Eine Hommage an eine Frau mit vielen Namen

Autor: HEKATE (Seite 4 von 5)

Der Gürtel der Aphrodite

Zweiter Zwischenbericht
über Recherchen in den Fragmenten des Hellmut Wolfram]
(Das folgende Fragment, auf das ich bei den Vorarbeiten für meine Abschlußarbeit zum Erwerb der Würde einer literarisch-erotischen Diplom Haushaltshilfe stieß, bezieht sich zwar nicht auf die Themenkomplexe Dienstmädchen”, “Schürzen” oder “Tanten” – dürfte aber vermutlich gerade für Freundin Jula von Interesse sein, weil es etwas Licht auf den “Kipp-Zeitpunkt” bzw. dessen Ereignis-Vorfeld wirft, den sie in ihren Bemerkungen vom 8. November anspricht.
Margot Trugmaid, Diplomkandidatin

Wenn man aus den Fragmenten Biographisches entnehmen will, stößt man immer wieder auf das gleiche Problem: wenn der Mann doch bloß nicht so creativ wäre! Erst mal stellt er alles jedesmal in einen – zwar ihm, aber keineswegs stets dem bedauernswerten Leser, klaren – größeren Handlungsrahmen, den er meist aber gar nicht zuende führt, weil er das Fragment schon vorher abbricht
(das ist in diesem Fall, wie sich allmählich abzeichnet, offenbar die durchaus originelle Idee, den Sohn eines Vaters, der wegen transvestitischer Neigungen von der ganzen Familie als “sozusagen für sie gestorben” erklärt wurde, Schritt für Schritt die Wahrheit (und seine eigene analoge Veranlagung) entdecken zu lassen – vermutlich mit einem grandiosen Finale, das Sohn und Vater als “Mutter und Tochter” vereinen wird?und andererseits kann er, wo er auf irgendein Erinnerungs-Detail stößt, selten der Versuchung widerstehen, nun “zum Knopf den ganzen Anzug zu schneidern”, indem er das nach allen denkbar-möglichen Entwicklungsrichtungen ausweitet: so daß man selten weiß, was “wirklich passiert” ist – und was nur “hätte passieren können”!

Glücklicherweise kann man – da der Autor ja noch zu Interviews zur Verfügung steht – versuchen, von ihm zu erfahren, was denn nun was sei:
ich gebe aber erst einmal den unkommentierten Text – um die Resultate meiner Nachfragen später in einem “Nachwort” zusammenzufassen.
Der Titel der ganzen Story, deren Beginn dies Fragment werden sollte, war:

Der Gürtel der Aphrodite

1.Kapitel: Das Album

In den Schriften der Uneingeweihten wird oft großes Aufheben darum gemacht, ob wir als Kind lieber mit Puppen oder mit Soldaten gespielt, öfter in der Küche oder in der Werkstatt geholfen oder eher Jungen oder Mädchen als Spielgefährten gesucht hätten.

Darüber kann ich heute nur lächeln: das ist nicht die Art, wie die Große Göttin uns auserwählt…

Für mich zum Beispiel war bis zu meinem sechsten Lebensjahr die Welt ebenso einfach und wohlgefügt, wie sie – etwa mit den Augen einer unserer modernen Emanzipations-Predigerinnen gesehen – „typisch männlich“ war: ich war zwar – das sah ich schon ein – noch klein; aber wenn ich groß war, würde ich einen ebenso aufregenden wie schmutzigen Beruf ergreifen – Traktorfahrer oder Lokomotivführer oder Schleppkahnschiffer – und meine Nanna heiraten. Die würde dann zwar meist allein zuhause sitzen, während ich in der Welt herumfuhr und Geld verdiente – aber ein oder mehrere Kinder kriegen, damit sie sich nicht langweilte, und mir jedenfalls gutes Essen kochen und die Strümpfe stopfen, wenn ich zwischendurch mal nach Hause kam.

Bis das allerdings so weit war, mußte ich mich den für kleine Jungen geltenden Regeln auf der Welt fügen, wie: sich vor dem Essen die Hände waschen, früh genug zu Bett gehen, Spinat essen, der .mir zwar nicht schmeckte, einen aber groß und stark machte und so weiter – was sich aber alles, angesichts so klarer und erfreulicher Zukunftsaussichten, ertragen ließ: zumal der erste konkrete Schritt auf diesem Wege – nämlich: in die Schule zu kommen – immer näher rückte.

Mädchen und ihre Angelegenheiten – insbesondere „kleine“ Mädchen, also solche etwa meines Alters — interessierten mich zu dieser Zeit außerordentlich wenig. Erstens einmal hatte ich ja meine Nanna, die sehr viel größer, hübscher und vernünftiger war als all diese – mir sowieso nur ziemlich selten auf Spielplätzen oder im Zoo begegnenden – etwas gezierten, aufgeputzten und meinem Gefühl nach ziemlich albernen Wesen; andererseits muß ich damals noch unter dem Eindruck einer Erklärung des Unterschieds zwischen Mädchen und Jungen gestanden haben, die mir „Oma“ entweder sehr ungeschickt gegeben – oder die ich bemerkenswert falsch verstanden hatte:

Jedenfalls kamen, soweit ich das heute noch rekonstruieren kann, meiner damaligen Meinung nach Kinder in einer einheitlichen Standardausführung auf die Welt – wurden dann in den ersten Lebensmonaten von ihren Eltern nach körperlichen Merkmalen, wie Größe, Kraft und unter anderem auch Ausbildung ihres „Spätzchens“, begutachtet – und danach entweder in Mädchenkleidern als Mädchen oder in Hosen als Jungen aufgezogen.

Danach war es verständlich, daß ich es fast als peinlich empfand, mich mit solchen – offensichtlich von ihren eigenen Eltern als unvollkommen eingestuften – Geschöpfen näher einlassen zu müssen: so starrte ich etwa, als ich einmal statt mit meiner Nanna mit einem fremden kleinen Mädchen in eine Karussellkutsche steigen mußte, die ganze Fahrt über gequält und kühl aus deren Fenster, ohne es eines Wortes zu würdigen. Ebenso peinlich – wenn nicht noch schlimmer – wäre es für mich gewesen, mich etwa öffentlich in einem Kleidungsstück zu zeigen, das etwa auch nur entfernt dem Eindruck hätte erwecken können, ich sei kein Junge: als uns einmal in der Stadt ein Gewitter überraschte und man auf die naheliegende Idee kam, mir rasch ein buntes Regencape zu kaufen, lehnte ich dies mit eisiger Würde ab – in einem solchen Cape, meinte ich, könne man mich ja für ein Mädchen halten!

Völlig anders – und wer diesen „doppelten Standard“ für unfaßbar hält, beweist nur, daß er seine eigenen Vorurteile noch nie nüchtern logisch überprüft hat! – war natürlich meine Einstellung zu meiner Nanna und zu großen, „richtigen“ Frauen überhaupt: das nun waren Wesen, die alles Hübsche, Zärtliche, Angenehme und Weiche in der Welt – das ja offenbar von Traktorfahrern oder Schleppkahnschiffern nicht gepflegt werden konnte – zu bieten und darzustellen hatten; die bunte, zarte und komplizierte Kleidungsstücke zu tragen hatten, die für Männer viel zu empfindlich gewesen wären – sich Lippen, Augenlider und Fingernägel bemalen durften (wiederum etwas, das naheliegenderweise für einen öligen, rußigen Lokomotivführer nicht in Frage kam) – gut nach Blumen oder Marzipan rochen und an Brust und Hüften weiche und angenehme Rundungen zeigten.

All das mußte so sein – denn wir Männer hätten ja all diese zweifellos hübschen und erfreulichen Dinge nicht bieten können – und ich war durchaus stolz darauf, daß meine Nanna in jeder Beziehung (dafür hatte ich damals bereits einen erstaunlich scharfen Blick!) diese Aufgabe der Frau in der Welt besonders gut erfüllte: so stolz, daß es mich – im vollen, sicheren Bewußtsein meiner älteren Rechte – auch überhaupt nicht störte, wenn große, erwachsene Männer sie, während sie mit mir spazieren ging, ansprachen oder auch begleiteten (zumal diese Männer dann ja auch immer sehr nett und kameradschaftlich zu mir waren).
Daß – und auf welche Art – solche großen, schönen Frauen aus den kleinen, ziemlich verächtlichen Mädchen wurden: das war ein Problem, über das ich damals überhaupt keinen Gedanken verlor. Für mich gab es im Prinzip nur zwei Welten: die große, aufregende und interessante Welt der Erwachsenen – und die weitaus weniger interessante, mit zahlreichen nicht immer angenehmen, aber verständlichen Einschränkungen versehene Welt der Kinder, und mein wichtigstes Anliegen schien zu sein, möglichst bald aus dieser Welt in die Welt der Erwachsenen vorzustoßen; daß diese Welt nicht auf mich warten würde – oder daß andere Kinder gleichzeitig mit mir erwachsen werden könnten, waren Gedanken, auf die ich damals überhaupt nicht kam.

Demzufolge galt auch das, was ich über den Unterschied von „kleinen“ Jungen und Mädchen wußte, für mich zunächst überhaupt nicht in Bezug auf erwachsene Männer und Frauen: da waren ja nun die Unterschiede in Aussehen, Verhalten und Tun so offensichtlich, daß ich überhaupt nicht auf die Idee gekommen war, nach ihren Hintergründen zu fragen! Arg verwirrt wurde ich da nur mal im Karneval, als ich bei einem Umzug auf einem Wagen neben anderen Masken ein paar richtiggehend hübsche, geschminkte Mädchen in bunten Kleidern sah – und aus Bemerkungen der Erwachsenen entnahm, das seien „in Wirklichkeit“ junge Männer.

Über dieses Problem dachte ich abends im Bett noch lange nach: wenn es so war, daß der Unterschied zwischen Jungen und Mädchen von den Eltern durch die Wahl der Kleidung festgelegt wurde, dann entbehrte die Aussage, jemand sei „in Wirklichkeit“ etwas anderes, als seine Kleidung auswies, doch des Sinns? Oder meinten sie, daß diese jungen Männer „in Wirklichkeit“ Hosen unter den langen Mädchenröcken getragen hatten? Das ließ aber immer noch die Frage offen, warum sie auch lange Frauenlocken und richtig runde Busen unter den Miedern gehabt hatten…

Oder konnte man vielleicht später auf eigene Faust die frühere Entscheidung der Eltern noch einmal abändern – ähnlich, als wenn jemand, der nach dem Willen seiner Eltern Lehrling beim Kolonialwarenhändler werden sollte, plötzlich davonlief und Schiffsjunge wurde? Das brachte aber erhebliche Unsicherheit in die ganze, bisher doch sehr übersichtlich scheinende Welt der Erwachsenen!

Schließlich – nachdem ich ähnliche seltsame Fälle mit neu geweckter Aufmerksamkeit beobachtet hatte (selbst meine Nanna hatte doch zu einem Karnevalsfest mal Männerkleidung angezogen!) – einigte ich mich mit mir selbst auf folgende Lösung: Neben der offiziellen Ordnung der Welt, in der natürlich Männer Männer mit Hosen und Frauen Frauen mit Röcken waren, gab es offenbar gewisse Ausnahme-Situationen – wie Karneval, wo sich sowieso alle Leute seltsam maskierten, Theaterstücke, wo ja auch kleine Jungen taten, als seien sie Prinzen oder Zwerge, Zirkus oder Varieté – wo sich jemand au auch als „falsche“ Frau oder als „falscher“ Mann kleiden und benehmen konnte. Das war natürlich immer noch ein Verstoß gegen die wirkliche, festgelegte Weltordnung und gab somit keineswegs das Recht dazu, nun auch etwa die tatsächlichen Rechte eines solchen Wesens zu beanspruchen – im Gegenteil mußten solche Leute meist in irgendwie lächerlicher Weise „aus der Rolle fallen“, etwa die falschen Locken verlieren, in Wassereimer fallen, ohne Rock oder Hose dastehen oder dergleichen. Dumm war nur, wer die Verkleidung vorher nicht entdeckt hatte – weshalb ich von da an alle Personen in Karnevalszügen, Clownsnummern oder ähnlich verdächtigen Situationen mit besonderem Mißtrauen in Bezug auf ihr Geschlecht betrachtete.
Doch kaum hatte ich auf diese Weise mein Bild der Welt wieder in Ordnung gebracht, als diese ganze Welt – in einem Umfang, der alle bisherigen Probleme winzig und unwichtig erscheinen ließ – um mich »zusammenbrach:

Meine Nanna verlobte sich mit einem fremden Mann. Zuerst wollte ich das überhaupt nicht glauben; denn sie hatte mir ja oft genug versprochen, daß sie später, wenn ich groß sei, mich heiraten werde. Doch dann (offenbar, als sie merkte, wie ernst ich die ganze Sache nahm) begann sie mir, von Oma unterstützt, eine Erklärung zu geben: die Regierung – so müsse ich, immerhin schon ein großer Junge, verstehen – habe angeordnet, daß Brüder ihre Schwestern nicht mehr heiraten dürften; das sei, wie eben so vieles auf der Welt, nicht mehr erlaubt. Und trotz großer Trauer darüber (die ich freilich Nanna nicht angemerkt hatte!) habe sie sich nun, da ja ein Mädchen schließlich irgendjemand heiraten müsse, entschlossen, den mir ja immerhin seit langem als sehr nett bekannten Martin zu heiraten. Ich hingegen werde sicher später auch ein sehr hübsches und liebes Mädchen zum Heiraten finden, wenn ich groß sei.

Äußerlich nahm ich diese Erklärung scheinbar mit Verständnis und Würde auf. Aber für mich allein brauchte ich lange Zeit, um all das zu verdauen: Zunächst einmal war mein ganzer, so übersichtlich und erfreulich ausgelegter Lebensplan zusammengebrochen. Statt lediglich erwachsen zu werden und dann sofort eine vertrauenswürdige, wohlbekannte Frau zur Hand zu haben, würde ich da irgendeine wildfremde Person suchen müssen – und zwar, das wurde mir mit Schrecken klar, aus den Reihen dieser albernen kleinen Mädchen, mit denen ich bisher nicht das Geringste im Sinne gehabt hatte! Die Aussichten, da etwas zu finden, was auch nur entfernt meiner Nanna gleichkam, erschienen mir ehrlich gesagt sehr düster.

Aber selbst meine Nanna hatte mich ja schwer enttäuscht. Wenn sie sich etwas mehr beeilt hätte – oder ich etwas früher erwachsen geworden wäre – hätten wir uns noch vor diesem folgenschweren Regierungsedikt heiraten können: oder war dieses Edikt überhaupt so neu? Hatte sie vielleicht schon vorher davon gewußt – und sich schon heimlich diesen Martin gesichert? Oder – noch schrecklicherer Gedanke – hatte sie diesen Martin etwa lieber als mich? Natürlich war er sehr nett, und schon erwachsen, und viel größer und stärker als ich – aber all das, und mehr, hätte ich ja später auch bieten können (er war noch nicht einmal Traktorfahrer oder sonst etwas Aufregendes, sondern arbeitete in einen Büro – wo er anscheinend nichts weiter tat, als allerhand Papier vollzuschreiben!).

Genau in diese erste Krise meines Selbstbewußtseins fiel nun die zweite: ich kam zur Schule – und dort war auch alles völlig anders, als ich mir das vorgestellt hatte.
Ich war der Meinung gewesen, daß alle anderen Jungen – gleich mir – als Hauptzweck in ihrem Leben sahen, möglichst bald erwachsen zu werden: und dementsprechend die Schule als ein höchstwillkommenes Mittel dazu begrüßen würden. In Wirklichkeit schien ich in eine wilde Horde von Dummköpfen und Grobianen geraten, die alles mögliche im Kopf hatten, nur nicht, erwachsen zu werden!

Statt die Lehrer – \wie das für mich selbstverständlich erschienen war – als erwünschte Vermittler von interessantem Wissen zu begrüßen, schienen sie vor ihnen entweder Angst zu haben, oder sie für Störenfriede zu halten. Statt die Unterrichtsstunden für wichtig und die Pausen für störende Unterbrechungen zu halten, behandelten sie die Dinge gerade umgekehrt. Und was das Schlimmste war: die Lehrer selbst schienen das für völlig in der Ordnung zu halten!

Für mein Empfinden war die Schule zwar nichts Wunderbares, aber so etwas ähnliches wie ein Zahnarzt: wenn man gesunde Zähne haben wollte, mußte man zu ihm hingehen – und er guckte sich schnell, aber gründlich die Zähne an, hakte und bohrte ein wenig (aber nur dann, wenn man etwas falsch gemacht hatte) und entließ einen wieder mit guten Ratschlägen, wie man die Zähne weiter pflegen sollte (was zwar weder angenehm noch interessant war, aber notwendig). Warum zum Teufel arbeiteten Schüler und Lehrer nicht auch so?

Ich wollte überhaupt keine Osterhasen malen – sondern schreiben und rechnen lernen, weil man das als Erwachsener können mußte. Warum brachten mir die Lehrer das nicht so schnell und gründlich wie möglich bei? Und warum interessierten sich die Mitschüler weder fürs Schreiben, noch Rechnen, noch fürs Osterhasenmalerei, sondern für Balgereien im Schulhof oder sonstiges dummes Zeug (das konnten sie doch alles machen, wenn die Schulzeit vorbei war!)?

Daß mich die anderen bald „Streber“ und „Musterschüler“ schimpften, trug ich erst noch mit Fassung – die waren halt blöd und merkten nicht, daß die einfachste Art, mit der Schule fertigzuwerden, doch sein mußte, alles Notwendige so schnell wie möglich zu lernen. Aber völlig verstört wurde ich, als mich ausgerechnet der Lehrer, den ich am meisten bewunderte, in der Pause, als ich noch in der Klasse rasch mein Pensum wiederholen wollte, ansprach und mit den Worten hinausschickte, ich solle doch auch mal so sein wie die anderen Jungen!

War denn alles, was ich mir vorgenommen hatte, verkehrt? War es denn nicht das Wichtigste, in der Schule das zu lernen, was man später als Erwachsener brauchte? Oder – noch schlimmer: war es vielleicht ein Schwindel, daß man auf diese Art erwachsen werden konnte? Hatten die Erwachsenen vielleicht vor, uns alle zusammen überhaupt nicht in ihre Welt hineinzulassen? Nahmen sie deswegen ihre Aufgabe als Lehrer so lasch – freuten sie sich deswegen, wenn die anderen alles mögliche dumme Zeug trieben, statt zu lernen – und hatte deswegen auch meine Nanna es überhaupt nicht ernst genommen, mich später zu heiraten?!

Natürlich waren diese bestürzenden Gedanken mir damals in keiner Weise etwa so klar, wie ich das heute formuliere: schließlich waren das alles ja auch emotionelle Erschütterungen für einen Sechseinhalbjährigen, die – in einer entsprechenden Situation – selbst für einen Erwachsenen gereicht hätten:
denken wir etwa zum Vergleich an einen jungen Rittersmann, der bisher – dank der Lehren von Kirche und Familie – sein künftiges Leben immer so gesehen hat: er werde nach Jerusalem ziehen, dort in Heldentaten das Heilige Grab aus den Händen der Heiden befreien, dann – siegreich zurückgekehrt – das ihm von Kindheit an versprochene Ritterfräulein ehelichen und mit ihr glücklich bis ans Ende seiner Tage leben; der nun aber, aufgebrochen, schon unterwegs von der Nachricht erreicht wird, seine Braut habe ihn wegen eines reichen alten Kaufherrn verlassen – und überdies noch, im Kreuzfahrerlager angekommen, feststellen muß, daß die Ritter dort Würfeln, Saufen und persönliche Fehden für weitaus wichtiger halten als das ganze Heilige Grab – wobei ihm Priester und Anführer nahelegen, sich möglichst genau so zu benehmen!

Man könnte sich vorstellen, daß er darauf – wenn zart besaitet -Selbstmord begeht; daß er – wenn etwas vitaler – sich erstmal sinnlos betrinkt; oder – wenn ihm dazu Gelegenheit geboten wird – in die seltsame Brüderschaft Baphomets eintritt.

Ich jedenfalls – nicht Ritter, sondern Schulbub – tat etwas, das (aus heutiger Sicht) ein wenig von allen drei Möglichkeiten enthielt, und worin ich in den folgenden Jahren eine gewisse unbewußte Routine entwickelte: ich wurde krank.

Krank zu sein, hatte ein wenig von der Selbstvernichtung, aber auch von jener Wirkung auf die Umwelt, wie der Selbstmord: man rückte plötzlich wieder sehr in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit (selbst meine Nanna saß abends wieder oft stundenlang an meinem Bett), alle benahmen sich etwas schuldbewußt und rücksichtsvoll – und man litt andererseits auch echt, weshalb man all diese Dinge guten Gewissens über sich ergehen lassen konnte.

Aber es hatte zugleich auch etwas vom Selbstvergessen, von der Bewußtseinsveränderung eines Rausches: in hohem Fieber sahen alle gewohnten Dinge auf einmal anders, fremdartig, bedrohlich, aber auch interessant aus – die Lampe, die Zimmerdecke, die Blumen auf Nannas buntem Morgenrock – und es kamen einem seltsame, manchmal beängstigende, manchmal erregende Gedanken oder Träume.

Und schließlich hatte man sehr viel Ruhe und Zeit, um ganz mit sich selbst allein Überlegungen, Tagträumereien und Gefühlen nachzuhängen. Natürlich fehlte mir damals jeglicher Schlüssel, der mich in die Mysterien der GROSSEN GÖTTIN oder die Lehren Baphomets eingeführt hätte – auch wäre es vermessen, wollte ich heute noch behaupten, ich könne wiedergeben, was mir in jenen langen Stunden des Krankenlagers alles durch den Kopf ging: aber sicher scheint mir, daß ich in jenen Tagen den Grund für alles Spätere legte.

