es ist mein Ernst.
Stimme: Herr, das kannst Du nicht wollen. Dein Plan ist vollkommen. Ich kann ihn nicht stören.
Stimme: Mein Plan ist nicht vollkommen. Deine Störung kann ihn vollkommener machen.
Stimme: Oder unvollkommener.
Stimme; Glaubst Du das?
Stimme: Nein – oder ja – ach Herr, Du quälst mich!
Stimme: Ich quäle Dich nicht mehr als mich selbst.
Stimme: Warum quälst Du uns beide?
Stimme: Nicht ich quäle – ich werde gequält. Wenn ich Dir sage, daß Du meine Qual lindern kannst, würdest Du es dann tun?
Stimme: Ja, Herr!
Stimme: Dann tu’, worum ich Dich bitte: Geh und verlaß’ mich, bekämpfe mich, vernichte mich, wenn Du es kannst – bau’ ein Universum auf, das mich verhöhnt, eines, das mich besudelt, eines, das mich gar nicht kennt – tu’ immer das andere, das Gegenteil, sei immer der Anwalt der anderen Möglichkeit – und erlöse mich so von der Qual, all das selbst zu wollen und nicht zu können!
Stimme: Und wenn ich siegen sollte?
Stimme: Keiner von uns wird siegen. Keiner von uns wird unterliegen. Siegen wird ein drittes.
Stimme: Ein drittes?
Stimme: Unsere Schöpfung, deren Diener wir beide sind.
Stimme: Und ich dürfte Dir nie mehr nahe sein? Nie mehr zu Dir sprechen? Nie mehr Deinen Worten lauschen? Dich nie mehr lieben?
Stimme: Wir werden uns sehen. Wir werden miteinander sprechen. Und – ich werde Dich immer lieben, Luzifer. Am meisten, wenn Du mich am schwersten triffst.
Stimme: Und ich? Kann ich Dich denn lieben, wenn ich Dich vernichten soll?
Stimme: Luzifer – ich weiß es nicht. Vielleicht wirst Du lernen, mich zu hassen, vielleicht wirst Du lernen, mich trotz alledem zu lieben. Es ist das größte Experiment, das je gewagt wurde – frag’ mich nicht nach dem Ausgang. Luzifer?
Stimme: Ja, Herr?
Stimme: Luzifer – willst Du tun, worum ich Dich bitte?
Stimme: Herr, wenn Du es willst, und wenn Du mich darum bittest – ich will es tun.
(Pause)
Und dies ist also das letzte Mal, daß ich Deinen Willen tue.
Stimme: (sehr leise) Luzifer – Verzeih mir – verzeih mir – – –

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