Vorab: 4 Absätze “Theorie”… [Auszug aus einem meiner Artikel]

Die “ANIMA” bildet oft die gegengeschlechtliche (und i.a. “unbewußte”) “Ergänzung” zu einem ( i.a. “bewußten”) völlig a n d e r e n “Seeleninhalt”:
nämlich der “PERSONA”, also dem “Bild”, der “Rolle” oder zuweilen sogar nur “Maske”, die ein Mensch nach außen hin gegenüber anderen “präsentiert” – und oft genug, weil stets die Gefahr besteht, in einer solchen Rolle “aufzugehen”, zugleich auch nach innen hin gegenüber seinem eigenen Ich:
anders gesagt, also jene Schnittstelle, an der Gesellschaft und Kultur entscheidend – und oft unheilvoll – in das Seelenleben des Individuums “hineinlangen” können.

So finden wir beim Mann oft eine einseitig und überzogen “männlich” geprägte “PERSONA”, die bei vielen Männern den Anspruch erhebt, ihre gesamte Persönlichkeit zu darzustellen, aber – gleichsam als “Opposition im Untergrund” dazu – eine (ohnehin vorhandene, aber in diesem Zusammenhang besonders wichtige) kompensatorische “ANIMA” als Vermittlerin all jener Aspekte, die er (bewußt oder unbewußt) “dem Weiblichen” zuordnet.

… und nun: die “Praxis”:

Großmeister in der Massenproduktion populärer “PERSONA”s für ganze Gruppen (“groß”)deutscher Menschen waren zweifellos die Nationalsozialisten. So hatten wir – als ich etwa 1940 zwölf Jahre alt war – direkt aus “Mein Kampf” die Deklaration des Führers, wie “Deutsche Jungen” zu sein hatten:
“Zäh wie Leder – flink wie Windhunde – und hart wie Kruppstahl!”

Das war unzweifelhaft klar und eindeutig. Und ebenso unzweifelhaft paßte in diese offenbar für deutsche Jungen verbindliche “PERSONA” nicht die Faszination der Vorstellung, sich irgendwann mal als schicke junge Dame anzuziehen! Wie war solch eine Idee bloß in meinen Kopf gekommen?!

Als Damen verkleideten sich – wußte ich aus Illustrierten oder Kriminalromanen – Knaben beim chinesischen Theater, Hochstapler und dergleichen Verbrecher oder zuweilen auch Detektive. Nun war ich weder ein Chinese noch ein Detektiv: war ich dann etwa vielleicht ein künftiger Verbrecher?
Abenteuerlich genug war ja eine solche Vorstellung schon:

[einsam, in Opposition zu Polizei, Recht, Ordnung und Konvention, geradezu richtig heroisch (paßte das etwa doch irgendwie zum gepriesenen Leitbild?! Aber: Heldentaten in Damenkleidung? Doch wohl fragwürdig!)]

  • andererseits allerdings auch ziemlich unbehaglich:
    [schon im 12. Lebensjahr unausweichlich zur Verbrecherlaufbahn bestimmt zu sein – von allen gejagt und am Ende doch entlarvt und erwischt zu werden: zumal ich ja eigentlich gar keine Lust hatte, jemand was Böses zu tun?]
    Allerdings – tröstete ich mich dann wieder – hatte sich selbst der typische Lausejunge Huckleberry Finn mal als Mädel verkleidet: und sogar untadelige Hitlerjungen hatten bei “Stadtgeländespielen” schon Mantel und Mütze ihrer Schwester angezogen, um so den Gegner unentdeckt auszuspionieren.
    Bloß – widersprach etwas in mir – träumten die bestimmt nachts nicht davon, und stellten sich auch nicht heimlich vor, mal wie eine richtig erwachsene junge Dame auszusehen! Nein: da war etwas zutiefst nicht in Ordnung mit mir, was mich anscheinend von all den normalen Jungen des Dritten Reichs unterschied: etwas “Dekadentes” (was immer das heißen mochte) – so wie ja auch, wie man uns immer wieder predigte, die Zeit von 1918 bis 1933, die “Systemzeit”, zu-tiefst “dekadent” gewesen war:
    da hätte ich wahrscheinlich besser hingepaßt, dachte ich dann resigniert – wo ja selbst die echten jungen Damen alle ausgesehen hatten, als wären sie verkleidete Buben (mit ”Bubikopf”) … !