Schwerlich kann ich damals bereits dazu in der Lage gewesen sein, etwa klar und überzeugt eine Erkenntnis zu fassen wie: alle haben Dir bis jetzt die Welt ganz anders geschildert, als sie wirklich ist – und Dich damit ganz schön in die Irre geführt! Aber wenn es nicht die Erkenntnis war, so hatte ich zumindest das eine solche Erkenntnis notwendig begleitende Gefühl; ein merkwürdiges, mit einer gewissen Art des Fieberbewußtseins einhergehendes Erlebnis, auf einmal alles Gewohnte und Vertraute, ja sogar mich selbst wie aus einer neuen Dimension, von hoch oben oder von der bisher unbekannten Rückseite aus zu sehen – beängstigend, aber auch irgendwie faszinierend in seiner Neuartigkeit und ungeahnten Freiheit!

Nun kann man sich an ein solches, vielleicht nur in einem Ausnahmezustand des Bewußtseins mögliches Erlebnis später nicht echt wieder erinnern – zumal die Idee, für die es stand, für mich damals natürlich viel zu gewaltig war: daß ich mich nämlich auf nichts und niemand in meiner bisherigen Welt verlassen dürfe, sondern sie ganz und gar neu und nur auf mich selbst gestellt begreifen und bewerten müsse!

So blieb denn auch zunächst nichts weiter zurück als eine – scheinbar kaum verknüpfte – Reihe seltsamer Denkmöglichkeiten oder Tagträume, die mich von da an immer wieder beschäftigten; abstoßend, aber auch eigentümlich aufregend:
Daß es mitten in der alltäglich vertrauten Wand eines Zimmers eine geheime Tür geben könne, von der niemand etwas wußte, die sich aber plötzlich irgendwann öffnen könne … daß ein Ort oder ein Land, von dem alle Erwachsenen wie selbstverständlich sprachen, vielleicht in Wirklichkeit gar nicht existiere, sondern nur eine von allen gemein¬sam erdachte und immer wiederholte Lüge sein möge … daß man jemand eine schöne, bunt eingewickelte Schachtel schenken könne, die gar nichts – oder etwas höchst Abscheuliches enthielte … daß ein Sofa vielleicht ein Tier sei, das tagsüber immer schlafe, aber nachts, wenn niemand im Zimmer war, anfange, umherzukrabbeln … oder daß man zu jemand besonders lieb und nett tun könne, während man ihm heimlich einen bösen Streich spiele …

Nicht etwa, daß ich nun dergleichen wirklich geglaubt oder getan hätte: im Gegenteil – zum Beispiel war ich fast ängstlich bemüht, am ersten April nur ja keinen Scherz zu machen, der jemand eine echte Enttäuschung bereitet hätte – aber es faszinierte mich, mir ungeheuerliche Möglichkeiten auszumalen, wie man jemand bei einer solchen Gelegenheit hätte verletzen oder enttäuschen können! Doch dergleichen behielt ich, sogar dem bloßen Gedanken nach, stets völlig für mich.

Wenn ich jetzt etwas baute, enthielt es ebenso meist eine geheime Einzelheit – etwa einen Baustein, der beim Herausziehen das ganze Gebäude zum Einsturz gebracht hätte, oder eine Falltür, die in ein unterirdisches Verlies führte: aber mir genügte es völlig, um diese verborgenen Möglichkeiten zu wissen – ohne daß ich nun etwa wirklich den Stein herausziehen oder die Falltür öffnen mußte …

In Geschichten oder Zeitschriften, die man mir vorlas oder die ich, in den nächsten Jahren, immer begieriger selbst zu lesen begann, fesselten mich ganz ähnliche Dinge: Geheimfächer oder geheime Gänge, Spione oder Verräter, die äußerlich etwas ganz anderes vorgaben, als sie wirklich vorhatten. Die Insel, auf der Sindbads Gefährten landeten, und die sich später als der Rücken eines gewaltigen Walfischs erwies – Detektive oder Meisterverbrecher, die ihre Umwelt durch raffinierte Maskeraden täuschten – rätselhafte Inschriften, deren Sinn niemand kannte, und versunkene Ruinenstädte, von denen keiner etwas ahnte – nicht zuletzt auch jene seltsamen Fälle, in denen sich ein schönes Mädchen als verkleideter Mann oder Junge entpuppte!

Rein äußerlich hatte übrigens meine Krankheit eine für mich durchaus erfreuliche Entwicklung gebracht: erst einmal sah es so aus, als habe ich durch die verlorene Zeit in der Schule hoffnungslos „den Anschluß verpaßt“ – und das gab den Anlaß dafür, mir von einem alten pensionierten Rektor (von dem ich heute vor allem noch weiß, daß er seltsam säuerlich aus dem Hals roch, wenn ich ihm gegenübersaß) „Nachhilfestunden“ geben zu lassen. Und die waren nun endlich das, worauf ich eigentlich ausgewesen war: staubtrocken und mühselig zwar, aber hochkonzentriert auf ABC und Einmaleins – die ich erst verbissen, dann, den Fortschritt spürend, mit immer wachsender Freude meisterte.

Anschließend schickte man mich – ich glaube, auf Empfehlung des alten Rektors – auf eine Privatschule, in deren Klassen Jungen und Mädchen zusammen unterrichtet wurden (wobei die Jungen in meiner Klasse aus irgendeinem Grund nur ein Drittel der Schüler ausmachten). Von früheren Erfahrungen her hatte man zwar halb und halb damit gerechnet, daß ich bei der Vorstellung, mit Mädchen zusammen in einer Klasse sitzen zu müssen, wieder in entrüsteten Protest ausbrechen würde: aber das war – zur gelinden Überraschung aller – überhaupt nicht so.

Sei es nun, daß sich meine Einstellung zu Mädchen überhaupt geändert hatte – oder daß ich Schulmädchen für akzeptabler hielt als früher „kleine“ Mädchen – oder auch nur, daß ich die erheblich ruhigere Atmosphäre solch einer überwiegend aus Mädchen bestehenden Klasse nach meinen unangenehmen Erfahrungen auf der Jungenschule zu schätzen wußte: jedenfalls gab es diesmal überhaupt keine Probleme – sondern sogar, nach einigen Wochen der Eingewöhnung, ganz normale Beziehungen sowohl zu den Jungen wie den Mädchen.

Die Jungen – in der Minderzahl (und überdies wohl von zuhause etwas besser erzogen als der Durchschnitt meiner früheren Mitschüler) – hielten mit einem gewissen Korpsgeist zusammen, der sich allerdings weniger auf Pausenunfug als auf den Wettstreit der Schulleistungen bezog; die Mädchen andererseits, als Masse auftretend, waren zwar unserer geschlossenen Meinung nach erheblich alberner und viel mehr auf unwichtigen Krimskrams wie Zopfspangen oder saubere Schürzchen bedacht – aber im großen und ganzen doch (für Mädchen) wenigstens Mitschüler, deren man sich als Junge nicht gerade zu schämen brauchte.

Anfangs hatte ich zwar zuweilen einen ziemlich hilflosen Zorn auf sie, wenn einige von ihnen sich ausgesprochen unfair benahmen (was soll man denn machen, wenn einen jemand dauernd an den Haaren zerrt und sich dann, wenn man wiederzerren will, auf die Position „Pfui, du ziehst ein Mädchen an den Haaren!“ zurückzieht?) – aber als mich die Lehrerin, auf meinen tränenvollen Protest über solche Ungerechtigkeit, kurz dahin beschied, Jungen heulten über so etwas nicht, sondern ertrügen es im Bewußtsein ihrer sonstigen Überlegenheit still, akzeptierte ich diese Spielregeln schließlich auch.

Im Laufe der Zeit gewann ich sogar einige echte Bewundrerinnen unter meinen Mitschülerinnen, weil ich – aus meiner ohnehin reichen und durch Verschlingen aller möglichen Bücher genährten Phantasie – in Schulpausen oder bei gelegentlichen Einladungen die abenteuerlichsten Handlungen in Gang setzen konnte: etwa, eine Herde zitternder Millionenerbinnen aus den Fängen imaginärer Gangster zu retten, wobei man sich wunderbar atemlos durch Hecken oder auch nur durch ein – angeblich von drei Maschinengewehren überwachtes – Wohnzimmer schleichen mußte, oder Blaubarts Gattinnen vor ihrem grausigen Schicksal zu bewahren (wobei ich, wenn ich das recht in Erinnerung habe, ein edler Tempelritter war, der den Henker erschlagen hatte und jetzt unter dessen schützender Kapuze – einem mit Sicherheitsnadeln zusammengesteckten roten Kopftuch – im Hause des Ungeheuers herumoperierte).

Wie diese Beispiele schon zeigen, spielte ich zwar gern mit Mädchen – aber wohl mehr aus dem doppelten Grunde, weil sie viel williger und mit mehr Talent meinen phantasievollen Anregungen folgten und zudem meist viel besser in die Handlung paßten (schließlich hatte Blaubart sieben Frauen, während sieben Jungen mit einigermaßen befriedigenden Rollen zu versehen kaum selbst bei Schulaufführungen gelang!); ich persönlich bevorzugte jedoch immer die Rolle eines – wenn möglich geheimnisvolle und komplizierte Listen benutzenden – Helfers und Retters, gelegentlich teilnehmenden anderen Jungen großzügig die Parts edler Prinzen und Helden überlassend, sofern ich. nur der rätselhafte Alte vom Berge oder der listenreiche Odysseus sein konnte. Daß meine Spiele umgekehrt bei den Mädchen beliebt waren, lag wohl nicht zuletzt daran, daß sie selten so „schöne Rollen“ fanden wie bei mir: ich hatte nicht nur nichts dagegen, wenn sich die furchtzitternden Millionenerbinnen über ihre perlenbestickten Roben, Nerze und Brillanten zuhause unterhielten oder Prinzessinnen einander in Blaubarts Verlies heroisch die Haare kämmten – sondern verlangte solche ultrafemininen Details geradezu kategorisch von meinen Mitspielerinnen!

Wenn irgendjemand dabei auf die Idee kam, im Spiel sein Geschlecht zu wechseln, war es häufiger eine der temperamentvolleren Darstellerinnen, die zum jungen Prinzen oder Knappen avancieren wollte, weil es dabei mehr zu schleichen oder zu befreien gab (wobei ich ihnen allerdings grundsätzlich anheimstellte, daß sie heldenhafte Mädchen sein könnten, die sich nur als Jünglinge verkleidet hätten). Eigentlich kann ich mich nur an einen Fall erinnern, in dem ich auch den Mantel eines der Mädchen anzog – und zwar, um irgendwelche bösen Gangster darüber hinwegzutäuschen, daß die echte Erbin (oder Tochter des großen Erfinders, oder was immer damals gerade die verfolgte Heldin war) bereits längst aus dem Gefängnis entwichen sei. Meine Partnerin nahm allerdings diese Idee ungeheuer ernst und gründlich und half mir nicht nur in ihren hübschen pelzbesetzten Mantel, sondern band mir auch noch ein Kopftuch um, zupfte mir verschiedene Haare als Locken in die Stirn und schmierte mir sogar – in einem kühnen Versuch des make-up – den Mund mit den Lippenstift ihrer großen Schwester knallrot.
Das selbige Schwester ausgerechnet in diesem Augenblick dazukam, .mich erst überhaupt nicht erkannte und dann höchst amüsiert feststellte, „der Bub gäbe ja ein hübscheres Mädchen ab als Du!“ machte zwar meiner Helferin größtes Vergnügen – veranlaßte mich aber, sie mit finsteren Schwüren zu ewigem Schweigen über diese Episode zu verpflichten, die (wie ich wohl nicht zu Unrecht annahm) dem Image des Grünen Mönchs – oder welch anderer geheimnisvoller Retter verfolgter Unschuldiger ich dabei gerade war – nicht bei allen anderen Mitspielern förderlich gewesen wäre.

Tatsache blieb nämlich, daß ich – trotz all meiner abenteuerlichen Ideen – körperlich nicht gerade den idealen Helden abgab: ich war blaß und schmächtig, hatte recht kleine, zarte Hände und Füße und machte in der Schule nicht einmal bei allen Turnstunden mit, weil der Arzt allerlei Knochen- oder Muskelschwächen an mir entdeckt hatte. Bei kritischeren Rettungssituationen in meinen „Schauspielen“ wußte ich allerdings solche Dinge geschickt zu kaschieren, indem ich etwa – aus lauter Rücksicht auf die zu rettenden zarten Mädchen – ebenfalls den weniger strapaziösen Weg über eine Mauer oder durch ein Gebüsch wählte oder überhaupt zurückblieb, „um die Verfolger aufzuhalten“. Da die Bösewichte in allen meinen Kompositionen imaginär waren (was übrigens niemand störte, wenn er anstattdessen eine schöne Rolle unter den „Guten“ bekam!), hatten solche heldenhaften Entschlüsse wenig reales Risiko!

Kritisch betrachtet, ging es wohl weniger darum, daß ich eigentlich Angst vor einer echten Balgerei gehabt hätte – aber solche. Dinge, deren Ausgang immer unsicher schien, paßten einfach nicht in meine künstlerische Konzeption: wenn der Graue Schatten laut Drehbuch die drei Verfolger niederzuschlagen hat, ist es nicht zweckmäßig, daß er sich wirklich mit ihnen herumprügelt und dabei möglicherweise selbst niedergeschlagen wird – und ehe man drei Mitspielern zumuten konnte, bloß so zu tun, als würden sie niedergeschlagen, ersetzte man sie doch lieber durch irreale Gestalten, die sich jeder selbst vorstellen mochte!
Zumindest bei den Eltern meiner Mitspieler fand dieses Prinzip, das wirkungsvoll blaue Augen, aufgeschlagene Knie und blutende Nasen vermied, großen Beifall – und wer überhaupt zu den Mitspielern zählte, hatte (das nahm ich als selbstverständlich) an meiner Regie nichts auszusetzen.

Dennoch schien mir die ganze Sache mit dem Mädchenmantel peinlich und etwas beschämend – hätte sie doch geradezu betont die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, daß ich wahrscheinlich wirklich ein hübscheres Mädchen geworden wäre als manche meiner Spielgefährtinnen! Das war nun ein Gedanke, der mir an sich gar nicht unangenehm war – man konnte sich da sogar neuen Gedankenspielen und Tagträumen hingeben, wie es eigentlich wäre, ein Mädchen statt eines Jungen zu sein! – aber zugleich ein so intimer und bestürzender Gedanke, daß ich ihn für mich allein haben wollte: und nicht als allgemeines Gesprächsthema für die ganze Runde!

Immerhin gab es da ja eine ganze Reihe von Helden in meinen Büchern, die sich bei der einen oder anderen Gelegenheit – mehr oder minder erfolgreich – als Mädchen verkleidet hatten: von Huckleberry Finn angefangen bis zum Detektiv Nobody, der allerdings ohnehin ein Meister der Maskeraden aller Art war. Andererseits jedoch hatte gerade diese Art der Maskerade etwas ganz Besonderes – gleichsam Grundsätzliches und damit auch Unheimliches, fast Unrechtes; aber gerade damit rührte sie wieder das alte, fast vergessene Thema der ganz unerhörten Täuschung, des völligen Umsturzes der ganzen Weltordnung an…

Irgendwie war mir inzwischen zwar schon längst klargeworden, daß es mit dem Unterschied zwischen Mann und Frau noch mehr auf sich haben mußte als das bloße Tragen von Hosen oder Röcken. Aber das änderte nichts daran, daß man zunächst einmal das Geschlecht nach der Kleidung beurteilte – und daß man andere, wenn die Voraussetzungen dafür einigermaßen günstig waren, dadurch leicht und gründlich täuschen konnte: wenn man zum Beispiel einem Jungen von Kind auf Mädchenkleider angezogen hätte, dann würden ihn doch alle für ein Mädchen halten – vielleicht würde er sogar selbst denken, er sei ein Mädchen?

Das eröffnete nun wieder ganz unfaßbare Perspektiven: wußte ich denn eigentlich, ob alle die Mädchen, die ich da in der Schule kannte, überhaupt wirklich Mädchen waren – oder alle Frauen, die da auf der Straße in Röcken herumliefen, wirklich Frauen? Immerhin gab es ja unter diesen Mädchen welche, die geradezu kräftiger, grobknochiger und jungenhafter waren als ich selbst! Andererseits besagte das aber gar nichts: denn offensichtlich konnte auch ein Junge in Mädchenkleidern sogar hübscher aussehen als ein wirkliches Mädchen!

Schließlich kam ich an den Punkt, an dem ich ernsthaft überlegte, wieso ich eigentlich so sicher war, selbst wirklich ein Junge zu sein -denn das ganze Argument stimmte ja umgekehrt genau so für ein Mädchen, das man von Kind auf in Jungenkleidung aufgezogen hätte! Zwar erschien mir so ein Gedanke zu unwahrscheinlich, als daß ich je mit jemand anders darüber gesprochen hätte – aber hatte ich nicht andererseits schon einmal ernsthaft die Idee erwogen, daß alle Erwachsenen, wenn sie sich nur einig wären, einem Kind völlig das Gegenteil von dem einreden könnten, was wirklich der Fall war?

Zumindest als Gedankenspiel konnte man sich abends vor dem Einschlafen – mit dem ganzen Leib gegen eine warme Gummiwärmflasche gekuschelt – doch einmal ausmalen, was es bedeuten würde, wenn ich eines Tages feststellen müßte, ich sei in Wirklichkeit ein Mädchen: vielleicht eine jener unermeßlich reichen Erbinnen, die ein verbrecherischer Anwalt in jungen Jahren beiseitegeschafft und in der Fremde unter falschem Namen als Knaben hatte aufziehen lassen? Wie es wäre, wenn eines Tages der scharfsinnige Detektiv oder geistesabwesende Professor, der diese teuflischen Machenschaften durchschaut hatte, auftauchen und mich in meine alten Rechte einsetzen würde – in all jene perlbestickten Roben, Pelze und Brillantkolliers, die ich den Heldinnen meiner Schauspiele so großzügig gönnte?

Es war nicht zu leugnen, daß dergleichen in vieler Beziehung reizvoll gewesen wäre: Hübsch genug hätte ich – das hatte man mir ja schon bestätigt – als Mädchen dann gewiß ausgesehen. Von Luxus und Reichtum umgeben wäre ich auch – und daß Damenkleider und zarte Spitzenwäsche niedlicher und wahrscheinlich auch angenehmer auf dem Körper zu tragen waren, als Männerkleider, konnte nur ein Narr bezweifeln. Zudem – der Gedanke kam mir erst jetzt – gäbe es ja wohl schwerlich eine vollendetere Rache an meiner verräterischen Nanna, als ihr plötzlich zu zeigen, daß ich in Wirklichkeit eine tausendmal schönere und elegantere Frau war als sie : eine, nach der sich ihr Martin noch die Augen ausgucken würde!

Damit allerdings geriet ich in eine Abteilung des ganzen Gedankenspiels, in der ich erheblich unsicherer war: ganz offensichtlich würden mir dann Männer in Scharen zu Füßen liegen – weil sie das grundsätzlich bei jeder schönen reichen Erbin taten. Nur war ich mir völlig im unklaren darüber, was ich mit diesen Scharen von Männern anfangen sollte! Irgendeinen davon zu heiraten – und darin wie die Nanna zuhause zu sitzen und Strümpfe zu stopfen oder Kinder zu kriegen, während er in der Welt herumfuhr und interessante Dinge tat, schien mir wahrhaftig wenig Reiz zu haben; wollte ich aber selbst in der Welt herumfahren und meinerseits interessante Dinge tun, dann brauchte ich dazu schwerlich auch noch einen Mann?

Immerhin, überlegte ich, könnte es ja sein, daß sich zum Beispiel der scharfsinnige Detektiv, dem ich meine Rettung verdankte, in Liebe zu mir verzehrte – dann war es offensichtlich nur fair, ihn auch zu heiraten (und vielleicht später mit ihm gemeinsam aufregende Dinge zu tun – ich hatte nie gelesen, daß etwa Patrizia Holm in Charteris’ Romanen Simon Templar, dem “Heiligen”, Strümpfe gestopft oder gar Kinder zur Welt gebracht hätte! Allerdings – wenn ich es recht überlegte – war sie auch gar nicht richtig mit ihm verheiratet, sondern nur einfach da – vielleicht verlobt?) In mancher Beziehung könnte es – mußte ich zugeben – recht angenehm zu sein, jemand zur Seite zu haben, der wirklich mit bloßen Händen drei Verfolger niederschlagen konnte!

Nur sprach natürlich die überwältigende Wahrscheinlichkeit dagegen, daß ich ein verkleidetes Mädchen – oder gar eine vermißte Millionenerbin war. Wenn ich erst einmal (und in irgendeinem Buch mußte das ja schließlich einmal eindeutig stehen) den exakten Unterschied zwischen Jungen und Mädchen festzustellen gelernt hatte, würde ich diese Frage ja eindeutig entscheiden können: und – eine Million zu eins! – zu dem Ergebnis gelangen, daß ich eben, wie seit jeher behauptet, ein Junge war.

Dennoch blieb der ganze Gedanke zu aufregend, um ihn wegen eines solchen störenden Details einfach völlig aufzugeben: schließlich könnte ich ja auch ein großer Hochstapler oder Verbrecher werden und einfach so tun, als sei ich eine schöne Millionenerbin? Das würde eine ganze Menge der bisherigen Vorteile erhalten – und sogar das ohnehin etwas unklare Problem, was ich mit den Scharen von Verehrern anfangen sollte, erledigen: die würde ich eben nach Strich und Faden an der Nase herumführen – eine jener grandiosen Täuschungen und Lügen, bei denen mir stets ein Schauer der Faszination über den Rücken lief! – und (das schloß übrigens den Kreis) ihnen all das Geld abnehmen, das ich für meine Rolle als reiche elegante Erbin benötigte! Sogar den Martin könnte ich – in meiner hinreißenden Schönheit und Eleganz – der Nanna ausspannen: nur um vor ihm dann höhnisch die Perücke vom Kopf zu reißen und ihm zuzurufen: Nun sieh, wem Du Dein Herz geschenkt hast – ich bin es, der schnöde verschmähte Rivale!

Das alles war so schön und aufregend, daß demgegenüber selbst die Schauspiele für meinen Harem von Ersatz-Nannas an Reiz verloren – andererseits so beruhigend irreal und unwahrscheinlich, daß man sich solchen Phantasien mit voller Begeisterung hingeben konnte ( schließlich hatte ich vor Professor Moriarty, trotz all seiner teuflisches Tücke naturgemäß weniger Angst als vor einem unbekannten knurrenden Hofhund in der Nachbarschaft!) – und so baute ich diese Phantasie geraume Zeit über mit besonderer Liebe aus:

Zunächst einmal – empfand ich – mußte der berechtigten Rache, wie beim Grafen von Monte Christo, jetzt ein entsprechendes Maß uneigennützigen Edelmuts folgen; der etwa darin liegen könnte, meine unvergleichlichen Fähigkeiten der Verkleidung in den Dienst der Spionage zu stellen – als geheimnisvolle Dame in Schwarz, die aus Panzerschränken und Geheimlaboratorien die gehütetsten Dokumente wie durch Zauberei verschwinden ließ? Aber das war immer noch – wenn auch schon unpersönlicher – bei weitem nicht edel genug: da mußte noch Gewaltigeres geschehen. Wie etwa, wenn Dr. Nemo, das rätselhafte Genie des Verbrechens, die Todesstrahlen entdeckt und mit ihnen die gesamte Menschheit bedroht hätte – fordernd, daß man ihm die zehn schönsten Frauen der Welt umgehend ausliefern müsse? Und wenn ich mich – das paßte nun wieder hübsch in das Schema der zitternden Erbinnen – natürlich in aufreizendster Robe unter sie gemischt hätte?

Um dann – jetzt lief alles in mir auf vollen Touren – bestürzt zu entdecken, daß der unheimliche Nemo a) in Wirklichkeit ein verkannter Wohltäter höchsten Edelmuts und b) in flammender Liebe zu mir (bzw. zu der schönsten Frau der Welt, für die er mich hielt) entbrannt sei ? Welche Möglichkeit, vor Scham und gräßlicher Vergeltung für meine bisherigen Missetaten innerlich zu vergehen, während ich ein liebreizendes Lächeln auf den roten Lippen tragen mußte!? Und welche Chance, als einzige Lösung mitten in seine – gerade mir zu Ehren eingeschalteten – Todesstrahlen zu hupfen, damit mein Körper zu hauchfeiner Asche verging, ehe er je mein wahres Geschlecht entdecken konnte – worauf Nemo wiederum, zutiefst erschüttert, den Todesstrahler vernichtet und nur noch dem Dienst an der Menschheit gelebt hätte!

An diesem Punkt angelangt, war ich so gerührt, daß mir die blanken Tränen über die Wangen aufs Kopfkissen liefen – aber auch so erbaut, daß ich tagelang wie auf Wolken durch die Welt ging und ungewöhnlich schlechte Schulzensuren nach Hause brachte ( aber wie kann sich auch jemand, der gerade die Welt vor dem Untergang gerettet hat, auf den Unterschied zwischen scharfem S und Doppel-S konzentrieren?).

Natürlich erreicht alles einmal seinen Höhepunkt – und überschreitet ihn dann. Dieses Schicksal blieb auch der Kreuzung aus Mata Hari, der Jungfrau von Orleans und Charleys Tante nicht erspart, die ich in jenen Wochen und Monaten erschaffen hatte – da schob sich Dr. Nemo (nebst dem gräßlichen Unrecht, das ihn zum Feind, aller Menschen gemacht hatte) in den Vordergrund, der statt Abendroben und Lockenperücken fast genau so aufregende Retorten und Atomzertrümmerungsgeräte zu bieten hatte – sowie, denn ich lebte ja immerhin auch noch in der wirklichen Welt, die Tatsache, daß ich demnächst auf eine andere, die höhere Schule übergehen würde.

Doch war es nicht diese Tatsache an sich, die für mein späteres Leben die größte Bedeutung gewinnen sollte – sondern ein zunächst nur lose damit verknüpftes, weitaus triviales Ereignis: davon ausgehend, daß ich als „Realschüler“ doch wohl einen eindrucksvolleren Platz für die häuslichen Schulaufgaben brauchen werde als bisher, ließ „Oma“ – durch zwei gewaltige, eigens herbeibeorderte Möbelpacker – einen alten Schreibtisch, der wohl noch meinem Vater gehört hatte, vom Boden herunter in mein Zimmer bringen, das er fast zu einem Drittel ausfüllte.

Dies allein fand ich nun – verständlicherweise – bereits hochinteressant und aufregend; aber es verblaßte schlagartig gegenüber der noch weit erregenderen Entdeckung, daß dieser Schreibtisch nicht leer, sondern in seinen riesigen, tiefen Seitenfächern – kein Wunder, daß er zwei Möbelträger ins Schwitzen gebracht hatte – bis oben hin mit alten Büchern, Ordnern und Manuskripten vollgestopft war!

Rückschauend betrachtet, war es von großer Bedeutung, daß ich diese Entdeckung zunächst einmal allein machte, wie ich nichts weiter tun als die Schlüssel zu den Seitentüren ausprobieren wollte; als ich sie öffnete, fielen mir geradezu Haufen von Büchern und Manuskripten entgegen – und ich hätte nicht die Leseratte sein dürfen, zu der ich mich entwickelt hatte, wenn ich nicht sofort angefangen hätte, diese unerwarteten Schätze zu durchmustern.

Da waren erst einmal unerhört viele, dickleibige und dünne Bücher – anscheinend freilich, wie ich bald feststellte, zum Teil in fremden Sprachen oder mit wissenschaftlichen Titeln, die für mich damals fast genau so unleserlich waren: „Psychopathia Sexualis“ oder „Vektoranalysis“ oder „Das Phänomen der ästhetischen Inversion und seine Beziehung zum Kult der Magna Mater“ – andere, unter denen ich mir zwar eher etwas vorstellen konnte, wie „Höhere Mathematik“, „Vorlesungen über theoretische Physik“ oder „Anorganische Chemie“, die sich aber durch das, was ich schon von ihnen verstand, recht deutlich als etwas auswiesen, was ich eben noch nicht verstand – aber auch so verheißungsvolle wie „Chemische Experimente, die gelingen“ oder „Zauberkarten und Kartenzauber“!
Noch mehr aber fesselte mich, was hinter dieser ersten Bücherreihe zum Vorschein kam: nämlich ein ganzer Stoß von Ordnern, die säuberliche, wenn auch etwas vergilbte Aufklebeschildchen trugen wie „Eigene Arbeiten / Manuskripte – Marius Gramer“, „Notizen zum Anima-Problem – Marius Gramer“, „Beiträge für Jugendbücher – Marius Gramer“ – denn Marius Gramer war, das wußte ich aus mancherlei Papieren, die man letzthin für meine Schulanmeldung ausgefüllt hatte, war der Name meines verstorbenen Vaters!

Auf einmal war dieser alte Schreibtisch, dieser staubig-strengriechende Haufen von alten Büchern und Papieren nicht nur ein abenteuerlicher Fund, wie er in Geschichten vorkam: sondern er ging mich ganz persönlich an – war eine Brücke zu meiner Vergangenheit, zu der bisher so völlig schattenhaften Figur meines eigenen Vaters!

Und womit hatte er sich alles befaßt: schon der erste Titel in dem Ordner „Beiträge für Jugendbücher“, den ich naturgemäß als erstes aufschlug, versprach nichts Geringeres als Aufklärung über „Geheimschriften – und wie man sie entziffert“!

Der Titel allein hätte schon genügt, um mich sofort mit Lesen anfangen zu lassen – aber nun gar die ersten Sätze: „Sicher habt Ihr Euch schon einmal gefragt, wie es Spione oder Detektive eigentlich fertigbringen, Nachrichten zu entziffern, die in einer Geheimschrift abgefaßt sind – obwohl sie den Schlüssel dazu gar nicht kennen … „!

Hatte ich mich das schon gefragt?! Einen Augenblick war es mir, als habe mein Vater mir beim Lesen all dieser Schmöker über die Schulter geschaut!

Und wenn es mir auch in diesem Augenblick nicht zum Bewußtsein kam – dazu war ich viel zu gespannt darauf, wie das Manuskript weitergehen würde! – spürte ich doch ganz tief drinnen etwas wie eine große Sehnsucht, einen bisher ungekannten Schmerz, eine Frage: wie wäre es wohl gewesen, wenn dieser unbekannte Vater wirklich hinter mir gestanden, mir über den Kopf gestrichen und mich dann mit in sein Studierzimmer genommen hätte, um mir – mir ganz persönlich und nicht irgendwelchen unbekannten Lesern – all solch aufregende Sachen zu erklären?
Denn erklären konnte er solche Dinge wunderbar: nicht von oben herab mit einem Unterton von „aber wie man’s wirklich macht, versteht Ihr ja doch nicht“ – sondern klar und gründlich, mit Beispielen, die Schritt für Schritt entschlüsselt wurden – und dann (er mußte sich wirklich in der Seele seiner Leser ausgekannt haben!) gab er nicht nur genaue Tabellen über die häufigsten Buchstaben, Doppel- und Dreifachbuchstaben: sondern auch noch ein Dutzend verlockend in Buchstaben, Ziffern und Symbolen geschriebene Beispiele, an denen man sich selbst in der Kunst des Dechiffrierens versuchen konnte!

Ich saß mit hochrotem Kopf , vergaß über dem Lesen Zeit und Raum – und fuhr fast erschrocken zusammen, als „Omi“ ins Zimmer kam, um mich zum Essen zu holen, nachdem ich alle Rufe dazu völlig überhört hatte!

Doch seltsamerweise schien sie fast genau so erschrocken zu sein, als sie die alten Bücher und Papiere sah. Ungeachtet meiner Proteste erklärte sie nicht nur, daß ich jetzt sofort zum Essen kommen] müsse – sondern auch, daß ich den ganzen Inhalt des Schreibtisches nicht mehr anrühren dürfe, ehe sie selbst ihn Stück für Stück durchgesehen habe!

Das empfand ich nun als eine so abscheuliche Ungerechtigkeit, daß ich – obwohl ich sonst eigentlich aufs Wort alles tat, was Omi von mir verlangte – diesmal heimlich einen kleinen Stoß, der hinter dem Hauptberg der Bücher lag und den ich noch gar nicht durchgeschaut hatte, mit einem geschickten Fußtritt bis weit hinten unter mein Bett beförderte, ohne daß sie es bemerkte.

Das ganze Essen über hatte ich natürlich kaum Appetit – und schließlich erweichte meine offensichtliche Betretenheit Omi doch soweit, daß sie mir großzügig den Ordner mit den „Beiträgen für Jugendbücher“ überließ, während sie den ganzen übrigen Schreibtischinhalt mit Beschlag belegte – teils mitnahm, teils wieder einschloß, um den Rest am anderen Tag in ihr Zimmer herunterzuholen.

Den meisten Erwachsenen wäre es nur zu natürlich erschienen, daß man eine Sammlung, die immerhin solch ausgefallene Bücher wie Krafft-Ebings „Psychopathia Sexualis“ enthielt, vorsichtshalber erst einmal durchsehen wollte, ehe man sie der Lesewut eines Zehnjährigen überließ. Ich aber war damals keineswegs erwachsen, hatte keineswegs einen Begriff davon, daß es „verbotene Bücher“ geben könne – bis jetzt hatte ich alles gelesen und lesen dürfen, was es im Hause Gedrucktes gab – und nicht zuletzt steckte in mir noch immer, zwar verborgen, aber leicht wieder erweckt das abgrundtiefe Mißtrauen, daß man mir ganz wichtige Dinge falsch schildern oder überhaupt vorenthalten könne …

Gab es, überlegte ich, da um die Bücher oder Aufzeichnungen meines Vaters irgendein dunkles Geheimnis? Etwas, das niemand – oder zumindest ich nicht – erfahren sollte? Etwa gar etwas, das – hier kam nun wieder ein Stückchen der Millionenerbinnen-Phantasie zum Tragen – mich selbst, meine Abstammung oder vielleicht selbst mein. Geschlecht betraf? Ich weiß selbst nicht mehr recht, was ich mir darunter vorstellte (eine Tagebuchnotiz „Heute gemeinsam mit Mutter und dem Doktor festgelegt, daß er ein Junge sein soll“ oder dergleichen?) – aber so sehr ich mich einerseits schämte, die Bücher unter dem Bett Omi unterschlagen zu haben (es gab zwar eine Menge von Dingen, von denen sie nichts wußte – wie etwa meine vielen interessanten Tagträume – aber kaum etwas, das ich bisher entgegen einem ausdrücklichen Gebot vor ihr geheimgehalten hätte!) – so prickelnd und aufregend war es andererseits, in meinem Besitz irgendwelche „geheimen Papiere” zu wissen, die ich eigentlich nicht lesen sollte!

Das Gefühl, hier – wie ein echter Spion oder Geheimkurier – im Besitz „heißen Materials“ zu sein, ließ mich instinktiv mit erstaunlicher Raffinesse all das tun, was solche Leute in meinen Geschichten taten: ich stürzte mich, allein, nicht etwa sofort unters Bett – sondern setzte mich brav an meinen neuen Schreib¬tisch, um weiter in dem Jugendbuch-Ordner zu blättern (obwohl ich zwar die interessanten Titel und Themen der anderen Manuskripte wahrnahm, aber viel zu aufgeregt war, um mich auf eines davon zu konzentrieren!), aß besonders viel und brav zu abend, maulte wie üblich, daß ich noch nicht so früh ins Bett wolle, und ließ mich nur mit viel Zureden auf mein Zimmer schicken. Dort löschte ich bald das Licht und lauschte im Dunkel, bis ich sicher war, daß die Omi und alle anderen im Hause zu Bett gegangen waren und schliefen. Das brauchte zwar Stunden, aber ich war so aufgeregt, daß ich keine Gefahr lief, während des Wartens etwa selbst einzuschlafen…

Dann, mitten in der Nacht, hängte ich sorgfältig meine Hose über die Bettlampe, so daß nur ein kleiner Spalt licht auf mein Kopfkissen fallen ließ – stieg dann auf Zehenspitzen aus dem Bett und versuchte, geräuschlos den Stoß aus der hintersten Ecke hervorzuangeln. Dann hockte ich mich im Nachthemd auf die Bettkante, um endlich meinen Schatz zu studieren.

Auf den ersten Blick war ich herzlich enttäuscht: das waren weder Tagebücher, noch geheimnisvolle Familienchroniken oder versiegelte Briefe – sondern lediglich ein aus dem Einband gerissenes, vergilbtes und eselsohriges Wörterbuch, ein anderes, etwas besser erhaltenes Buch „Lehrgang der Porträtphotographie“ und, für mich damals ein Höhepunkt der Langweiligkeit, ein Foto-Album mit irgendwelchen Bildern. Einen Augenblick lang schlug mein Herz wieder schneller, als aus dem Fotolehrbuch ein kleines Heftchen aus kariertem Papier fiel, das handschriftliche Aufzeichnungen trug – aber dann sah ich, daß das nur so unverständliche und technische Notizen waren wie: „Außenaufnahmen: ab ca. 7:00 Uhr bis 11:00 Uhr. Achtung: gut nur bei Sonnenschein! Das Licht ist ab 13:00 Uhr am besten! make-up: Plan 3. Bei zu langer Dauer: Stirnfalten zeichnen sich ab, mit Basic nachschminken! wenn Schwitzen: Tropfen ganz vorsichtig abtupfen (Tuch), nachpudern immer wenns glänzt!“ und ähnliches – schwerlich geeignet, mir besondere Geheimnisse zu enthüllen.

Dennoch interessierte mich nun, was oder wen man da eigentlich mit soviel Umständen aufgenommen hatte: Die erste Seite des Albums trug nur die wenig aufschlußreichen Buchstaben „M.A.“. Aber als« ich dann umblätterte, hatte ich plötzlich das Gefühl, daß ich doch einer Art Geheimnis auf die Spur gekommen war: denn die schlanke dunkelhaarige Frau, die da in einem eleganten langen Kleid photographiert war, kam mir irgendwie bekannt, vertraut vor.

Ich hatte zwar kaum eine Erinnerung an meine Mutter – aber jetzt, als ich dieses Bild vor mir sah, schien es mir so, als habe ich all die Jahre in mir eine Szene herumgetragen, in der diese Frau eine Rolle spielte: eine schlanke, dunkle Gestalt in einem langen, raschelnden Kleid, die an mein Bett getreten war und mir mit der glatten, wunderbar duftenden Hand zärtlich über die Wange gestrichen hatte – und dann eine unterdrückte, ärgerliche Stimme, die irgendetwas gerufen hatte – „wenn der Junge Dich nun sieht!” oder “wenn der Junge Dich so sieht!“ – und dann hatte sie rasch, wie erschrocken, sich aufgerichtet und war mit raschen Schritten und raschelndem Kleid verschwunden – und ich hatte mich rasch tief ins mein Kissen gekuschelt und die Augen ganz fest zugekniffen, weil man doch mit der schönen lieben Frau geschimpft hätte, wenn man gemerkt hätte, daß ich wirklich wachgewesen und sie gesehen hatte – und ich nicht wollte, daß jemand mit dieser lieben schönen Frau mit ihren zärtlichen Händen schimpfte …

Aber warum sollte eigentlich ein Junge – selbst wenn er sehr klein war und schon im Bettchen lag – seine Mutter nicht sehen? Da war doch auch wieder irgendein Geheimnis, das in die rätselhafte Welt der Erwachsenen gehörte – oder hatte ich das damals falsch verstanden, und war es die Frau gewesen, die mit diesen Worten jemand anders gehindert hatte, ins Zimmer zu treten – vielleicht weil sie fürchtete, er werde mich aufwecken, oder weil er vielleicht gar so aussah, daß das einem kleinen Jungen einen Schrecken eingejagt hätte? Denn die Stimme – aber wer wollte das aus einer so vagen Erinnerung noch entscheiden! – hatte zwar unterdrückt, aber doch mehr wie eine Frauenstimme geklungen…

Ich schüttelte den Kopf: seltsam genug, daß ich mich überhaupt nur an diese eine Szene erinnerte – vielleicht, weil ich damals ein wenig erschrocken gewesen war? Aber jetzt hatte ich ja ein ganzes Fotoalbum, um diese Erinnerung wieder aufzufrischen!

Nachdenklich, Bild für Bild studierend, blätterte ich Seite um Seite um: ja, das war gewiß immer wieder dieselbe schöne dunkelhaarige Frau – manchmal zwar im Kleid, manchmal im Mantel (auf einigen Bildern sogar, im Sessel oder malerisch auf ein Sofa hingegossen, in eleganter Unterwäsche) – mit gelegentlich etwas veränderter Frisur, als seien die Aufnahmen über eine längere Zeit hinweg entstanden – aber fast immer allein, nur auf einem Bild, gegen eine Fenstersäule gelehnt, in anscheinend lebhaftem Gespräch mit einem schlanken dunkelhaarigen Mann.

War das mein Vater? Erst jetzt kam mir zum Bewußtsein, daß ich in meinem ganzen Leben noch keine Fotos meiner Eltern gesehen hatte – obwohl es doch zu den beliebten (und für mich stets endlos langweiligen) Beschäftigungen bei Familienbesuchen gehörte, sich Albums mit Bildern irgendwelcher Onkel oder Tanten, Neffen, Nichten oder Cousinen zu zeigen; warum eigentlich nie von meinen Eltern? Gab es da keine Bilder – oder wollte man sie mir nicht zeigen?
Einen Augenblick spielte ich mit dem schrecklich-romantischen Gedanken, daß mein Vater vielleicht ein gräßliches Ungeheuer – eine Art Quasimodo?! – gewesen sein könnte, das ich noch nicht einmal als Kind erblicken durfte: der nur in einem verborgenen Zimmer, den Blicken aller Menschen entzogen, seine aufregenden Manuskripte geschrieben hatte – und über den man jetzt den Mantel des Vergessens breitete. Die schöne Frau an seiner Seite – meine Mutter – hätte ihn dann trotzdem unsterblich geliebt, wegen seiner unermesslichen Weisheit und Güte – und er hätte sie in seiner Bewunderung für ihre makellose Schönheit immer wieder fotografiert …

Aber so reizvoll das in einem Buch gewesen wäre – so unwahrscheinlich schien es mir doch, auf meine eigenen Eltern bezogen. Etwa genau so unwahrscheinlich wie die Sache mit der verschleppten Millionenerbin.

Dies brachte mich nun wieder auf das andere Buch zurück: „Klinisches Wörterbuch, von Willibald Pschyrembel, Dr. med. Dr. phil., Oberarzt am Städtischen Krankenhaus Berlin-Neukölln“ – das war offensichtlich ein Buch für Ärzte oder Leute, die Medizin studieren wollten: und darin müßte ja doch etwas über den Unterschied von Jungen und Mädchen stehen!

Es war immerhin ein Zeichen für meine schon damals nicht geringe Belesenheit, daß ich als erstes unter „G“ – für „Geschlecht“ -nachschaute, statt so unwissenschaftliche Stichworte wie „Mädchen“ oder „Junge“ überhaupt erst zu suchen. Leider wurde ich dafür nicht gerade durch eine besonders verständliche Auskunft belohnt – denn da stand unter
“Geschlechtsbestimmung, -Vererbung: die Geschlechtsverschiedenheit ist durch d. Zusammensetzg. der Erbmasse (idioplasma) bedingt. Bei den Säugetieren gibt es nur einerlei Ei-, aber zweierlei Samenzellen. Die Geschlechtsanläge (paarig wie je¬de Erbanlage) des weibl. Säugetiers ist also reinanlagig (homozygot), d.h. die Paarlinge sind gleich, die Geschlechtsan-lage des männl. Säugetiers ist mischanlagig (heterozygot),die Paarlinge sind ungleich. Es gibt also e. gleich große Zahl v. männl. bestimmten u. weibl, bestimmten männl. Samenzellen. Das Geschlecht ist durch d. Verschiedenheit d. Samenzellen in Erbanlagebestand des Mannes vorbereitet u. wird im Augenblick d. Vereinigung einer d. Samenzellen mit e. Eizelle (Befruchtung) bestimmt.”