    Um falsche Eindrücke zu vermeiden: all die Zeit über tändelte ich nicht etwa in Muttis Schürze, um – a la Charlotte von Mahlsdorf – im Haushalt zu helfen oder sonstig ‘Töchterliches” zu treiben: sondern saß zwischen Mathematik-büchern, Experimentier- und Metallbaukästen, über meinem Mikroskop oder in meinem eigenen kleinen chemischen Labor, das ich mir in der unbenutzten Speisekammer neben der Küche eingerichtet hatte – sah mich als künftigen Forscher – und trachtete im übrigen mit zusammengebissenen Zähnen, dem offiziell erwünschten Bild eines “Deutschen Jungen” möglichst nahezukommen!

    Aber Fräulein Anima war ein raffiniertes Weibsbild [nicht abfällig gemeint: ”Bild des Weibs” im Unbewußten!] und tat ganz harmlos so, als könne ich mir alle dekadenten Damen-Ideen ja ganz sachlich ausreden: Rein als Hypothese mal angenommen, ich hätte mich jetzt und hier als Mädchen verkleiden wollen – wie hätte ich das denn machen wollen? In der ganzen Wohnung wäre kein einziges Utensil dafür gewesen: kein Dienstmädchenkleid, daß ich hätte stibitzen können, kein Büstenhalter, kein Lippenstift, kein Kopftuch, ganz zu schweigen von einer “Perücke” oder einem “Gummibusen”, wie sie in Büchern offenbar für solche Fälle stets zur Verfügung standen – lediglich die lächerlich zu weiten Sachen meiner zu der Zeit schon recht korpulenten 54jährigen Mutter!

    Aber wie gesagt: Fräulein Anima war raffiniert – und wußte genau, daß man nur behaupten mußte, etwas sei eigentlich unmöglich: damit ich sofort begann, nachzugrübeln und möglichst sogar auszuprobieren, wie es dennoch gehen könne – ob nun beim Bau von Modellen, für die ich eigentlich die dritthöhere Nummer des Metallbaukastens benötigt hätte, oder bei scheinbar unlösbaren Mathematikproblemen (und auch später im Beruf haben mich immer die Projekte am meisten gereizt, die angeblich “nicht gehen” sollten); also begann ich auch hierzu mal – “bloß so als Denkaufgabe” – abends vor dem Einschlafen oder wenn ich mal allein in der Wohnung war, Punkt um Punkt für jedes einzelne Hindernis zu überlegen oder gar andeutungsweise zu testen, ob es denn in der Tat so völlig unüberwindlich wäre – und wenn mir dabei zuweilen ein ungewohnt angenehmes Kribbeln über den Leib lief, war das lediglich eine Art weiterer “Denkansporn”…

    … bis dann eines Tages natürlich zwangsläufig der Punkt kam, wo ich mir sagen mußte, daß das in der puren Theorie ja alles recht gut und schön sein mochte – der endgültige Beweis aber, wie auch in Wissenschaft und Technik, erst erbracht, wenn man es irgendwann auch einmal tatsächlich machte!
    So geschah es denn also, daß ich am Abend des 55. Geburtstags meiner Mutter
  • sie saß noch mit Gästen zusammen, während ich mich schon “zum Schlafengehen” empfohlen hatte – mit einigen rasch zusammengerafften Utensilien heimlich in ihr Schlafzimmer schlich und das “Mysterium Transformationis” eröffnete: Hemd, Hose, Schuhe und Socken aus. Über die nackten Beine mit grosser Sorgfalt, wie ich das mal im Kino gesehen hatte, vom Fuß aufwärts je einen ihrer “guten” Kunstseidenstrümpfe schrittweise nach oben gerollt, damit die Nähte auch genau hinten in Wadenmitte und gerade saßen, und oben mit je einem von den elastischen Ringbändern festgehalten, die mein Vater sonst zum Raffen seiner Hemdärmel trug (Mutters Korsett mit Strumpfhaltern zu benutzen, wäre bei dessen Größe eine Unmöglichkeit gewesen); ihre schmalsten und engsten Schuhe drüber, zuschnüren – immer noch ziemlich weit, aber es ging.