Nachdem ich das zum dritten Male durchgelesen hatte, war ich so verwirrt wie zuvor; klar schien zwar zu sein, daß man sein Geschlecht vererbt bekam – was eine für mich zwar neue, aber ganz einleuchtende Idee war: offensichtlich heirateten sich also deshalb eine Frau und ein Mann, damit sie ihren Kindern dann mal das weibliche, mal das männliche Geschlecht weitervererben, also Jungen oder Mädchen zu Kindern haben konnten.

Aber anstatt daß nun, wie es jeder vernünftige Mensch angenommen hätte, die Mutter ihr weibliches Geschlecht an die Mädchen weitervererbte – und der Vater sein männliches an die Jungen – klang das Weitere doch so, als vererbe der Vater beide Geschlechter, männlich und weiblich, ganz nach Wunsch weiter, während die Mutter dabei gar nichts mitzureden hatte!

Konsequent weitergedacht, mußte doch dann der Vater sowohl männliche wie auch weibliche Anlagen in seinem „Erbanlagenbestand“ haben – und da man ja wohl nur Anlagen vererben konnte, die man selbst hatte, mußten alle Väter innerlich eine Mischung aus Mann und Frau sein?! Aber wenn sie – was ich zwar kaum richtig fassen konnte – sowieso schon Mann und Frau- zugleich waren: wozu brauchten sie dann zu der ganzen Sache noch die Mutter?

Ich gab es vorerst auf, dieses ganze rätselhafte Thema weiterzuverfolgen. Eines schien jedenfalls klar: was für ein Geschlecht die Kinder hatten, daß wurde – ein Verdacht, den ich ja schon lange gehabt hatte – nicht hinterher von den Eltern bestimmt, sondern lag irgendwie bereits fest, wenn man zur Welt kam. Die Frage war nur, wodurch und inwiefern?

Der nächste Eintrag
„Geschlechtscharaktere, sekundäre; Geschlechtsmerkmale. die für das betreff. Geschlecht kennzeichnend sind, aber nicht der Fortpflanzung dienen, beim Manne Bart und Körperbehaarg., beim Weibe Brüste, glatte Haut, langes Haar usw.“
ließ mich nun langsam daran zweifeln, daß der Doktor Pschyrembel wirklich so recht wußte, worüber er da eigentlich schrieb: ich brauchte doch bloß mich selbst anzugucken, um festzustellen, daß ich weder Bart noch Körperbehaarung, dafür aber eine glatte Haut hatte – zwar keine Brüste, aber die hatten die Mädchen in meiner Schule auch nicht! Und daß die Frage, wie lang mein Haar sei, nur davon abhing, wie oft man mich zum Friseur schickte, statt von meinem Geschlecht, hätte eigentlich auch ein Oberarzt am Krankenhaus wissen müssen !

Oder meinte er, daß solche Eigenschaften „nicht der Fortpflanzung dienen“, also nicht weitervererbt würden ? Das würde zwar erklärren, wieso Männer mit Barten Väter von Mädchen ohne Barte und Körperbehaarung sein konnten – schien mir aber wieder alles, was im vorigen Abschnitt gestanden hatte, über den Haufen zu werfen: denn wenn solche Merkmale nicht vererbt wurden, was zum Teufel wurde dann als „Geschlecht“ vererbt ?

Ich entschloß mich, nun doch unter „Mann“ und „Frau“ nachzuschlagen – aber diese Begriffe schien es in der Medizin überhaupt nicht zu geben; jedenfalls fand ich an der einen Stelle nur „MANN-LENTZsche Färbung der Negrikörper (s. Lyssa) in Eosin-Methylenblau“, was offensichtlich nicht zum Thema gehörte, und bei „Frau“ überhaupt nichts. Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, wenn ich damit aufgehört hätte – aber nun kam mir plötzlich die Erleuchtung, daß Doktoren und Mediziner ja furchtbar oft lateinisch sprachen: und daß der alte Rektor mir ja schließlich, zur Vorbereitung auf die Oberschule, „masculinum“, „femininum“ und „neutrum“ beigebracht hatte!

Der erste Versuch auf diesen neuen Weg war allerdings nur geeignet, meine Meinung von Dr, Pschyrembel und seinen Lesern noch weiter absinken zu lassen – da stand nämlich allen Ernstes:
„Masculinus (mas, maris, m das Männchen): männlich“ !

Halb in der Erwartung, eine ähnlich geistreiche Auskunft auch unter „F“ zu finden, blätterte ich nach vorn – nicht ahnend, daß damit mein Weltbild endgültig aus den Fugen geraten würde.

Zunächst verzögerte sich dies freilich noch, weil ich an dem seltsamen Eintrag
„Fellare: Einführen d. männl. Gliedes in den Mund der Frau, zur sexuellen Befriedigung“
hängen blieb und einen Augenblick kopfschüttelnd darüber nachdachte, welches seiner Glieder – Arm oder Bein? – ein Mann da einer bedau-ernswerten Frau in den Mund stopfen mochte, und wieso diese mir ebenso blödsinnig wie unpraktikabel vorkommende Sache irgendjemand Befriedigung verschaffen könne. Doch dann las ich das nächste Stichwort:
„Feminieren (STEINACH, 1912): ein kastriertes männl. Tier durch Einpflanz. von Eierstöcken körperlich u. psychosexuell verweiblichen.“

und hatte den Eindruck, die Welt nicht mehr zu verstehen: Da hatte das Buch doch eben lauthals erklärt, männlich und weiblich seien bei den Säugetieren durch die Erbanlagen eindeutig bestimmt – nur um jetzt ebenso selbstverständlich zu erklären, natürlich könne der Professor Steinach dann so ein männliches Tier hinterher ganz nach Belieben – „durch Einpflanz. von Eierstöcken“, was immer das sein mochte – wieder „verweiblichen“! So etwas hatten ja selbst die verbrecherischsten Chirurgen in meinen Büchern – die nicht davor zurückschreckten, Menschen mit Tierköpfen oder Flügeln zu versehen – nicht zu unternehmen gewagt !

Oder meinte man da wieder mal nicht das „richtige“ Geschlecht, sondern bloß diese anderen Eigenschaften, die sich irgendwie nicht zum Fortpflanzen eigneten – eigentlich nur so eine ähnliche Sache, als habe der Professor einem Jungen Mädchenkleider angezogen und ihn dadurch „verweiblicht“ – also zum Beispiel jetzt lange Haare und glatte Haut oder sogar einen Busen erzeugt ?

Darüber noch sinnierend, kam ich zum nächsten Stichwort:
„Feminismus (femina Frau): weibische Art; vgl. Effeminatio“
Hatte das vielleicht etwas mit dem Ergebnis des „Feminierens“ zu tun? Ich blätterte noch weiter nach vorn – und las:
„Effeminatio (femina Weib): höchster Grad der konträren Sexualempfindung, wobei sich der Mann völlig als Weib fühlt, als weibl. Päderast.“
Was war das denn nun? Jetzt ging es auf einmal nicht mehr um Haare, Haut oder Busen, sondern um „Empfindungen“ und darum, wie sich jemand „fühlte“ – und zwar, was nun vollends unfaßbar schien, um einen Mann, der sich „völlig als Weib“ fühlte?! Oder doch nicht? Was war denn nun wieder ein „weibl. Päderast“?

Nach einigem weiteren Suchen fand ich aus das – oder zumindest etwas, das sich darauf zu beziehen schien:
„Päderastie (erastes Liebhaber): Knabenliebe, geschlechtl. Mißbrauch von Knaben,“

Als ich diese Worte las, spürte ich plötzlich ein hilfloses Gefühl in der Magengrube – wie in einem unerwartet nach unten abfahrenden Aufzug.

Sich „als Weib“zu fühlen“ – oder sich zumindest mit solchen Gedanken zu befassen – war offenbar ein“geschlechtlicher Mißbrauch von Knaben“, also etwas, was Knaben offenbar nicht tun sollten, aber anscheinend zuweilen taten. Und wußte ich das nicht sehr genau? Hatte ich nicht vor wenigen Wochen noch – mit Genuß und innerlichem Schauer – genau solche Gedanken gewälzt? Und war das – nachdem es ja nun in einem Wörterbuch für Ärzte abgehandelt wurde – eine ungesunde, gefährliche Sache, vielleicht sogar eine Art Krankheit oder Geisteskrankheit?

Als ich noch viel kleiner war, hatte mich schon die Vorstellung erheblich beunruhigt, daß irgendwo im Himmel ein Schutzengel alles, was ich hier auf der Welt tat, in einem großen Buch vermerken sollte. Aber wie harmlos erschien das gegenüber dem Erlebnis, daß irgendein Gedanke, den ich mir ganz persönlich in aller Harm¬losigkeit ausgedacht hatte, Wort für Wort in einem Buch für Ärzte als typische Sünde von Knaben beschrieben wurde … !

Nein, nicht direkt als „Sünde“ – als „Mißbrauch“, was zwar auch nicht sehr schön, aber immerhin noch harmloser klang. Oder wie hatte das noch gehießen? Mit einem gewissen verbissenen Mut blätterte ich zurück – was war das für eine „Empfindung“ gewesen? Ah – da stand es: „Sexualempfindung“. Ich konnte mir darunter noch nichts Rechtes vorstellen – aber vielleicht war auch das unter diesem Stichwort noch näher erklärt ?

Leider ja. Da stand es schwarz auf weiß:
„Sexualempfindung: Geschlechtsempfindung, Perverse S.; krankhafte Abweichung der Geschlechtsempfindung und des Geschlechtstriebes bis zur konträren S., wo der Mann sich als Weib, das Weib sich als Mann in geschlechtlicher Beziehung fühlt. Vgl. Päderastie. Masochismus, Sadismus, Onanie.“

Ich verglich nicht mehr weiter – mir reichte es. Nicht ein bloßer Mißbrauch – nein, eine „krankhafte Abweichung“ war es, die ich da vor ganz kurzer Zeit (und ohne es zu ahnen – nein, sogar mit einem tiefen Vergnügen) erlebt hatte!

Ich ließ das Buch sinken und sah mit einem gewissen Entsetzen an mir selbst herunter – als müsse man jetzt diese Krankhaftigkeit in Form von Aussatz oder Pestbeulen schon an meinem Leib feststellen können.

Doch dann gewann wieder mein nie versiegendes Mißtrauen gegen alles, was Erwachsene behaupten mochten, die Oberhand: wenn auch dieser Dr. Pschyrembel hier einen unerwarteten und erschütternden Zufallstreffer gemacht hatte – so änderte das noch immer nichts daran, daß sein ganzes Buch von Widersprüchen wimmelte: erst wurde das Geschlecht vererbt. Dann wurde es plötzlich wieder nicht vererbt – oder wenigstens nichts von dem, woran man Männer und Frauen so normalerweise zu unterscheiden pflegte. Und schließlich behauptete er noch, daß man dieses ganze Geschlecht sowieso hinterher verändern könne. Und am Schluß sollte es noch eine Krankheit sein, über all das nachzudenken!

Ich kroch wieder unter die Bettdecke – inzwischen spürte ich erst, wie kalt ich im Nachthemd da auf der Bettkante geworden war – und begann, gegen die Decke starrend, die ganzen Widersprüche nocheinmal zu sortieren. Daß in einem solchen Wörterbuch – das ja nicht für Kinder, sondern Erwachsene geschrieben war – geradezu Lügen standen, war nicht anzunehmen. Aber ich hatte schon öfter einmal erlebt, daß verschiedene Leute die gleichen Tatsachen auf ganz verschiedene Weise zusammenfügten und beurteilten – und was da in dem Buch mit den Tatsachen gemacht wurde, schien doch auch hinten und vorn nicht zusammenzustimmen.

Nahmen wir also mal das Unwahrscheinlichste (das wahrscheinlich gerade deshalb sicher stimmte – denn sonst hätte sich ja niemand getraut, es in ein Buch zu schreiben): diese erstaunliche Behauptung, daß die Väter sowohl weibliche wie männliche Anlagen in sich hätten. Wenn das stimmte – warum sollte es dann eigentlich so krankhaft sein, daß sie sich manchmal auch wie eine Frau fühlten? Wenn sich eine Frau wie ein Mann fühlte, dann hatte sie dazu – nachdem sie ja gar keine männlichen Anlagen in sich hatte! – viel weniger Recht, und war vielleicht verrückt; aber bei den Vätern – oder, da ja wohl alle Männer Väter werden konnten, bei Männern überhaupt – wäre es ja gerade im Gegenteil unnormal gewesen, wenn sie nie etwas von den in ihnen steckenden weiblichen Anlagen gemerkt hätten!

Natürlich – normalerweise mußten sie sich verständlicherweise wie Männer fühlen; aber – und so war das vielleicht auch gemeint? – wenn sie mal krank waren, zum Beispiel Fieber hatten oder sich sonst nicht wohl fühlten (und deshalb sowieso nicht arbeiten oder sonstige Männergeschäfte ausführen konnten), dann mochte doch wohl die andere, weibliche Hälfte in ihnen hervorkommen – dazu fiel mir eine grimmige Bemerkung der Omi ein: Männer, wenn sie krank seien, stellten sich viel schlimmer an als Frauen!

Oder – kam mir jetzt als neue Idee – waren das vielleicht jene Zeiten, in denen sie die weiblichen Anlagen auf eventuelle Töchter vererbten: während sie ihre Söhne natürlich mit männlichen Anlagen versorgten, wenn sie sich so richtig männlich fühlten? Das würde dann aber heißen, daß sich – da es ja etwa gleich oft Töchter wie Söhne gab – Männer sehr oft in diesem Zustand der (wie hieß es ? „Konfusen“ oder „konträren“) Sexualempfindung fühlen mußten: na ja, die Leute waren ja auch oft krank, zum Beispiel erkältet!

So gesehen, schien die ganze Sache nun halb so beunruhigend: daß ich. da mit dem Gedanken herumgespielt hatte, ich könnte oder möchte vielleicht auch ein Mädchen sein, war dann eine Sache, die den meisten Männern gelegentlich passierte – vielleicht umso öfter, je erwachsener sie wurden? – und die nur einerseits hieß, daß ich mich zu der Zeit gesundheitlich nicht ganz wohlgefühlt haben mußte (stimmt, ich hatte ja auch herzlich schlechte Schulzensuren gehabt! – andererseits aber, daß ich später auch einmal in der Lage sein würde, Töchtern weibliches Geschlecht zu vererben. Und das war ja ganz beruhigend, denn natürlich hätte ich, wenn ich später mal Vater wurde, genau so gern ein paar Mädchen unter meinen Kindern gehabt, wie Söhne.

Andererseits, dachte ich abschließend mit einem gewissen Grimm, war es natürlich wieder typisch für die Erwachsenen, mir eine so wichtige und interessante Sache vollkommen zu verschweigen: sogar in all den Büchern, die ich bisher gelesen hatte, wurde so etwas mit keinem Wort erwähnt – obwohl ja schließlich auch der tollste Romanheld mal Zeiten haben mußte, in denen er sich „wie eine Frau“ fühlte! (Das erklärte nun endlich auch, warum sich zum Beispiel der Detektiv Nobody manchmal so täuschend als elegante Dame ausgeben konnte!) Oder war diese ganze Sache so selbstverständlich, daß man sie deshalb nicht erwähnte – so wie all diese Helden sicher auch mal aufs Klo mußten, ohne daß dies jemals zur Sprache kam?

Nun, vielleicht – dachte ich, nun nach dem langen Wachbleiben und all den Aufregungen doch auf einmal kräftige Müdigkeit spürend – lag das alles auch daran, daß ich keine Eltern gehabt hatte, die mir all diese Dinge rechtzeitig und ausführlich erklären konnten? Ich angelte mir noch einmal das Fotoalbum heran und suchte das Bild, wo die schöne Frau dem schlanken Mann gegenüberstand: wenn das meine Eltern gewesen waren, dann hätte ich sicher auch mit ihnen über all solche Fragen reden können …

Und mit diesem Gedanken und dem Bild der beiden Gestalten vor Augen schlief ich endlich ein.

Nachwort:

Nunmehr also zur Unterscheidung von – um mit Goethe zu sprechen – “Dichtung und Wahrheit”. Nach den Angaben des Autors beruhen auf realen Erinnerungen:

  • Die ihm gegebene erste Erklärung über den Unterschied zwischen Jungen und Mädchen.
  • Seine abfälllige Einstellung zu “kleinen Mädchen” und im Gegensatz dazu seine Verehrung für “erwachsene Frauen”
  • Seine ersten Gedanken über “echte” und “unechte” Frauen
  • Die doppelte “Kreuzritter-Krisis” über “Nanna” (=Schwester) und “Schule” nebst anschließender Krankheit und “Verfremdungs-Gefühl”
  • Übergang auf “gemischte” Privatschule mit Jungen und Mädchen nebst “Haarzerr-double-standard”
  • Eine Episode als “Abenteuer-Regisseur” mit einem etwa gleichaltrigen Mädchen (während eines Urlaubs)

Diese hat er dann allerdings zu einer umfassenden Erfindung eines ganzen “Mitspielerinnen-Harems” ausgebaut – wie auch die “Mädchenmantel-Episode” erfunden ist: was natürlich den Biographie-Analysten maßlos ärgert: denn die wird ja hier als der Drehpunkt zu den nächsten “Mädchen-Träumen” benutzt – jetzt weiß man wieder nicht, wie die wirklich starteten!
Denn diese Phantasien nun – sagt der Autor – habe er von einem bestimmten Punkt an mehr oder weniger alle wirklich gehabt.

Die ganze “Schreibtisch- und Album-Story” ist natürlich handlungsbezogen erfunden (wenn auch die erwähnten Artikel und Notizen real sind)

und bei den (wörtlichen!) Pschyrembel-Zitaten und ihrer Interpretation ist dem Autor natürlich seine doppelte Neigung zu Spekulation und Ironie total durchgegangen
(obwohl sich da sowohl Ansätze für den späteren “Animagie”-Dialog” wie für die geplante “Vater-Sohn”/”Mutter-Tochter”-Handlung – eine Super-Phantasie des reifen Hellmut Wolfram – finden!)

Befragt, was denn nun wirklich der “Drehpunkt” gewesen sein könne, gab der Autor leider nur vage Vermutungen von sich – was die Jula-These bestätigen könnte, daß eben der ganze “Mädchentraum-Komplex” doch von Anfang an angelegt gewesen sei: und möglicherweise durch die “Kreuzritterkrise” nur ans Licht kam?

Ein mysteriöses Fragment

Anm. Jula: Der nun folgende Text wird auch durch die Erläuterungen von Frau Trugmaid für mich nicht wirklich klar. Hat Hekate hier so etwas wie einen Freimaurer- oder Illuminaten-Orden für Crossdresser ge- oder erfunden?

[Dies ist wiederum ein hochinteressanter Fund:
Zu den Lieblings-Autoren Hellmut Wolframs gehörte u.a. der Amerikaner Howard P. Lovecraft, den Enthusiasten “den Edgar Allen Poe des 20. Jahrhunderts” genannt haben. Für seine Stories kosmischen Grauens hatte dieser eine ganze neue Mythologie entwickelt, in der gräßliche Gottheiten wie “Great Cthulhu”, “Tsathoggua”, “Nyarlathotep, the Crawling Chaos”, “Yog Sototh” usf. ihr (Un-)Wesen trieben, die von geheimen Kulten angebetet und heraufbeschworen wurden – worüber dunkle Andeutungen in (ebenso neu erfundenen) alten Quellen wie dem “Necronomicon des wahnsinnigen Arabers Abu Alhazred”, “Ludvig Prynns ‘De Vermis Mysterii’” oder “Juntzt’s ‘Unaussprechlichen Kulten’” zu finden waren.

So konnte es nicht ausbleiben, daß auch Hellmut sich daran machte, ein Gegenstück dazu im Bereich der TG-Stories zu schaffen! Ausnahmsweise wissen wir genau wann, da die erste der diesbezüglichen Notizen ausnahmsweise einmal datiert war: nämlich vom 31.10,1973; unmittelbar anschließend sind dann die weiteren hier wiedergegebenen Materialien entstanden.

Konsequent ausgeführt hat er dieses Konzept allerdings nicht (weil ihm, wie bei ihm üblich, schon wieder lauter neue Ideen dazwischenkamen) – dennoch finden sich, z.B. in Der Gürtel der Aphrodite oder [seite|@=Geschichten:Astarte kam nach Bannerstadt=@] deutliche Spuren dieser Ideen: die dann jedoch fast 14 Jahre später im “Animagie-Dialog” aufgingen (den man mit Fug und Recht auch in die unten skizzierte Liste der “Gelahrten Materialien zum Kult” aufnehmen könnte!).

Ich übergebe diese Notizen – ohne weitere Kommentare – in diesem Anhang zu meiner Diplomarbeit der Öffentlichkeit.
(Margot Trugmaid, Diplomandin)]

Animagie:

Ein Zyklus von Erzählungen, die gemeinsam auf der Idee basieren, daß es einen geheimen Kult gibt, zu dessen Ritus es gehört, daß Männer Frauenklieder anlegen und sich als Frauen ausgeben.

Reale Basis: Kultischer Transvestitismus, weltweit verbreitet – Mutterreligionen – Mythische doppelgeschlechtliche Wesen – Protest gegen gesellschaftlich festgelegte Geschlechterrollen. Idee, daß Geschlecht durch Magie geändert werden kann. Machtfülle durch Einbeziehung des Gegengeschlechts. Anima (C.G.Jung).

Dahingestellt lassen, ob Kult böse oder gut. Als blasphemisch durch Beschreibungen Außenstehender – als positiv durch Mitglieder schildern lassen. Hohes Alter des Kultes bis zurück in vorgeschictliche Zeiten. Historische Beispiele als zufällig zutage getretene (oder mißverstandene) Ausläufer des eigentlichen inneren Mysteriums schildern,

Ein solcher Kult braucht:

o Eine Göttin (Astarte, Ashtoreth, Aphrodite Androphonos), evtl. mit bisexuellen Attributen. Wird in späteren Zeiten als Dämon (Succuba) mißdeutet. Mondgöttin, Wassergöttin. Verschlingend/Erhebend. Gegnerin der „männlichen Weltordnung“. Evtl. in doppelter Inkarnation (schönes reifes Weib / dicke erdmutterhafte Alte ).

o Priester(innen?) oder Eingeweihte.

o Ritual: z.B. eine „große Anrufung“ – entspr. Satanspakt – mit Abschwören der männlichen Werte und Bitte um weibliche Attribute. Könnte in weiblichen Kleidungsstücken vor Spiegel geschehen und evtl. von einem “Samenopfer“ (Spiegelonanie) begleitet sein. Auch am Wasser (Narzißmus).! Großes reinigendes Bad (Wasser-Symbolik) vorher, wie überhaupt vor Transvestitur.

o „Initiationsriten“ = feierlicher Transvestitur durch „Eingeweihte“. Evtl. Brautkleid – eheähnlicher Ritus (vergl. Nonne=Christusbraut). „Sabbat“ = Tanz/Orgien in Frauenkleidern.

Ein wesentliches Problem ist die „Rekrutierung“ neuer – normalerweise nichts von der Existenz des Kultes ahnender – Mitglieder. Sie kann geschehen:

1) durch bereits Eingeweihte, die nach entspr. Veranlagten suchen bzw. diese zufällig erkennen
2) durch Kontakt mit Literatur über den Kult
3) durch bestimmte mit magischen Kräften ausgestattete Gegenstände, z.B. Schmuckstücke („Isisgeschmeide“), Spiegel, Bilder, Kleidungsstücke (?), Gebäude (Theater ? Tempel ? Besonderer“Weg“ ?)
4) durch persönliches Erscheinen/eingreifen der Göttin, evtl. aus gelöst durch bestimmte magische Formeln, die z.B. in Gedichten, Theaterstücken o.a. verborgen sein können

Insbesondere sind Verkleidungssituationen (Karneval, Theateraufführungen, Photo-Aufnahmen) mythisch anzureichern.

Zentral ist die Einsamkeitssituation des künftigen Mitglieds, mit Selbstwertzweifeln, Verächtlichmachung durch Umgebung, Neid auf schöne Frauen, Sehnsucht nach Schönheit/Frauenhaftem (weniger homosexuellen Impulsen!). Im Gegensatz dazu lustvoller Genuß der Transvestitur, Akzeptanz durch Gleichgesinnte, Verblendung bisheriger Feinde, Gefühl des blasphiamischen Umsturzes der Weltordnung, Machterlebnisse, „süßes Entsetzen“. Insbesondere, wenn sich ein bisher beneidetes schönes Weib gleichfalls als verkleideter Mann entpuppt. Pseudolesbische Liebesszenen sind möglich. Aber auch Übernahme der weiblichen Rolle in Stellvertretung der „Großen weiblichen Göttin“ gegenüber Männern. Ferner das Rachemotiv an einem Mann , der den Verkleideten für ein Mädchen hält. Auch Verführung von weiblichen Wesen.

Die Literatur über den Kult: Evtl. gibt es ein zentrales „heiliges Buch“, das aber nur Kultmitgliedern zugänglich ist und zu den inneren Mysterien hinführt. Ansonsten müssen die Berichte darüber unklar und mit irrelevantem Material vermischt sein. Evtl. gibt es einen (wegen seiner „Abscheulichkeiten“ verbotenen) Roman, in dem Kultmotive vorkommen, und der von einem wegen seiner „Ausschweifungen“ berüchtigten Dichter stammt (der evtl. deswegen ins lrrenhaus gebracht wurde o.a.).

Ebenso möglicherweise einen Zyklus von Stichen oder Graphiken, der die Kultmysterien andeutet (ala Beardsley) und von seinem Erzeuger selbst wieder aus der Öffentlichkeit zurückgezogen wurde. Ferner sind ein paar moderne, photoähnlich-kitschige Bilder wie „Le premiere Rendezvous“ usf. vorhanden, die naturalistisch transvestitische Szenen zeigen (evtl. mit einem hämischen Unterzug in Richtung auf das Tauschen von Männern) und die von Kultmitgliedern selbst mit gemischten Gefühlen beurteilt werden.

Dann könnte es Manuskripte und Zeichnungen eines „Irren“ geben, die irgendwo im Nachlaß eines Psychiaters modern, und die Einsichten in die Kultmaterien enthalten (evtl. ist dieser Irre später aus der Anstalt befreit worden und verschwunden – vielleicht gar irgendwo anders als Frau aufgetaucht?). Es bleibt dahingestellt, ob es sich dabei um „archetypische Einsichten” handelt, die er unabhängig vom Kult gefunden hat, oder um echte Kultschilderungen.
Ferner gibt es ein schulmeisterlich-gelahrtes Manuskript „Von denen ANDROGYNEN oder Asthoreths-Söhnen“ aus dem späten 17. oder frühen 18. Jahrhundert, das – unter dem allgemeinen Gelächter der „aufgeklärten“ Zeitgenossen – die Existenz dieses Kults aus Zeugenaussagen in einem aktuellen Fall und historisch-ethnographischen Betrachtungen beweisen will, um alle Menschen vor solchen „unnatürlichen Versuchungen“ zu schützen. Der Autor muß dabei eine Mischung von trockener Schulmeisterlichkeit und geheimer, unter Abscheu verborgener Faszination zeigen, ähnlich den Onanie-Autoren. Sowas könnte auch jemand im frühen 19. Jahrhundert geschrieben haben, als „Warnung an Eltern und Erzieher“, mit „erschröcklichen“ Beispielen.

Auch ein altes Hexenbuch könnte diesen speziellen Kult in einem besonderen Abschnitt erwähnen, als spezielle neue List des Satans. Ferner könnte es ein verlorengegangenes antikes Werk „De Mysteriis … “ geben, in dem speziell die kultbezüglichen Eigenarten antiker Kulte behandelt wurden. Da könnten bereits verschiedene der magischen Gegenstände erwähnt werden.

Evtl. gibt es auch eine Autobiographie eines Kultmitglieds, die aber später von den „esoterischen“ Stellen gereinigt worden ist (z.B. d’Eon oder Abbe Choyssy).
Verschiedene „Reiseberichte“ könnten ebenfalls auf Auftreten des Kultes in verschiedenen Ländern hinweisen. Ebenso könnten Erwähnungen des Kults in Berichten über verschiedene „erotische Geheimbünde“ oder „Clubs“ erscheinen.
(31.10.72)

ANDROGYNIA oder

gründliche Gedancken von denen ANDROGYNEN oder Ashtoreths Söhnen, so in Weibes Kleydern Männer und Frauen ins Verderben geführt,
begleitet mit allerley medicinisehen, theologischen und historischen Anmerckungen
und entworfen von
A u g u s t i n F ü r c h t e g o t t B u h l e r,
Rect. des Collegium Carolinum zu Trentenheym
Wolffenbüttel 1751

Inhalt der Ausführung
§ 1. Nothwendigkeit des Diskurses, zur Warnung aller erbaren und GOTTESfürchtigen Männer und Weiber vor den widernatürlichen Wercken des Satans
§ 2. Nachricht von einem Androgyn, so sich zu Brest als eine Frauens Person gezeigt und zwey Officiers alldorten zu einem tödtlichen Duell verleitet
§ 3. Dessen Erzehlung von seinem Packt mit der Teuffelin Ashtoreth, so ihm Weibs Gestalt verliehen
§ 4. Zweyffel daran, so sie der gelehrte Dr. Helsing referiret
§ 5. Dessen offenbahre Irrthümer und deren verborgene Uhrsachen
§ 6. Vergleychung mit einem Berichte Burchards, von einem
maurischen Androgyn zu Toledo
§ 7. Was daraus über die Würckungen des Ashtoreths Packtes zu folgern sey
§ 8, Materialien von denen Batschas, so bey den Turck Tataren statt als naben wie Tanz Mädgen auffgezogen und gekleydet werden
§ 9. Auffzehlung gleicher Historien der alten
§ 10. Von denen heydnischen Priestern der After Göttin Kybele, so auch Weibes Kleyder getragen
§ 11. Von dem Caesar Elagabal, so sich in Lupanaren als Weib gezeiget
§ 12. Gleiche Begebenheiten des Caesars Commodus
§ 13. Anmerckung über die Kedeshim im A.T.
§ 14. Warum im A.T, geboten ward „Es soll nicht Manns Zeug auf einem Weibe seyn, und ein Mann soll nicht das Gewand eines Weibes anlegen, denn wer irgend solches thut, ist ein Greuel für Jehova, deinen GOTT“ (5. Mose 22)
§ 15. Über die irrthümliche Verwechslung der Androgynen mit denen Hermaphroditen, auf welche man sich hierin nicht zu beruffen hat
§ 16. Da diese ohnstreitig blohse lusi naturae, terata oder monstri sind, als e.g. Etmüllers Teratologia erleutert
§ 17. Darlegung des Begrifs von den Androgynen
§ 18. Erstens, daß diese allemal cörperlich masculinum generis sind
§ 19. Zweytens, sie daher, so sie sich als Mädgen oder Weiber ausgeben, eine widernatürliche Täuschung practiciren
§ 20. Drittens, hiebey auf sonderbahre Hülfsmittel, wie künstliche mammae aus Schweins Blasen, Wachs oder weihsem Leder, Perücken aus falschen Frauen Haaren, Schmincke und dergleichen angewiesen sind
§ 21. Viertens, dieses nicht aus einer cörperlichen condotio, sondern unnatürlicher Wollust halber thun
§ 22. Vermuthung, dieses sey eine Geistes Kranckheit
§ 23. Versuch, ob das Androgynen Thum nicht vielmehr eine Würckung des Satans in die Menschen sey
§ 24. Der Teuffel ist der Vater der Lügen
§ 25. Das Geschlecht zu verstellen, ist der gröhsten Lügen eine
§ 26. Dieses wird annoch aus allgemeinern Gründen erläutert
§ 27. Der Teuffei sucht die Menschen zu widernatürlichen Lüsten zu verleiten
§ 28. Dieses thun die Androgynen, so sie sich in Weibes Gestalt unschuldigen Jürjglingen nähern
§ 29. Der Teuffei sucht Männer und Weiber durch seine Anbe¬ter zu verderben
§ 30. Dazu tragen die Androgynen bey, so ihnen einer in ihrer scheinbahren Weibs Gestalt vertraut
§ 31. Weitere Anmerckungen, so hiezu beygebracht werden können
§ 32. Ist die Weibs Natur an sich selbst fleischlicher denn die des Mannes, daher der Teuffei sich ihrer oft mit Vortheil bedient
§ 33. Gelten Weibes Kleyder, Weiber Putz , Schmincke e.c. seit Alters her als Werckzeuge des Satans
§ 34. Hat der Teuffei selbst oft Weibs Gestalt angenommen, so er die Heiligen Väter zu versuchen getrachtet
§ 35. Beweiß aus den Nachrichten von denen conditiones, so in Ereignung der vorfallenden Ashtorets Packte jener Androgynen vermeldet
§ 36. Deren Abschwörung der natürlichen Ordnung GOTTES, in Leugnung der natürlichen und geoffenbahrten Wahrheiten
§ 37. Deren ohnendliche Eitelkeit, Gefallsucht und Hoffahrt, so die Anmahsung Luciferii widerspigelt
§ 38. Deren Gelübde, sich die Fortpflantzung des Androgynen Thums angelegen seyn zu lassen
§ 39. Deren Listen, ahndungslose Knaben und Jünglinge zu ihrem verderblichen Thun zu verleiten
§ 40. Ohngeahndbe Gefahren, bei Comödien, Fasnachtstreiben und dergleichen Lustbarkeiten Weibs Gewänder zu tragen
§ 41 Warnung an Erzieher, Väter und Mütter, dergleichen Masceraden keinerley Vorschub zu leisten, vielmehr sie womöglich würcksam auszurotten
§ 42. Merckwürdige Anzeichen, so mancherorts zur Ausforschung derer Androgynen sich nützlich erwiesen
§ 43. Warum kein erbarer Mann sich mit ohnbekannten Frauens Personen
zu schaffen machen soll
§ 44. Muthmahsung, über die Natur der Dämonin Ashtoreth
§ 45. Welche nichts anderes als des Teuffels Grohse Mutter sey, so in alten Schrifften erwenet
§ 46. Conclusio

(Ideologie)

Vor dem Hintergrund der „ad-absurdum-Theorie“ wäre nun die Literatur des A-Kults aufzubauen.

Buhlers „ANDROGYNIA“ z.B. drückt dabei die (richtige!) Erkenntnis Buhlers aus, daß das „Androgynen Thum“ das Ende der patristischen Weltordnung bedeutet, indem es ihre Fundamente – nämlich die gottgegebenen Geschlechter-Rollen – ins Wanken bringt: Deren „Abschwö¬rung der natürlichen Ordnung GOTTES“ (§36).
Sehr richtig sieht er auch die existenzielle Erhöhungssituation (‚Deren ohnendliche Eitelkeit , Gefallsucht und Hoffahrt, so die Anmahsung Luciferii widerspigelt“§ 37),

Buhlers Angst vor dieser Aufhebung seiner „natürlichen Ordnung“ läßt ihn nun finstere Verschwörungen sehen (§§,38,39), die evtl. in Wirklichkeit gar nicht vorliegen, und hinter jeder Ecke die böse Ashtoreth entdecken (§§ 4o,41,43).
Ganz am Schluß läßt er dann auch ausversehen heraus, warum er solche Angst vor ihr hat: weil sie zur matriarchalischen Weltordnung gehört (§45) – gegen die er in §§ 32-34 nochmal alle alten Klischees der Patristen aufgeführt hat.

So zerrt er denn auch an den Haaren alle evtl. negativen Folgen einer „Verstellung des Geschlechts“ herbei, vom Verderben unschuldiger Jünglinge (sein Beispiel aus § 2. ist typisch gewählt – aber seltsamerweise das Einzige, in dem diese Androgynen nun wirklich nachweisbares Unheil gestiftet haben: denn in seinen §§ 6 – 14 bringt er kein einziges weiteres solches auf die Beine!) bis zu „ohngeandten Gefahren“, die aber schließlich und endlich immer wieder nur auf seine „natürlichen und geoffenbahrten Wahrheiten“ (= die Vorurteile sei¬nes Patrismus) hinauslaufen – wobei er sich mit einem geschickten, aber durchschaubaren Kunstgriff der Hermaphroditen, die ja gar nicht zu seiner „natürlichen“ Ordnung passen, als „lusi naturae, terata oder monstri“ entledigt hat.

Hinter alledem scheint eine durchaus ungesunde Faszination durch das ganze Thema (wie bei den alten Onanie-Bekämpfern) durchzuschimmern.

Computer und Magie

von
HELLMUT W. HOFMANN

Vorbemerkung:
Der nachfolgende Text erschien zum ersten Mal im Oktober 1984 in der Computerzeitschrift C4 (Verlag MARKT & TECHNIK AG, München). Der Autor wollte mit seinem Artikel also einem gewöhnlich in der Magie nicht bewanderten Leserpublikum die Analogien zwischen magischem Weltbild und Computersprache aufzeigen, wozu der Text in Dialogform zwischen Technik und Magie gestaltet wurde. Da wir als Magier unsererseits ganz gern zu einer gewissen Technikfeindlichkeit neigen, ist der Artikel in hervorragender Weise geeignet, Vorurteile abbauen zu helfen und dieses „neue Universum“ der Computer, die schon jetzt in vielen Bereichen unseres Lebens nicht mehr wegzudenken sind, in unser magisches Denken zu integrieren. An dieser Stelle sei dem Autor, Herrn Hellmut Hofmann, sowie dem Verlag Markt & Technik für die Genehmigung zum Nachdruck vielmals gedankt.

Digitus: „Also ich bitte Sie: Kartenlegen, Horoskope und Wahrsagerei – Medizinmänner, Voodoo-Zauber, Totems und Tabus – Hexenmeister, Zaubersprüche und Formeln, mit denen sie Geister beschwören: das ganze dunkle Reich von Aberglaube und Magie – und die klare nüchterne Welt von Computern, Datenverarbeitung und Programmierung: größere Gegensätze kann man sich doch kaum vorstellen !“

Orakel: „Bleiben wir gleich mal beim Magier, der einen Dämon beschwört: im Sinne der Magie zwar ein höchst geheimes Werk, an das sich nur der Eingeweihte wagen darf; aber selbst Sie als völliger Nicht-Magier werden mir die populäre Vorstellung davon schildern können, wie er das macht – „

Digitus: „Nun ja – so wenig ich daran glaube – aber irgendwoher hat man das natürlich mitbekommen: Der trifft also erst geheimnisvolle Vorbereitungen – zieht einen magischen Kreis und so weiter – dann holt er sein Zauberbuch und sucht die richtige Beschwörungsformel – irgendein eindrucksvolles Kauderwelsch, in dem vor allem der richtige Name dieses speziellen Dämons vorkommen muß – sagt das feierlich auf, wobei er nicht den kleinsten Fehler machen darf – sonst kommt der Dämon nicht, oder es passiert sonst etwas Furchtbares – aber wenn er alles richtig gemacht hat, erscheint der Dämon und erfüllt seine Wünsche – „

[ABB.1]

Anm. Jula: die Abbildungen liegen mir leider nicht vor

Orakel: „Fein – und nun nehmen wir gleich den „größten Gegensatz“ dazu: Was müssen Sie eigentlich machen, um an Ihrem Computer ein Programm zu benutzen?“

Digitus: „Na ja – zuerst natürlich den Computer und alle anderen Geräte einschalten und die Diskette einlegen -„

Orakel: „Sie treffen geheimnisvolle Vorbereitungen – „

Digitus: „Dann in der Anleitung nachschauen, was ich eintippen muß – „

Orakel: „Sie holen Ihr Zauberbuch – und suchen die richtige Beschwörungsformel – „

Digitus; „Jetzt merke ich langsam, worauf Sie hinauswollen: dann tippe ich z.B. LOAD „D:GRAPHIK.BAS“ – „

Orakel: „Eindrucksvolles Kauderwelsch, in dem aber der Name dieses speziellen Programms, GRAPHIK, vorkommen muß – „

Digitus: „Und wenn ich den kleinsten Fehler mache – etwa ein Anführungszeichen vergesse – bekennte ich nicht das Programm, sondern bloß die Meldung „SYNTAX ERROR“ – „

Orakel: „Wenn Sie aber alles richtig machen, erscheint der Dämon – Verzeihung, das Programm – bereit, Ihre Wünsche zu erfüllen – hier etwa eine bunte Graphik auf den Bildschirm zu „zaubern“: wenn Ihnen ein alter Magier zusähe – er könnte meinen, daß Sie, wenn auch mit modernen Mitteln, genau dasselbe vorhaben, wie er bei einer Beschwörung – wär’s aber bloß einer seiner Zeitgenossen, fände er es bestimmt genauso rätselhaft und unheimlich -„

Digitus: „Aber für mich ist das ja nun weder Hexerei noch rätselhaft oder unheimlich – „

Orakel: „Weil Sie ja auch ein „Eingeweihter“ sind! Aber haben Sie nicht auch schon gehört, daß auch heute gar nicht wenige Leute vor einem Computer-Terminal regelrecht Panik spüren – mit Beklemmung, wildem Herzklopfen und Angstschweiß – als hätten Sie es wahrhaft mit schwarzer Magie und Dämonen zu tun?“

Digitus: „Das ist aber doch lächerlich!“

Orakel: „Für die Betroffenen ganz und gar nicht – die müßten sogar Ihre Stellung aufgeben, wenn sie diesen Bann nicht brechen können, es bleibt ihnen nur der Weg zum Medizinmann, zum „weißen Magier“ – in unseren Tagen: dem Psychotherapeuten – der sie dann auch prompt mit einem „Gegenzauber“ ausrüstet: einer Tonbandkassette mit „Schutzgebeten“ – Anweisungen für Muskelentspannungsübungen, die sie dann jedesmal in der Angstsituation machen können – wie Abwehrgesten gegen den „bösen Blick“ oder andere Verhexungen -„

Digitus: „Ist es auch Wahnwitz, so hat es doch Methode! Aber wir leben doch in Deutschland im 20. Jahrhundert – nicht unter primitiven Wilden, deren ganze Welt nur von Zauber und Gegenzauber beherrscht wird!“

Orakel: „Unterschätzen Sie nicht, wie komplex die magischen Systeme solcher angeblich „primitiven Wilden“ aufgebaut sind: bei vielen davon hat z.B. jeder sogar zwei Namen – einen öffentlichen, den jeder kennt, und einen zweiten, geheimen, den kaum jemand erfahren darf: denn wer diesen Namen kennen würde, hätte damit auch magische Macht über ihn …

Wenn Sie dann freilich die aktuellen Proteste gegen allgemeine, computerlesbare Personen-Codes in der Bundesrepublik anschauen – dann könnten Sie allerdings fragen: wieviel von dem, was dahintersteckt, ist noch immer die alte magische Ur-Angst – daß ich „Orakel“ heiße, dürfen die Computer zwar ruhig wissen: aber wenn sie erst einen eigenen Namen in ihrer magischen Sprache für mich hätten, würden sie auch magische Macht über mich gewinnen?!“

Digitus: „So daß etwa selbst beim Datenschutzgesetz – oder Absagen der jüngsten Volkszählung – magische Ängste mit im Spiel gewesen wären? Nein, wissen Sie – das scheinen mir alles doch wohl bloß Analogien, die zwar in der Tat zunächst frappierend wirken: aber wenn man sie tiefer verfolgen würde, käme gewiss bald zutage, daß sie allenfalls höchst oberflächlich wären!“

Orakel; „Seltsamerweise nicht – im Gegenteil: je mehr man ins Detail geht, desto verblüffender wird es gerade! Nehmen wir mal so ein Zauberbuch aus der Zeit des sagenhaften Dr. Faust: „Lemegeton – oder: Der kleine Schlüssel Salomonis“ – ein „Grimoire“, wie man sie nannte: und das ist bereits recht seltsam – denn es heißt eigentlich „gram-maire“, was für „Grammatik, Sprachlehre“ steht.“