    Das einzig diskutable von ihren Kleidern – grün-schwarz gemusterte Kunstseide – mit einem Bindegürtel und etlichen Sicherheitsnadeln auf Taille bringen: reichte mir zwar fast bis zu den Knöcheln – na schön, war’s eben eine Art “Abendkleid” – Ärmel auch viel zu lang und weit, aber glücklicherweise mit Druckknöpfen am Handgelenk: gaben dadurch gerafft direkt einen hochmodischen Effekt! Fehlte noch der Busen: war eines der härtesten Probleme, da ja noch nicht mal ein etwa ausstopfbarer Büstenhalter zur Verfügung gestanden hatte – Lösung: ein altes aufblasbares Gummischiff für die Badewanne, das – unter mein Turnhemd unterm Kleid gestopft – eine durchaus akzeptable Rundung über der Brust ergab (natürlich ohne echten “Busen”-Einschnitt in der Mitte – aber da ich ja kein Dekollete hatte, fiel das nicht auf) – im langen Spiegel Höhe kontrolliert: nach meinen Messungen an Photos exemplarischer BDM-Sportsmaiden in Turnhemden mußten die (gedachten) Brustwarzen genau auf der Linie liegen, welche die Halbierungspunkte der Oberarme zwischen Ellbogen und Schultern verband – stimmt!

    Hm, so weit gar nicht übel – aber jetzt das Wichtigste: Kopf und Gesicht! Die Haare konnte ich glücklicherweise unter einem fertiggenähten schwarzen “Turban” verschwinden lassen, den meine Mutter zuweilen unterwegs trug – saß recht gut. Dazu rechts und links je einen ihrer langen geschliffenen Onyx-Tropfen-Ohrringe – da sie gottlob nichts vom Durchstoßen hielt, problemlos an die Ohrläppchen schraubbar. Dann mit der Quaste was von dem rosa-bräunlichen Puder, den sie zuweilen beim “Ausgehen” benutzte – natürlich erst zuviel, sah aus wie bei ‘nem Zirkusclown – aber das kannte ich schon von einem früheren Testexperiment: Überschuß vorsichtig abtupfen – blieb (da zum Glück Winter: kein Sonnenbrand oder sowas – glatte Gesichtshaut) ein interessanter samtiger “Teint”. Und nun: zur Krönung mit – da weder Lippenstift noch Schminke verfügbar! – dem Korken des Röhrchens Erdbeer-Einkochfarbe sorgsam spiegelkontrolliert über die leicht geöffneten Lippen streichen – – – ja: Tiefrot !!!

    “Und wer, meinst Du – “ schwärmte meine Mutter anderentags, “hat mir, als alle gegangen waren, in meinem Schlafzimmer als Letzte gratuliert?” – kleine Spannungspause – dann, noch immer entzückt: “Eine m o n d ä n e Frau !!!
    Und während meine Schwester (inzwischen 27, Ehefrau und Mutter), zu der sie das sagte, erst sie leicht verständnislos ansah, um dann – Hintergründe erahnend – mit großen, sanft bestürzten Augen den Blick auf mich zu wenden:

    der ich mich meinerseits bemühte, die möglichst arglose Miene des großdeutschen Leder-Kruppstahl-Windhund-Jungen zur Schau zu tragen, räkelte sich im Unbewußten Fräulein Anima ob des Kompliments wohlig eher wie eine systemzeit-dekadente Seiden-und-Goldhalsband-Katz: mit dieser Di-va-Rolle, dachte sie (soweit Anima’s denken können), hat er mir also eine echte Verbündete gewonnen – vielleicht hätte sie lieber gleich zwei bildschöne Töchter gehabt statt nur der einen? Und wenn er etwa auch die noch, träumte sie weiter, zu meiner nächsten, schwesterlichen Freundin machen könnte … ? Aber auf die Erfüllung dieses Traums mußte sie – wie gut, daß eine Anima als Archetyp “zeitlos” ist! – noch volle 5 Jahrzehnte warten…

Schon nach knapp 5 Jahren dagegen kam – fast kaum zu glauben! – jenes Jahr 1945, wo all die Deutschen Blockwarte und anderen Kleinformat-Helden ihre bisherigen “PERSONA”s ganz schnell ganz klein zusammenfalteten, um vor Spruchkammern und Entnazifizierungsausschüssen zu schwören, sie hätten all diese “PERSONA”s ja nur aus Angst vor der Gestapo getragen : und alibisuchend begannen, Stück für Stück die auf einmal gar nicht mehr dekadent, sondern eher nachahmenswert erscheinende “Systemzeit” wiederzuentdecken:

Und es erwies sich, daß Fräulein Anima völlig recht gehabt hatte: in die hätte ich von Anfang an viel besser gepaßt… !