Digitus: „Für eine Sprache zum Umgang mit Geistern und Dämonen?“

Orakel; „Und achten Sie mal auf den Aufbau dieser Sprache, wenn der Magier da sagen soll: „Ich beschwöre dich, o Erzdämon Adramelek, bei den sieben geheimen Namen des großen Salomo – bei Adonai, Rai, Tetragrammaton, Anexhexeton, Inessensotoal, Puthamaton und Itemon…”

Und vergleichen Sie das jetzt mit dem „Aufruf“ eines Unterprogramms in der Programmiersprache FORTRAN:

„CALL INTHA (XMIN, XMAX, EPS, MAXIT, FUNK, IND)“ – „

Digitus: „Allerdings verblüffend – nur daß die „Parameter-Namen“ bei FORTRAN eben eine echte Bedeutung haben: XMIN legt X MINIMUM fest, also die Untergrenze für X usw. – die dann beim Kompilieren des Programms aus Buchstabenfolgen in entsprechende Maschinenbefehle übersetzt werden – „

Orakel; „So wisse denn, oh Digitus, daß die Buchstaben in Beziehung zu Maschinenbefehlen stehen, jeder Maschinenbefehl wird von einem Buchstaben beherrscht … Die Buchstaben bilden die Wörter, die Wörter wiederum die Programme, und. es sind nun die Maschinenbefehle, die, bezeichnet durch die Buchstaben und versammelt in den geschriebenen Programmen, Wunder bewirken, ob welcher die gewöhnlichen Menschen staunen.“

Digitus: „Etwas merkwürdig ausgedrückt – aber genau das meinte ich!“

Orakel; „Nur steht das seltsamerweise in einer tunesischen Handschrift von „1001 Nacht“ aus der gleichen Zeit – wo ein indischer Zaubermönch, der Brahmane Padmanaba, erklärte, wie die Wörter wirken, die er auf seine kabbalistischen Talismane schreibt: nur sagt er „Gebete“ statt „Programme“ und „Engel“ statt „Maschinenbefehle“ – „

Digitus: „Doch wohl ein Unterschied!“

Orakel: „Gar kein so großer – wenn Sie bedenken, daß „Engel“ – lateinisch „angelus“ oder griechisch „aggelos“ – ursprünglich nur „Bote“ heißt: also „Infor-mations-Träger“ – und genau das sind ja die Impulse, die Maschinenbefehle übermitteln – „

Digitus; „Nur sind das in Wirklichkeit ja gar keine „Buchstaben“ – sondern Gruppen von Nullen und Einsen: den bekannten „Bits“ oder „Binärziffern“!“

Orakel: „Aber gerade die finden wir nun auch an ganz unerwarteter Stelle wieder: als der deutsche Universalgelehrte Leibniz dies „binäre Zahlensystem“ Ende des 17. Jahrhunderts entdeckt hatte – da erfuhr er zu seiner Verblüffung von Pater Joachim Bouvet, einem jesuitischen Missionar in China: solche Gruppen aus zwei verschiedenen Symbolen – den „Yin-“ und „Yang-Linien“ – waren seit 5000 Jahren die Basis des berühmtesten Orakelbuchs Chinas, des „I Ging“: wo sie und ihre „Wandlungen“ alles Geschehen der Welt überhaupt symbolisierten – und die „Fu-Hsi-Sequenz“ dieser Liniengruppen entsprach genau den Zahlen von 0 bis 63 in Binärschreibweise!“

[ABB.2]

Digitus: „Fehlt wahrhaftig nur noch der Computer selbst!“

Orakel: „Auch den beschreibt uns schon ums Jahr 1000 – sogar gleich mit Anwendungsprogramm – die magische Überlieferung: Gerbert d’Aurilac, der spätere Papst Sylvester II., soll einen „bronzenen . Kopf“ besessen haben, der „auf Fragen über Politik oder die allgemeine Lage der Christenheit“ mit Ja oder Nein antwortete – deshalb der Hexerei angeklagt, soll sich Gerbert mit dem Hinweis verteidigt haben, dies Gerät arbeite nach einem ganz einfachen Prinzip, das einer Rechnung mit zwei Ziffern entspreche …“

Digitus: „Ich muß zugeben – bloß Zufall kann das alles kaum mehr sein: irgendetwas muß dahinter stecken – aber was?“

Orakel; „Tja – da könnte man sogar ein Gegenstück zu Dänikens „Die Götter waren Astronauten“ ausmalen: Außerirdische Expeditionen, die einst die Erde besuchten – oder, je nach Geschmack, versunkene irdische Hochkulturen wie Mu oder Atlantis – hätten schon komplexe Computer als Informations- und Steuerungs-Maschinen benutzt; Computer, die (wie ja bald auch unsere) gesprochene Worte als Eingabe „verstanden“ – allerdings (genau wie auch unsere oft schon) in kritischen Fällen besondere, geheime Schlüsselworte verlangten:

Uralte Erinnerungen daran – überlagert und verzerrt durch primitiven Geisterglauben – wären dann Basis der magischen Grund-Überzeugung, daß der „Eingeweihte“ – wenn er nur die richtigen „Worte“ kennt und auszusprechen weiß – dank solcher „Engel“ oder „Dämonen“ Zugang zu allem Wissen und aller Macht im Kosmos gewinnen könne; während „Datenschutz-Gesetze“ solcher „Magie“ zugleich das Odium des Verbotenen und Gefährlichen eingebracht hätten …“

Digitus: „Irgendwie verführerisch einleuchtend klingt das zwar – „

Orakel: „Man könnte sogar das moderne Gegenstück dazu zitieren: als im letzten Krieg die Eingeborenen im Inneren Neuguineas zum ersten Mal Kontakt mit der modernen Technik bekamen – da steckten sie rings um ihre Hütten Bambusstäbe wie Antennen in den Boden und murmelten drin aufgeschnappte Worte in alte Konservenbüchsen: in der Hoffnung, daß dann die metallenen Vögel auch ihnen all die Wunderdinge vom Himmel bringen würden wie den Weißen. Und als das „Ei“ eines solchen Metallvogels, das Anhänger dieses „Cargo-Kults“ heimlich beiseitegebracht hatten und im Feuer ausbrüten wollten, explodierte und ein ganzes Dorf zerstörte – da waren sie erst recht überzeugt, mächtigem „Mana“ auf der Spur zu sein – „

Digitus: „Der Unterschied ist nur, daß es die Flugzeuge und Antennen bei ihrem Beispiel wirklich gab – aber vorzeitliche Computer, von denen man anderweit nie eine Spur entdeckt hat: das ist mir doch zu phantasievoll!“

Orakel: „Darauf könnte man wieder sagen – wenn jemand noch 1930 bei einer Ausgrabung einen modernen Chip gefunden hätte: wäre er darauf gekommen, daß er was mit Computern zu tun haben könnte – oder hätte er ihn bloß für einen seltsamen Schmuckstein gehalten? Und genauso wenig brauchten wir heute Reste uralter Supercomputer zu erkennen – wahrend Astronauten ihre sowieso wieder mitgenommen hätten!

Nein – mich stört an solchen Spekulationen eher das Gegenteil: Wenn wir im jahrtausendalten magischen Denken Konzepte entdecken, die eigentlich erst ins Computerzeitalter passen – dann scheint es mir eher ärmlich und phantasielos, einfach zu sagen: na ja, das wird halt bei jemand abgeguckt worden sein, der schon Computer hatte!“

Digitus: „Wenn wir das auf eine bessere Art erklären könnten, wäre mir das auch lieber! Aber irgendein Bindeglied muß es ja nun geben – wenn es nicht die angeblichen Vorzeit-Computer sind: was dann?“

Orakel: „Versuchen wir mal – ohne außerweltliche Besucher dazuzuerfinden – mit dem auszukommen, was sicher zu allen Zeiten da war: Der Mensch – und die Welt um ihn.

Diese Welt wirkt auf ihn ein – aber auch er konnte auf sie einwirken: etwas mit ihr „machen“, „Macht“ über sie gewinnen – beides Worte, die auf den gleichen indogermanischen Wortstamm („~magh = können“) zurückgehen wie „Magie“ -„

Digitus: „Aber das „kann“ er ja nur, wenn er auch weiß, wie er es „machen“ muß?“

Orakel: „Ja – wenn er die Regeln, die Gesetze kennt, nach denen diese Welt funktioniert – wie ja auch wir heute in Naturwissenschaft und Technik – „

Digitus: „Aber gerade da liegt doch nun der Unterschied beim magischen Denken: das hält sich nicht lediglich an bestätigte Naturgesetze von Ursache und Wirkung – sondern glaubt auch noch an „übernatürliche“ Zusammenhänge zwischen allem und jedem: also zum Beispiel nicht nur an die Gesetze des Sternenlaufs wie die Astronomie – sondern in der Astrologie auch noch an Einflüsse der Sterne auf unser persönliches Schicksal – „

Orakel; „Nur daß das für den magisch denkenden Menschen gar kein „übernatürlicher“ Einfluß war: für ihn gehörte er genauso zur Natur der Welt, wie er sie verstand!“

Digitus; „Aber die Stellung Millionen Kilometer weit entfernter Planeten in den Zeichen des babylonischen Tierkreises kann eben doch nicht wirklich auf das „wirken“, was ich morgen tue!“

Orakel: „Ja: aber genau so wenig kann doch die Stellung der winzigen zwei Zeiger Ihrer Armbanduhr – die übrigens auch nach dem sumerisch-babylonischen Zwölferkreis geteilt ist – auf meilenweit entfernte Züge und Flugzeuge „wirken“. Und dennoch schauen Sie auf diese Uhr, um Ihren Anschluß zu erreichen?!“

Digitus: „Nun ja – aber weil ich weiß, daß sich die Verkehrsmittel eben auch nach solchen Uhren richten, die genauso gehen!“

Orakel; „Wissenschaftlich gesagt: Ihr „Glaube an die Uhr“ beruht also gar nicht auf „Kausalität“ – direkter Ursache und Wirkung – sondern darauf, daß sie „synchron“, im gleichen Takt, mit allen anderen läuft: und deshalb auch Abfahrten und Abflüge auf Bahnhöfen und Flughäfen ihrer Zeigerstellung „entsprechen“.

Genauso läuft aber für das magische Denken das ganze Universum „im gleichen Takt“ – vom Größten bis zum Kleinsten: alles, was darin ist, hängt zusammen, entspricht sich, kann aufeinander wirken – ob nun Planeten auf Menschen oder Zauberworte auf Dinge!“

Digitus: „Das ist aber doch der Trugschluß: wenn ich meine Uhr um eine Stunde vorstelle, fliegt mein Flugzeug deshalb noch keineswegs eine Stunde früher!“

Orakel: „Aber – denken Sie mal an die Umstellung auf Sommerzeit! -wenn nun alle anderen Uhren das auch mitmachen müßten, weil sie stets im gleichen Takt laufen müssen?“

Digitus; „Ein magisches Universum wie ein verkoppeltes Netzwerk von Uhren – oder ein Netzwerk von Computern, in das ein „Hacker“ mit dem richtigen Code einbrechen kann, um alle nach seinem Willen zu steuern? Aber wie konnten Menschen die Welt so sehen – wenn sie doch eben noch keine Datenverarbeitungsanlagen, keine Computer hatten und kannten?“

Orakel; „Sie hatten doch auch damals schon welche – diese geheimnisvolle Datenverarbeitungsanlage in unserem Kopf: das menschliche Gehirn! Aber – wenn sie nun in der Tat die Möglichkeiten und Grenzen dieses Instruments, ihres Gehirns, anfangs noch gar nicht so klar „kannten“? Das menschliche Gehirn ist schließlich – wie mal eine amerikanische Anzeige sehr treffend sagte – „ein Computer, der ohne Bedienungshandbuch geliefert wird“!

Muß es nicht sehr verwirrend gewesen sein, die Welt da draußen zugleich gleichsam auch „im Kopf“ zu haben – eine „innere Welt“, mit der man in Gedanken mühelos schalten und walten konnte.“

Digitus: „Sie meinen – muß der Mensch da nicht auf die Idee gekommen sein, das müsse doch „draußen“ auch gehen: ich sage etwas – und es geschieht wirklich?“

Orakel: „Stellen Sie sich nur einmal vor, ab sofort würde alles, was Sie sagen oder gar bloß denken, auch wirklich geschehen -„

Digitus; „Das wäre allerdings beklemmend!“

Orakel; „So beklemmend, wie manche heute die Vorstellung empfinden, mit Computern zu arbeiten – die „alles tun, was man ihnen sagt“!

Den Mut dazu, sich mit so etwas – damals mit „Magie“ – im Ernst zu befassen, werden also schon damals sehr wenige aufgebracht haben -vielleicht jene, deren Worte bereits „wirkten“, wenn sie zu anderen sagten: Tu dies oder das!“

Digitus: „Aber auch die müssen ja erlebt haben, daß ein anderer sie nicht verstand oder nicht wollte?“

Orakel; „Dann hatten sie eben nicht die „richtigen Worte“ gewählt – oder zu wenig „Macht“ über den anderen: und war es vielleicht genau so zu erklären, wenn die Dinge in der Welt draußen ihnen nicht „gehorchten“? Wie hing denn überhaupt „Wort“ und „Wirkung“, „Name“ und „Ding“, „Zeichen“ und „Bezeichnetes“ zusammen? Da sind Sie aber schon mitten in den Problemen, die jemand auch hat, wenn er einen Computer programmieren will.“

[ABB.3]

Digitus: „So daß die Menschen – auf der Spur der Magie – tatsächlich schon vieles „vorausdachten“, was eines Tages erst mit den technischen Mitteln des Computer-Zeitalters zu verwirklichen war?“

Orakel: „Ja – denn eigentlich erfüllt sich ja erst beim Computer selbst der magische Wunschtraum, daß die „Zauberworte“ wirklich „wirken“: aber damit stehen wir gerade heute auch in der Verantwortung, diese „Magie“ nicht zu mißbrauchen!“

Bildzaubereien

Forenpostings Bilderspielereien

Es wurde irgendwo gefragt „wie seht ihr wohl mit über 50 aus – und ohne Kilos von Schminke ?!“

Da muß ich schon mal in die Bresche hüpfen:

^[was einige bereits kennen…^]

Dies sind beide Versionen von mir zum Vergleich (~2002 = 74 Jahre)

(wie man wohl erkennt, ist das „make-up“ eindeutig minimal bis nicht-existent – es liegt eben an der ‚Natur-Schönheit‘ !)

Die späte HEKATE

Auch schwer gebastelt – aber Original Face 1968: Die reminiszierend montierende HEKATE

Hekate als Monroe

zum 1. April

Dreh mich um!

Wer den Aprilscherz dabei entdecken will, muss das Bild allerdings runterladen und dann am Bildschirm wirklich drehen
oder Spiegel quer unter den Bildschirm halten und das Bild darin anschauen!

Die scherzende HEKATE


Auf verschiedene Fragen inzwischen:
1) Ja, das Foto zeigt tatsächlich mich (zum Karneval 1967)
2) Die nötige kosmetische Madrop (Mund-dreh-Operation) wurde aber nur virtuell am Computerbild ausgeführt
3) Den – außerhalb Fachkreisen noch immer wenig bekannten – Effekt benutzte schon 1974 der US-Wahrnehmungspsychologe IRVIN ROCK, um drastisch zu demonstrieren, daß wir ein gedrehtes Bild nicht als Ganzes, sondern nur in einzelnen Partien „im Geist zurück drehen“.

Die auskunftswillige HEKATE

Hekate mit Katze

In meinen „besten Jahren“ hatten wir immer mehrere Katzen – von der grauen Perserin bis zum Karthäuser.
Wenn ich sie mit dem selbstverständlichen tiefen Respekt behandelte, den ein bloßer Mensch jeder Katze schuldet, akzeptierten sie mich ebenso gnädig als „Frauchen“

wie als „Herrchen“ – vergl. z.B. das „Dialog-Bild“ in Hekates Interview

wie Ihr sehen könnt, zuweilen sogar als Partner auf Fotografien!

Eure (schon rein mythologisch) katzenverbundene HEKATE

Spiel mit der Transparenz-Funktion:
„Phantom-Aufnahmen“
Das war Mitte des vorigen Jahrhunderts noch was Besonderes:
durch exakte Doppelbelichtungen oder -kopien auf einmal in das Innere eines Geräts oder Schrankes „hineinsehen“ zu lassen, als seien Gehäuse oder Türen plötzlich „durchsichtig“ geworden.
Beim Computer-Bild dagegen ist das Ändern der „Transparenz“ einkopierter Objekte eine fast triviale Standard-Funktion; vielleicht grad daher vergißt man oft ihre „schrägen“ Möglichkeiten – wie etwa diese Variante eines Waschmaschinen-Werbefotos:
Lieferung
… unser neues Allzweck-Modell für alleinstehende Herren!“

Warum nicht öfter mal mehr Trans-parenz in Trans-Fotos?
fragt Eure montagefreudige HEKATE

Eine fast unerschöpfliche Ideen-Quelle für „schräge“ Bilder liefert – meist unabsichtlich – das Reich der Werbung; vor allem, wenn man auf ältere Anzeigen oder Fernseh-Spots zurückgreifen und sich an den einstigen Darstellungen von enthusiastischen Hausfrauen, produktglücklichen Familien und unglaubhaftenlichen Schönheiten orientieren kann:

Besonders Bösartige fügen dann noch – wie hier – ihre eigenen Texte hinzu…

Eure nostalgische HEKATE

Ein eigenes – und vielleicht umstrittenes – Kapitel ist das, wofür ich in einem Inteview mal die Formel vom „Mut zum schiefen Maul“ geprägt habe:
„… was ich ‚den Mut zum schiefen Maul‘ nennen möchte: wie oft wollen wir doch bitterernst auf Fotos so “schön” oder “sexy” wie möglich wirken – aber wenn auch Regisseure fest zu glauben scheinen, in komische Situationen gerieten prinzipiell nur dicke oder schinakelige Frauen – das Leben lehrt, dass auch hübsche Mädchen oder schöne Damen mal ausrutschen und hinfliegen oder sonst was Groteskem zum Opfer fallen können: und ich habe es immer für den wahren Test meiner eigenen Fähigkeiten gehalten, sogar dabei noch immer möglichst „weiblich“ zu wirken …“

Das gefallene Mädchen

Von diesem speziellen Beispiel mag jede von Euch halten, was sie will – fest steht aber jedenfalls:

Euer Gesicht ist nicht bloss ein Bildgrund für make-up und Euer Körper nicht bloss ein Substrat für Damengarderobe:
beide sind auch dazu da, Emotionen auszudrücken – und umso bewußter Ihr sie auch dazu nutzt, desto lebendiger werden Eure Fotos wirken!

Eure gern Emotionen zeigende HEKATE

Noch extremer – und folglich umstrittener – sind natürlich Fotos in überdreht grotesken Situationen wie etwa dieses:

„Reisestress“
Anm. Jula: ausgerechnet dieses Bild, an dass ich mich gut erinnere und über das ich auch viel mit Hekate diskutiert habe, fehlt in meiner Sammlung! Sehr ärgerlich!

[Hintergrund montiert – und da grins‘ ich mir selbst über die Schulter!]

Und auch hierzu – nicht zum speziellen Bild, sondern zu der ganzen „Stilrichtung“ – hätte gern Eure Meinungen

die bildstilmeinungsforschende HEKATE^
@Frances, Inga, Mette & all:
Vielen Dank für Eure netten Kommentare!

Nur soll all das nicht den Eindruck erregen, als wolle ich hier in einem Super-Ego-Trip meine sämtlichen Bilder posten! Ich zeig die bloss als Muster für solch „schräge“ Effekte, weil ich für sie das Copyright habe:
und würde mich freuen, wenn auch noch viel mehr von anderen kämen!

Eine spezielle Sorte von „schrägen“ Wirkungen

kann man oft mit sonst gar nicht besonders außergewöhnlichen Bildern erzielen, indem man sie einfach vor einen seltsamen Hintergrund stellt:

wie hier z. B. diese Aufnahme aus einer Karnevals-Autoshooting-Serie [hatte nichts mit selbstmörderischem „Russischem Roulette“ zu tun – sondern hieß simpel: in immer neuen Kostümen und Perücken vor der mit Selbstauslöser ausgerüsteten Polaroid-Kamera herumhopsen]

Anm. Jula: Das Bild liegt mir leider auch nicht vor

Eure – diesmal kosmisch-komische – HEKATE

„Bildverfremdungen“ mit Filtern sind zunächst einmal eher „ästhetisch“ interessant.

„Humor“ kommt (außer bei typischen Verzerrungen a la Goo) erst ins Spiel, wenn die Resultate auch die „Stimmung“ der Bilder überraschend beeinflussen – wie in diesem Beispiel:

Anm. Jula: Das Bild liegt mir leider auch nicht vor

Hier etwa macht das „Collage-Filter“ von Photo Shop aus dem gleichen (zuvor als „Paarbild“ montierten) Original

je nach Wahl der Parameter ganz entgegengesetzte Szenarios:
was natürlich erst in der Gegenüberstellung echt „schräg“ wirkt!

Aber solche Effekte verlangen nicht nur geduldiges Experimentieren – sondern auch ein geeignetes Ausgangsbild!

Die schamlos „effekthascherische“ HEKATE
Wenn die Fantasie abhebt dann kommt sie vielleicht mal auf solche Fragen wie: Warum waren die Drachen in den Sagen eigentlich immer so scharf auf schöne unschuldige Jungfrauen? Und was passierte denen eigentlich, falls sie mal nicht durch irgendeinen edlen Ritter befreit wurden?

Das könnte auf tiefe Spekulationen führen über eine bisher oft totgeschwiegene Perversion „Dragophilie*“ – aber auch zu dem Wunsch, diese fotografisch zu dokumentieren: und dann ist die Versuchung groß, sich dabei auch noch selbst ins Bild zu integrieren:

So etwas ist natürlich nicht jedermanns (bzw. jederdame) Sache – aber könnte dergleichen nicht für manche reizvoller sein als die siebenundsiebzigste „guckt mal, wie ich dastehe“-Aufnahme?

*das ähnlich erschröckliche Thema „Dämonolatrie“ behandelt das Bild „Halloween Horror“

Halloween-Horror

die zuweilen fotografisch fantasierende HEKATE

Animagie

Anm. Jula:
Dieser großartige Text war das erste, was ich von Hekate lesen durfte, nachdem wir uns über das Internet kennengelernt hatten. Er vereint Jung’sche Psychologie und moderne Wissenschaft mit historischen Verweisen. Sie war für mich ab da nur noch Animadame.
PDF-Version zum Download

Zur Vorgeschichte:

Vor 20 Jahren – 1984 – hatte ich für die (leider recht kurzlebige) Computer-Zeitschrift “C4″ mal einen Artikel geschrieben, der mit Bildern und Beispielen den verblüffenden Analogien zwischen “Computer und Magie” nachging (etwa beim altchinesischen Orakelbuch “I Ging”, dessen Gruppen von “Ying”- und “Yang-Linien” genau dem modernen “0/1″-Code entsprechen usf..).

Zwei Jahre später bat ein Redakteur von “ANUBIS – ZEITSCHRIFT FÜR PRAKTISCHE MAGIE UND PSYCHONAUTIK” darum, diesen Artikel für seine Leser nachdrucken zu dürfen und sandte mir dazu ein Musterheft. Ich hatte selten etwas so Erstaunliches gesehen: statt dunkel herumzuorakeln, beschrieben die Artikel dort etwa das Herstellen eines Athame (Hexendolch) oder das Ausführen des “Kleinen bannenden Pentagramm-Rituals” so cool und praktisch, wie es heute etwa die Make-up-Tips von Transgender-Internetseiten mit ihren Themen tun!
Aber auch von meinen Artikeln konnte die ANUBIS-Redaktion scheint’s gar nicht genug bekommen: nachdem sie als nächstes einen noch älteren über “Magie und Werbung” nachgedruckt hatte, fragte sie nach noch mehr – und das, fand ich, war mal eine Gelegenheit, meine Gedanken zum Thema “Anima und Animus” loszulassen: natürlich, als Konzession an diese Leserschaft, immer unter “magischen” Aspekten! 😉

So erschien dort 1987 – in zwei Fortsetzungen – die “Animagie”. Details mögen daher zwar nicht mehr so aktuell wirken (z.B. der Hinweis auf die damalige Schachweltmeisterschaft); aber die Hauptthemen scheinen, wie ihre Internetseiten zeigen, auch heute noch viele Transgender-Personen zu bewegen – und vielleicht können gewisse meiner Ideen dort für manche von ihnen neues Licht auf alte Probleme werfen.

Zum “Titelbild”:

Das habe ich erst viele Jahre später – mit den inzwischen zur Verfügung stehenden Bildbearbeitungs-Programmen – aus den verschiedenen symbolischen Elementen komponiert:
als Hintergrund eine alchymistische Darstellung des doppelgeschlechtlich Weib und Mann vereinenden “Hermetischen Androgyns” aus dem 15. Jahrhundert;
davor links als “ER” mein “idealisiertes Selbstbild” 😉

  • mit den Sybolen des Hongkong-Seidenanzugs (für: “weitgereister Weltmann”), der Pfeife (für: “sympathischer Wissenschaftler”) und der Katze (für: “mysterienkundiger Meister”);
    [zur Abschwächung muß ich aber sagen, dass nicht ich selbst mich so gestylt hatte – sondern ein Fotograf für eine Interview-Illustration!]
    und rechts als “SIE” eine meiner vielfältigen “Animanifestationen”
  • diesmal als coole Karrierefrau, selbstsicher, intellektuell-feministisch, okkult interessiert (aber in alldem manchmal leicht vernagelt) – nicht ohne Humor, aber leider bar jeglichen Charmes: kaum mein idealer Frauentyp – aber gerade darum hatte ich mir extra Mühe gegeben, ihr in Diktion und Darstellung möglichst gerecht zu werden: am Schluß bringt sie sogar den weisen Meister noch auf eine Idee, die er zuvor nicht hatte!
    Animagie

A N I M A G I E

VON VIVIAN

[Anmerkung des Herausgebers: Etwas überraschenderweise war „Vivian“ wie Ritter Epen und Märtyrer Chroniken bezeugen im mittelalterlichen Britannien ein durchaus männlicher Name; die weibliche Form war wie etwa bei jener Fee, die den Magier Merlin schließlich vermöge der ihm abgelauschten magischen Künste mit unsichtbaren Banden fesselte „Viviane“. Doch wie immer man es lesen will, scheint es jedenfalls zum Thema zu passen…]

S(ie): „‚Animagie‘ das klingt zwar irgendwie vielversprechend: aber was soll ich mir darunter eigentlich vorstellen?“

E(r): „Mal ganz allgemein und zugegebenerweise ziemlich trocken gesagt: Die magischen Aspekte jener Komponente in unserer Seele, die jeweils dem entgegengesetzten Geschlecht entspricht also der ‚Anima‘ beim Mann oder des ‚Animus‘ bei der Frau.“

S: „Au weh damit werden Sie es bei mir aber schwer haben: denn erstens mal bin ich überhaupt nicht geneigt, allgemein an solche ‚Seelenkomponenten‘ zu glauben also daran, dass etwa jeder Mann ein Stück Frau in sich herumtragen soll und ich zum Beispiel ein Stück Mann; aber auch falls das was ich ja gern zugeben will in abnormen Fällen manchmal vorkommen mag: dann gehört das ja wohl in die Sexualwissenschaft hat aber doch nichts mit ‚Magie‘ zu tun!“

E: „Wahrhaftig au weh: aber weniger, weil ich es bei Ihnen nun ’schwer zu haben‘ fürchte sondern weil wir jetzt erst mal ganz ‚von unten‘, nämlich biologisch, anfangen müssen: und weil ich Ihnen da einige Fakten mitteilen muss, die Sie was ich schon eher fürchte leicht erschüttern könnten:
wenn Sie nämlich als Frau eben gerade kein ‚abnormer Fall‘ sind, sondern völlig normal dann tragen Sie in der Tat dauernd ‚ein Stück Mann‘ in sich herum: nämlich das an sich ‚männliche‘ Geschlechtshormon Androgen ohne dessen Mitwirkung Ihr ganzer Hormonhaushalt aus den Fugen käme; und alle auch die stinknormalsten Männer haben z.B. nicht nur Brustwarzen (die sie ja eigentlich wirklich nicht brauchten, weil sie nie Kinder säugen) sondern in ihren Samenzellen auch die ‚weibliche‘ Erbanlage, das X Chromosom: sonst könnten sie nämlich nie Töchter zeugen!“

S: „Also Moment mal: die weibliche Erbanlage bekommen die Töchter doch nun wohl von der Mutter!“

E: „Sicher von der bekommen sie das e i n e X Chromosom (aber das bekommen von ihr auch die Söhne) das a n d e r e aber, das zu ‚XX‘ gleich ‚weiblich‘ nötig ist, muss vom Vater kommen: könnte der nur Y Chromosomen liefern, gäbe es jedesmal ‚XY‘ gleich ‚männliche‘ Nachkommen (und in der nächsten Generation müsste die Menschheit dann mangels Frauen aussterben!)“

S: „Aber dieses zweite ‚X‘, das der Mann zuschießt, hatte er sich doch gewissermaßen bloß von seiner Mutter ausgeliehen: Sie haben ja gesagt, dass die Frau auch den Söhnen ein ‚X‘ mitgibt!“

E: „Allerdings ein ausgeliehenes ‚Stück Frau‘ in der Erbmasse, das nun eben auch jeder Mann in sich herumträgt … was Sie aber eben doch gar nicht zu glauben geneigt waren?“

S: „Zugegeben da haben Sie mich ganz schön darangekriegt; aber bloß wegen dieses komischen Erbgangs beim Geschlecht, der überhaupt nicht so funktioniert wie bei anderen Erbeigenschaften!“

E: „Der anders funktionieren m u s s, könnte man sagen, damit immer etwa gleichviel männliche und weibliche Wesen entstehen: sonst bekämen wir nämlich immer drei Viertel von einer (der „dominanten“) Sorte oder, noch schlimmer, jedesmal die Hälfte Zwitter…“

S: „Na ja aber beweist all das nicht eben gerade, dass Sie diese Chromosomen oder auch Brustwarzen oder Hormone eigentlich gar nicht ‚weiblich‘ oder ‚männlich‘ nennen dürften, wenn sie doch bei beiden Geschlechtern vorkommen sondern höchstens allgemein ‚menschlich‘? Und damit bräche doch Ihr ganzes Argument vom ‚Stück Frau im Mann‘ oder umgekehrt wieder zusammen!“

E: „Verzeihen Sie aber jetzt haben Sie sich doch gerade um 180 Grad gedreht: vorhin waren Frau und Mann so himmelweit verschieden, das kein Stückchen ‚Mann‘ in der ’normalen Frau‘ sein durfte und umgekehrt jetzt sind sie auf einmal allesamt ‚Menschen‘, die alle möglichen Eigenschaften, auch die des anderen, kreuz und quer haben dürfen?!
Was überdies wiederum nicht stimmt: Nach wie vor haben z.B. Sie einen Busen und ich nicht ich kann keine Kinder gebären und Sie können keine zeugen „

S: „Aber wenn ich Ihnen die richtigen oder sollte ich sagen: die verkehrten? Hormone einspritzen würde, könnten Ihnen zum Beispiel unter Ihren Brustwarzen, die sie ja wie Sie betonen schon haben, auch Brüste wie bei mir wachsen!“

E: „Nun, wenn Sie wünschen, kann ich Ihnen in der Richtung sogar noch viel mehr bieten: da gibt es zum Beispiel den berühmten Sternwurm (Bonellia viridis), bei dem die winzigen, nur 12 mm großen Männchen fast wie Parasiten an den mehrere Zentimeter großen Weibchen festgesaugt leben.“

S: „Wie idyllisch!“

E: “ aber die eigentliche Pointe kommt erst noch: offenbar muß so ein junges Sternwürmchen dazu aber erst mal ein Weibchen finden; klappt das, saugt es sich an ihm fest und lebt als Männchen findet es aber keins, sagt es gleichsam ‚ick bin doch nich uff Euch anjewiesen‘ und wächst selber zu einem vollwertigen Weibchen aus…“

S: „Was nun was beweisen soll?“
E: „Dass also die grundsätzliche Möglichkeit sozusagen das ‚Potential‘ für beide Geschlechter durchaus im gleichen Wesen liegen kann,“

S: “ wenn es ein Sternwurm ist!“

E: „Aber auch das menschliche Embryo ist in den ersten Monaten zumindest äußerlich geschlechtlich noch völlig undifferenziert: und Rudimente der gegengeschlechtlichen Organe finden sich selbst noch im erwachsenen menschlichen Körper. Erscheint es danach nun so völlig ausgeschlossen, dass ganz analog auch in der ‚Psyche‘ des Menschen, die ja sicher nicht total unabhängig vom Körper existiert, auch gegengeschlechtliche ‚Potentiale‘, Möglichkeiten oder Komponenten existieren könnten und zwar bei jedem Mann und bei jeder Frau?“

S: „Hm ‚wenn man’s so hört, möcht’s leidlich scheinen steht aber immer schief darum‘: denn woran soll man nun eigentlich merken, ob so ein ‚Potential‘ oder so eine ‚Komponente‘ in der Tat ‚gegengeschlechtlich‘ sei?
Angenommen, ich spiele gern (und sogar recht gut) Schach: soll ich dann sagen ‚huch das ist aber eigentlich ganz unweiblich: das muss wohl eine gegengeschlechtliche Komponente in mir sein?‘ Oder ich treffe einen Mann, der mit Begeisterung und zudem besser als ich kocht: sage ich dann ‚ach, da kocht gar nicht der Franz sondern in Wirklichkeit sein weiblicher Seelenteil, seine Anima!‘?
Das hieße doch bloß, vorgefasste gesellschaftliche Rollen Vorstellungen und Stereotype tiefenpsychologisch aufgeputzt zu perpetuieren: und um auf den Ausgangspunkt zurückzukommen mit ‚Magie‘ hätte es schon erst recht nichts zu tun!“

E: „Völlig einverstanden aber gerade deshalb möchte ich ja, dass wir die Frage eben genau herumdrehen: angenommen, wir fänden nun aber gerade typisch ‚magische‘ Aspekte, Phänomene oder Verhaltensweisen, die ‚Weibliches im Mann‘ oder ‚Männliches in der Frau‘ beträfen dann könnten wir doch eher annehmen, dass wir es dort nicht bloß mit oberflächlichen Vorurteilen zu tun hätten, sondern dem Kern der Sache näherkämen?“

S: „Also ich muss schon sagen: Sie haben eine unglaublich raffinierte Art, mich mit meinen eigenen Argumenten immer genau in die Ecke zu zwingen, in die ich eigentlich gar nicht will!“

E: „Aber wenn’s doch ‚Ihre eigenen‘ Argumente sind: ‚zwinge‘ denn dann eigentlich i c h Sie dahin oder zwingen Sie sich damit nicht im Grunde, obwohl Sie es eigentlich ‚gar nicht wollen‘, unbewusst selbst? Aber w a s ist denn nun eigentlich diese ‚Ecke‘, in die Sie ’nicht wollen‘ und w a r u m ‚wollen‘ Sie eigentlich partout nicht in sie?“

S: „Oh Gott, jetzt kommen Sie mir auch noch als psychoanalytischer Sherlock Holmes: ‚Sie haben mir ja selbst die Indizien geliefert also gestehen Sie jetzt auch!‘. Aber warum sollte ich es eigentlich nicht zugeben: Ich bin eben eine Frau und will auch eine sein nicht eine Mischpackung aus weiblichen und männlichen ‚Komponenten‘; genau wie ich etwa in Ihnen einen Mann sehen möchte und nicht da ein Stück Mann und dort ein Stückchen Frau. Und wenn ich mein ureigenstes Wesen weiter entfalten möchte zum Beispiel und gerade auch durch ‚Magie‘ dann will ich das erst recht als Frau tun und dabei nicht auf einmal ‚männliche Komponenten‘ beschwören!“

E: „Warum nicht? Wären Ihnen die etwa ‚unheimlich‘?“

S: „Also den Köder nehme ich diesmal nicht damit Sie sagen könnten ‚unheimlich ist auch magisch und damit hätte ich Sie schon bei einem magischen Aspekt einer solchen Komponente erwischt!'“

E: „Aber Anwesende mal ausdrücklich ausgenommen vielen Menschen könnte doch die Vorstellung, dass sie auch (vielleicht ohne es überhaupt zu wissen) eine gegengeschlechtliche Komponente in sich herumtragen könnten, in der Tat ausgesprochen ‚unheimlich‘ sein? Und wäre das nicht ein verständlicher Grund dafür, dass sie sich sträuben, solch eine Vorstellung überhaupt zu akzeptieren?“

S: „Oh, jetzt wollen Sie mich aber seitwärts von hinten erwischen! Aber das ganze ‚unheimlich‘ haben ja Sie und nicht ich eingeschmuggelt ich frage viel simpler: wozu sollte denn eine gegengeschlechtliche Seelenkomponente in mir eigentlich nütze sein? Bei Ihren X Chromosomen im Mann oder beim Androgen in meinem Körper haben Sie mir biologische Gründe genannt, die ich akzeptieren konnte: aber in meinem ganz persönlichen und dann doch eben durchweg ‚weiblichen‘ Seelenleben?“

E: „Nun ja wenn Sie der einzige Mensch auf der Welt wären und deshalb Ihr Seelenleben auch ausschließlich ‚intern‘ für sich selbst abwickeln müssten, wäre es in der Tat schwer einzusehen, wozu Sie eine solche Komponente brauchen könnten. Nur ist das eben nicht so: Sie sind ständig und jedesmal auch irgendwie ’seelisch‘! mit anderen Menschen involviert, und nicht immer nur mit anderen Frauen, sondern genau so oft auch mit Männern. Wenn Sie nun in Ihrer Psyche überhaupt nichts weiter als ‚Weibliches‘ hätten dann könnten Sie sich zwar auch in andere Frauen ‚einfühlen‘: aber bei Männern könnten Sie das nicht sondern wären gegenüber denen ausschließlich auf das angewiesen, was Sie ‚von außen‘ erfassen könnten: also gerade bloß die von Ihnen zu Recht kritisierten auf gesellschaftlichen Erfahrungen beruhenden Rollen Vorstellungen und Stereotype…“

S: „Klingt wieder sehr einleuchtend bloß widerlegt die Praxis es gleich: ich kann mich zum Beispiel jetzt gerade doch mit Ihnen sehr gut unterhalten, ohne dass ich dazu etwa mein ‚gegengeschlechtliches Seelenteil‘ mobilisieren müsste einfach auf der Basis allgemein menschlicher Wesenszüge, die wir gemeinsam haben!“

E: „Also ich habe zwar wenn Sie mir mal eine persönliche Randbemerkung verzeihen ganz im Gegenteil den Eindruck, die meiste Zeit mit Ihrem ausgesprochen kratzbürstigen ‚Animus‘ zu debattieren, der mir freiwillig keinen Fußbreit Boden zugestehen will, den ich ihm nicht mit strikt ’sachlich männlicher‘ Logik abringen kann „

S: “ was aber Ihre weiblich einfühlende ‚Anima‘ großmütig über sich ergehen lässt?“

E: „Den Teufel täte sie das die hätte längst schon eine Szene gemacht, mit einem schluchzenden „Sie geben sich ja überhaupt keine Mühe, mich zu verstehen!“ wenn ich sie nicht bewusst ständig an der Kandare hielte!
Aber davon mal abgesehen, haben Sie natürlich im Prinzip durchaus recht: allein um sich mit jemand anderen Geschlechts über irgendwas zu unterhalten, brauchte man im allgemeinen noch nicht unbedingt das innere gegengeschlechtliche ‚Seelenbild‘ (da reichten vielfach Ihre ‚allgemein menschlichen Gemeinsamkeiten‘ völlig); aber je mehr die Partner einander nun wirklich ‚als Frau‘ und ‚als Mann‘ verstehen müssen desto unentbehrlicher wird es, dass jeder nun in der Tat auch etwas vom anderen ‚in sich hat‘, auf das er bzw. sie zurückgreifen kann.“

S: „Also jetzt will ich mir, eingedenk Ihrer frustrierten Anima, einmal echt Mühe geben, Sie zu verstehen: damit ich als Frau einem Mann wirklich ‚Partner sein‘ könnte, müsste ich auch das berüchtigte ‚Stückchen Mann‘ in mir haben und er umgekehrt ein Stück Frau? Das ist aber wirklich schwer zu verdauen …“

E: „Vielleicht kann ich es Ihnen an einem Vergleich einleuchtender machen obwohl ich sonst wenig davon halte, von ’seelischen Schwingungen‘ usw. zu reden aber hier passt es, glaube ich, mal wirklich: stellen Sie sich vor, der allgemeine Kontakt zwischen Menschen erfolge so auf einer Art ‚öffentlicher Frequenz‘, die jeder benutzen kann.“

S: „Sozusagen ‚Citizen Band‘?“
E: Genau das wären also Ihre ‚allgemein menschlichen Gemeinsamkeiten‘. Aber nun wollen Sie in einem Bereich kommunizieren, dessen Sender und Empfänger eine andere, ganz spezifische Frequenz haben zum Beispiel eine ‚männliche‘. Das können Sie doch offenbar nur, wenn Sie nun auch Ihren Sender und Empfänger auf diese Frequenz einstellen können und das wieder geht ja nur, wenn auch in Ihrem ‚Apparat‘ ein Schwingkreis ist, der zumindest überhaupt in dieser Frequenz schwingen k ö n n t e auch wenn Sie normalerweise und für Ihre eigenen Zwecke meist eine andere ‚weibliche‘ benutzen?“

S: „Hm so herum habe ich’s allerdings noch nicht gesehen: jeder von uns muss also gewissermaßen außer seinem ‚eigenen Schwingkreis‘ auch noch eine Art ‚Resonanz Kreis‘ fürs andere Geschlecht haben?“

E: „‚Resonanz Kreis‘ ist ganz ausgezeichnet! Denn damit könnten Sie nun sogar verstehen, dass solch ein Resonanz Kreis auch ganz ohne Ihr eigenes Zutun zu schwingen anfangen kann, sobald er von entsprechenden Signalen getroffen wird.“

S: „Also zum Beispiel mein, wie Sie so nett sagten, ‚kratzbürstiger Animus‘, sobald Sie von ‚gegengeschlechtlichen Komponenten‘ zu sprechen anfingen?“

E: „Ja aber nehmen wir ein noch viel allgemeineres Beispiel: da begegnet ein Mann plötzlich einer Frau, die ganz ohne Absicht ‚Signale‘ gibt, die zufällig haargenau auf der speziellen ‚Frequenz‘ seines ‚Anima Resonanzkreises‘ liegen. Was passiert? Er …“

S: „Oh, lassen Sie mich mal das reizt mich: Wie das berühmte Glas, das zufällig vom passenden Ton getroffen wird, fängt er an zu vibrieren: er ist ‚fasziniert‘ und da diese ‚Resonanz‘ ja auch an sich ganz schwache Impulse, wenn sie nur seiner ‚Eigenfrequenz“ entsprechen, immer weiter verstärkt, findet er alles, was sie tut, bezaubernd auch wenn’s der größte Blödsinn ist; kein Mensch um ihn herum kann verstehen, wieso er ihr eigentlich so ‚verfallen‘ ist klar, die anderen haben ja gar nicht diese spezifische ‚Resonanzfrequenz‘ und werden gar nicht angesprochen aber bei ihm schaukelt sich das immer weiter auf: entweder, bis das Glas regelrecht zerspringt: er ruiniert sich für sie oder bringt sich um wie der junge Werther oder bringt sie um wie Don Jose die Carmen; oder aber fast genau so schlimm er ‚kriegt‘ sie: und entdeckt auf einmal, dass sie ja auch ihre eigene Frequenz hat und nicht nur seine und jammert dann fassungslos : ‚das ist doch gar nicht mehr die Frau, in die ich mich verliebt hatte was war da bloß über mich gekommen?!‘ „

E: „Hm und vor nicht allzulanger Zeit hätte man dann gesagt ’sie hat ihn behext‘, einen ‚Liebeszauber‘ praktiziert: ‚philocaptio‘ nannten es Kraemer und Sprenger im ‚Hexenhammer‘, ‚cast a glamour‘ die Angelsachsen was heute noch im Ausdruck „glamour girl“ für den faszinierenden Filmstar fortlebt.“

S: „Ach herrje da habe jetzt sogar i c h Ihnen die ‚magischen Aspekte‘ der ganzen Geschichte vorbuchstabiert!“

E: „Wobei das müssen wir ja auch festhalten die fragliche Dame meist ganz unschuldig an dieser ‚Bezauberung‘ war: denn genau besehen hat sich so ein Mann gar nicht in s i e verliebt sondern in seinen eigenen ‚Resonanzkreis‘ für sie, seine ‚Anima‘, die er wie die Psychologen sagen nur auf sie ‚projiziert‘ hatte.“

S: „Ich fürchte, jetzt werden Sie gleich wieder sagen, es ist mein aufmüpfiger ‚Animus‘ aber ist das nun eigentlich nicht gerade das glatte Gegenteil von dem, was Sie als Sinn unserer ‚Resonanzkreise‘ für das andere Geschlecht nannten? Die sollten uns doch eigentlich helfen, uns wirklich in den Partner ‚einzufühlen‘ und sich nicht selbständig machen und den wahren Partner durch das eigene ‚Seelenbild‘ von ihm (oder ihr) glatt übersteuern?!“

E: „Nein, nein da stimme ich Ihnen völlig bei: nur ist das doch gar kein Widerspruch. Denken Sie doch mal an Ihr geliebtes Schachspiel: da ist doch z.B. die Dame auch eine der Figuren, die dem Spieler am meisten helfen könnte nur fasziniert eben gerade diese ihre Macht den Anfänger oft so, dass sie sein ganzes Spiel ‚übersteuert‘ und er durch exzessive Damenzüge von einem Unheil ins andere gerät.“

S: „Also bei Ihren Vergleichen kann einem schon etwas schwindlig werden: eben war die Anima ein Resonanz Kreis jetzt ist sie eine Schachfigur?!“

E: „Und falls ich sie demnächst mit einem Erkennungs Muster vergleichen sollte, das in einem Computer ganz bestimmte Funktionen aufruft oder mit einer Elementarkraft, die man nur mit bestimmten Ritualen zähmen kann: dann lassen Sie sich nicht verwirren sondern sehen immer den gemeinsamen Kern: etwas, das uns zwar helfen kann aber zunächst einmal keineswegs immer tut, was wir wollen, sondern durchaus eigenen Gesetzen folgt!“

S: „Nein bleiben Sie ruhig mal bei der Dame im Schach: ist die vielleicht in der Tat als einzige und dazu noch so mächtige ‚Frau‘ unter lauter Königen und Rittern und Bauern eine Art ‚Anima Figur‘ in der sonst durchwegs ‚männlichen‘ Streitmacht des Spielers?“

E: „Im arabischen Schach war das ja noch wie Sie sicher wissen ein durchaus männlicher ‚Wesir‘, der allerdings nur in kleinen Schritten um den König herumtrippelte: ‚mächtig‘ weithin übers Brett zu schweifen begann sie aber wirklich erst, als sie im Abendland eine ‚Dame‘ wurde im Schach ‚a la dama‘, das so Mitte des 15. Jahrhunderts aufkam interessanterweise gerade nachdem ein paar Jahrzehnte zuvor wirklich eine Frau auf einem männlichen Schlachtfeld mit seltsamer Macht den Sieg heraufbeschworen hatte: Jean d’Arc die Jungfrau von Orleans.“

S: “ die man daraufhin denn ja auch prompt als Hexe verbrannte!“

E: „Vielen Dank Sie geben mir immer so nett selbst die Stichworte zum Thema ‚Magie‘ dabei, mit dem ich mich sonst beim Schach vielleicht etwas schwerer getan hätte aber immerhin spielte bei Johannas Prozess ja gerade das ‚Unweibliche‘ ihres Verhaltens (ein ‚Animus Aspekt‘?) eine große Rolle „

S: „Bitte inzwischen haben Sie mich von Ihrer ‚Animagie‘ in der Tat schon halb überzeugt! Aber wenn die Schach Dame wirklich eine ‚Anima Figur‘ wäre hieße das dann, dass Schachmeister, die sie virtuos zu führen wissen, auch eine entsprechende Kontrolle über ihre eigene ‚Anima‘ hätten?“

E: „Ich fürchte ganz im Gegenteil: gerade bei den letzten Schachweltmeisterschaften hatte man ja genug Gelegenheit, an solchen Meistern genau das zu beobachten, worin sich bei Männern eben gerade eine ‚unkontrollierte Anima‘ manifestiert nämlich, wie man gemeinhin sagt, ‚Primadonnen Allüren‘! Das meine ich gar nicht unbedingt negativ: je stärker gerade der bewusste Stress wird, unter dem ein Mensch steht, desto tiefer muss er in die Reserven seines Unbewussten greifen und da findet sich eben bei den meisten Männern eine gar nicht bewusst akzeptierte und entsprechend ‚un kultivierte‘ Anima, die sich dann (statt als schlachtenrettende Jean d’Arc) eher wie ein hysterisches Frauenzimmer gebärdet…“

S: „Wenn ich jetzt lachen musste dann nicht über Sie; mir kam bloß eben der Gedanke: wenn wir nun auch gerade in der Magie Szene immer wieder Sachen erleben, die verzweifelt an Kulissen Intrigen zwischen Operetten Soubretten gemahnen sind da etwa auch mangelhaft beherrschte Animas hehrer Meister im Spiel?! Und meinen Sie etwa auch deshalb, dass wir uns mehr mit ‚Animagie‘ befassen sollten?“

E: „Sicher wohl auch aber bis jetzt haben wir ja eigentlich nur von den unkontrollierten, gewissermaßen den ‚Poltergeist Aspekten‘ von Anima und Animus gesprochen: und das kratzt ja nun allenfalls nur die Oberfläche des ganzen Komplexes an.“

S: „Allerdings liegt mir nun auch schon die ganze Zeit die Frage auf der Zunge, ob Sie meinen, dass man Animus oder Anima auch gezielt ‚beschwören‘, evozieren und magisch nutzen könnte?“

E: „Genau da wird’s ja eigentlich interessant aber das müssen wir auf das nächste Mal vertagen: für heute nur die freundschaftliche Warnung machen Sie sich vorsichtshalber noch auf ein paar neue Schocks dabei gefasst…!“

A N I M A G I E (II)
VON VIVIAN

[Fortsetzung des Dialogs:]

S(ie): „Also – so richtig verdaut habe ich Ihre Sache mit ‚Animus‘ und ‚Anima‘, fürchte ich, immer noch nicht: Eingeleuchtet hat mir zwar: wenn ich als Frau einen Mann wirklich so verstehen, mich so ‚in ihn einfühlen‘ möchte, wie das für eine echte Partnerschaft unerlässlich ist – dann geht das ja wohl nur, wenn ich in der Tat auch in meiner eigenen Psyche einen Zugang zum ‚Männlichen‘ habe; und wenn ich mir umgekehrt von meinem männlichen Partner wünsche, dass er sich genau so in mich einfühlt – dann kann ich ja schlecht zugleich von ihm verlangen, dass er eben nur strikt „100 % Mann“ sein müsse … „

E(r): „Das wäre ja auch im Grund nur ein Gegenstück zu der alten magischen Doktrin von jedem Menschen als ‚Mikrokosmos‘, der eben stets den ganzen ‚Makrokosmos‘ – mit all seinen Planeten, Elementen und Kräften – in sich begreìft: warum dann also nicht erst recht auch etwas so Lebenswichtiges wie das andere Geschlecht?!“

S: „Sehen Sie, jetzt wird’s mir schon wieder unklar: meinen Sie nun,
das sei wirklich eine neue – oder vielleicht sogar altehrwürdige – echte Art von ‚Magie‘: bei der ich nun zum Beispiel meinen männlichen Seelenteil, meinen ‚Animus‘ – oder Sie Ihre weibliche ‚Anima‘ – ähnlich mit speziellen Ritualen ‚aufrufen‘ könnte wie etwa die Kräfte eines Planeten oder Elements – oder ein Beschwörer einen Dämon? Oder reden Sie nur von psychischen Phänomenen, die bloß in gewissem Sinn ‚Gegenstücke‘ – mit bestimmten Analogien oder Ähnlichkeiten – zu magischen Konzepten oder Praktiken wären?“

E: „Da könnte ich mich zwar schon elegant mit C.G.JUNGs These ‚magisch ist bloß ein anderes Wort für psychisch!‘ aus der Affaire ziehen – aber ich möchte das Problem ruhig etwas präziser fassen: wenn wir bei zunächst ganz ‚un-magisch‘ erscheinenden Dingen anfangen – dann bemerken, dass im Zusammenhang mit ihnen immer wieder Vorstellungen oder Verhaltensweisen auftauchen, die solchen in der ‚Magie‘ verblüffend ähneln – und schließlich sogar entdecken, dass genau diese oft auch ganz eindeutig als echte Magie angesehen wurden oder werden – was sollen wir dann sagen?!“

S: „Bloß wird’s eben schon bei Ihren ‚Übereinstimmungen für mich kritisch, weil ich doch einen grundsätzlichen Unterschied sehe: in der – ich möchte mal sagen – ’normalen‘ Magie könnte ich doch, eben weil ich als Mikrokosmos eben auch den ganzen Makrokosmos in mir habe, dessen Kräfte aufrufen, unbeschadet, ob ich nun eine Frau bin oder ein Mann. Aber wenn wir in Ihrer ‚Animagie‘ nun gezielt die psychischen Energien des gerade entgegengesetzten Geschlechts aufrufen wollten: hieße das nicht, dass wir danach – drastisch gesagt – überhaupt ’nicht mehr wissen, ob wir eigentlich Männchen oder Weibchen sind‘?!“

E: „Sie meinen: das eine entspräche allemal durchaus noch unserer eigenen Natur – während das andere nun geradezu im Widerspruch dazu stünde?“

S: „Ja – etwa das meine ich!“

: „Oh je – da müssen wir wirklich noch mal ganz von vorn anfangen: Das ganze Konzept von Anima und Animus besagt doch gerade, dass es eben a u c h zur ‚Natur‘ des Menschen gehört, einen psychischen Zugang zum ‚entgegengesetzten‘ Geschlecht zu haben und zwar gerade ‚in meiner Eigenschaft als Mann‘ einen Zugang zum Weiblichen, weil ich nur dadurch eine nicht bloß äußerliche – anatomische oder gesellschaftliche – sondern wirklich ‚innere‘ Beziehung zur Frau finden, also meine ‚männliche‘ Funktion als ihr Partner voll erfüllen kann – wie das umgekehrt natürlich ebenso auch für Sie gerade in ‚Ihrer Natur als Frau‘ gilt! Das geht also keineswegs ‚auf Kosten‘ unseres eigentlichen Geschlechts – etwa nach dem Schema ‚bei 20% Weiblichem in meiner Psyche bleiben nur noch 80% Männliches übrig“ – sondern eher gerade umgekehrt: wenn diese 20% fehlen würden, wäre ich eben auch als Mann bloß zu 80% ‚funktionsfähig‘ statt zu vollen 100%! Wobei ich Sie allerdings bitten muss, diese ‚Prozent-Rechnung‘ nicht wörtlich, sondern nur als Analogie zu nehmen – “

S: „Gut – aber wenn nun (auch wieder als Analogie) ein Mann 80% oder gar 100% ‚weiblichen Seelenanteil‘ hätte – wenn also seine ‚Anìma‘ das Männliche in seiner Psyche völlig dominieren würde: wäre das dann nicht eben ein Homosexueller?“

E: „Das können Sie zwar sogar in manchen psychologischen Büchern lesen – bloß passt es überhaupt nicht: ein Mann, der sich eben gerade nicht den Frauen, sondern anderen Männern zuwendet – der benutzt doch seine ‚Anima‘, seinen Zugang zum Weiblichen eben gerade n i c h t; ich würde sogar sagen, er ‚traut‘ eben ihr nicht als Brücke zu Frauen – sondern verlässt sich statt dessen lieber auf das ihm ‚vertrautere‘ Männliche in sich und seinen gleichfalls männlichen Partnern. Dass sich bei manchen dieser Männer dann ihre derart gleichsam ‚arbeitslos gewordene‘ Anima rächt, indem sie nun jene ‚zickigen‘ Wesenszüge produziert, die zum populären Bild der ‚Tunte‘ gehören – das ist erstens ja keineswegs die Regel: ’seriöse‘ Homosexuelle distanzieren sich meist sogar regelrecht davon (im Grunde vielleicht, weil sie eben gegen j e d e Art von Anima-Aktivität zutiefst misstrauisch sind); und zweitens ist es selbst da eher das Symptom einer ‚verdrängten‘ (und dadurch ‚außer Kontrolle geratenen‘) Anima – als etwa einer ‚dominanten‘, die selbst die Kontrolle übernommen hätte! Die finden Sie vielmehr bei einer durchaus anderen Art von Personen: nämlich bei den ‚Transsexuellen‘ – die empfinden, ‚eigentlich‘ Frauen zu sein, deren ‚weibliche Seele‘ nur zu Unrecht in einen männlichen Körper geraten sei: und nun alles daransetzen, diesen ‚Fehler‘ zu korrigieren, um endlich ‚ihrer wahren Natur gemäß‘ leben zu können…“

S: „Na ja – Christine Jorgensen und so weiter: aber das sind doch schließlich Spezialfälle, die eben erst in unserer heutigen Gesellschaft – mit ihrer sich wandelnden Auffassung der Geschlechter-Rollen und ihrer modernen Medizin, Hormonforschung und Chirurgie akut wurden – “

E: „Eben gerade nicht: Das Phänomen einer solchen ‚Anima-Besessenheit‘, die einen Mann zwang, sich als Frau zu fühlen – und so weit wie nur irgend möglich auch als solche zu ‚leben‘ – fand sich vielmehr zu allen Zeiten und gerade auch bei den verschiedensten ‚Naturvölkern‘ (bei denen man es nun wirklich nicht etwa als ‚Dekadenz-Erscheinung‘ abtun konnte) derart oft – am besten zitiere ich gleich BURCHARD ‚dass es sich um eine global verbreitete, schlechthin allgemein menschliche Entwicklungsmöglichkeit handelt, deren Manifestation von den tatsächlich vorhandenen kulturellen Bedingungen unabhängig zu sein scheint…’”

S: „O.k. – haben Sie mich mit Ihrer überlegenen Weisheit mal wieder abgeführt – aber wo steckt nun die ‚Magie‘ dabei?“

E: „Kommt sofort – ich zitiere weiter: ‚Wie BAUMANN gezeigt hat, genießen diese Transsexuellen unter paläoasiatischen, altmediterranen, indianischen, ozeanischen und afrikanischen Stämmen hohes Ansehen als Schamanen, Priester, Zauberer – Personen mit übernatürlichen Kräften, die man fürchtet und verehrt. … Bei den Navaho gelten sie als große Führer, weil sie männliche und weibliche Fähigkeiten in sich vereinigen.”

S: „Also – um es mal per Karl May zu sagen – ‚Tante Droll‘ statt Winnetou als Indianerhäuptling?!“

E: „Vielleicht eher ‚Medizinmann‘ – obwohl gerade jene Fälle am bemerkenswertesten sind, wo solch ein ‚Transsexualismus’ nicht etwa gleich von Jugend an vorlag: sondern ein stolzer und gefeierter Krieger – meist nach einem ‚göttergesandten Traum‘ – erklärte, von nun an als Weib leben zu müssen, und trotz aller Vorhaltungen bei diesem Entschluss blieb, der dann dem ganzen Stamm als heilig galt – “

S: „Eine Art ‚ Mid-life-crisis‘, bei der auf einmal seine – bisher vielleicht gewaltsam ignorierte – ‚Anima‘ nun eruptiv durchbrach?“ E: „Möglicherweise – aber Sie brauchen nur mal versuchen, sich vorzustellen, dass etwa ein erfolgreicher Manager unserer Tage das gleiche tun wollte: dann verstehen Sie, warum ich Ihre Meinung, Transsexualismus sei doch was, das ‚erst in unserer heutigen Gesellschaft akut‘ geworden sei, schon recht amüsant fand!“

S: „Zugegeben, dass so etwas all diesen ‚Naturvölkern‘ weitaus ’natürlicher‘ erschienen sein mag als uns: aber bestätigt all das auf der anderen Seite nicht gerade meine Befürchtung, dass eben solche ‚Animagie‘ zwangsläufig ein Auflösen, ja geradezu ein Aufgeben der eigenen Individualität bedeuten müsste?“

E: „Moment mal: wenn Sie fragen, was passieren würde, wenn sich ein Mann ‚zu 100%‘ nur noch mit seiner Anima identifiziert – dann dürfen Sie ja kaum darüber erschrecken, dass er d a b e i auch konsequenterweise eben alles übrige ‚aufgeben‘ müsste! Aber solch eine ‚Besessenheit‘ – ob nun durch eine ‚Anima‘ oder im klassischen Sinne durch einen ‚Dämon‘ – ist ja zwar ein ‚magisches Phänomen‘: aber schwerlich eine ‚magische Praktik‘ – bei der man ja gerade durch sehr sorgfältig eingehaltene ‚Rituale‘ der Gefahr begegnen will, unversehens ‚in die Gewalt‘ dessen zu geraten, das man da magisch ‚aufruft‘!“

S: „Aber die ‚Gefahr‘ dafür geben Sie doch damit zu?“

E: „Ja du lieber Himmel – die ist aber doch bei jeder Art von ‚Magie‘ vorhanden! Übrigens nicht nur da: auch schon wenn ich ganz ‚unmagisch‘ bloß ein Streichholz anzünde, könnte ich damit eine Feuersbrunst auslösen – wenn ich mich ungeschickt genug anstelle! Sobald überhaupt irgendeine Form von Energie – ob nun physische oder psychische – d a ist, gibt es natürlich im Prinzip auch die Gefahr, dass sie Unheil stiften könnte: aber die besteht sogar – oder erst recht – wenn ich ‚vorsichtshalber‘ so tun wollte, als gäbe es sie gar nicht! Schließlich kann Feuer sogar ausbrechen, wenn ich gar nie eín Streichholz anrühre – und eine ‚ignorierte‘ Anima beim Mann oder ein ‚verleugneter‘ Animus einer Frau kann wahrscheinlich sogar gefährlichere Auswirkungen haben, als ihr bewusstes Akzeptieren.”

S: „Akzeptieren – also z.B. Streichhölzer, mit den nötigen Vorsichtsmaßregeln, zum Feuermachen benutzen – ist aber ein Ding: ‚magisch‘ nutzen – also etwa ein ‚Feuer-Ritual‘ praktizieren – dagegen doch noch ein anderes! Sie haben mich ja im Grunde durchaus schon überzeugt, dass wir auch unseren ‚gegengeschlechtlichen Seelenbereich‘ nicht etwa leugnen, sondern ‚akzeptieren‘ sollten – aber warum nun darüber hinaus auch noch ‚magisch‘ mit ihm herumexperimentieren?“

E: „Wenn das eine Grundsatzfrage sein soll – dann muss ich natürlich antworten: ob sich jemand mit einer bestimmten Art von Magie – wie überhaupt mit Magie! – befassen will, ist selbstverständlich immer eine persönliche Entscheidung, ohne dass es Gebote gäbe, ‚warum er das sollte‘! Wenn Sie aber Ihr ‚Warum‘ nur im Sinne von ‚aus welchen Motiven heraus meinen: dann erinnern Sie sich doch nocheinmal daran, dass die erwähnten ‚Anima-Besessenen‘ danach eben nicht bloß einfach als ‚Frauen‘ galten, sondern als ‚Personen mit übernatürlichen Kräften – weil sie männliche und weibliche Fähigkeiten in sich vereinten‘; also gleichsam – im Bild unserer ‚Prozentrechnung‘ von vorhin – eben nicht weitere 80% Anima‘ s t a t t ihrer vorherigen ‚80% Mann‘, sondern noch
d a z u – was 80 + 80 = 160% ergäbe statt der üblichen 100% anderer Menschen!“

S: „Aber eben um den hohen Preis der ‚Besessenheit‘!“

E: „Nur ist ja eben das ganze Konzept aller ‚evokatorischen‘ Magie, einen solchen ‚Ich-Zuwachs‘ auch zu erzielen, o h n e diesen Preis dafür zu bezahlen: indem man die zusätzlichen Mächte eben, durch geeignete Rituale, nur zeitweise und strikt kontrolliert ‚aufruft‘ – und danach auch ebenso formal wieder ‚entlässt‘.“

S: „Das hieße hier also: als Mann seine weibliche ‚Anima‘ – oder als Frau ihren männlichen ‚Animus‘ – jeweils nur zu bestimmten Gelegenheiten oder in bestimmten Zusammenhängen, dann aber auch viel intensiver als normal ‚herauszurufen‘ (oder meinetwegen auch zusätzlich in die Psyche ‚hereinzurufen‘)? Aber was für ‚Rituale‘ könnten sich dazu nun eignen?“

E: „Am nächsten läge da wohl FRAZERs klassisches ‚Law of Similarity‘: ‚like begets like‘ – Gleiches erzeugt Gleiches, Ähnliches ruft man durch Ähnliches hervor – „

S: „Können Sie das auch etwas konkreter sagen?“

E: „Mit einem einschlägigen Beispiel aus FRAZERs ‚Goldenem Bogen‘:
wenn ein Baum keine Früchte trägt, könnte das – meinen die Galelareeser – daran liegen, dass er sich für männlich hält; also binden sie ihm einen Weiberrock um, damit er sich für eine Frau halten und damit entsprechend fruchtbar werden soll…“

S: „Also jetzt muss ich doch erst mal tief Luft holen – wollen Sie damit sagen, dass etwa die Verkleidungsspäße von Mary und Gordy im Grund ein ‚animagisches Ritual‘ wären?“

E: „Nun – so viel oder so wenig, wie es ‚Magie‘ ist, wenn Siegfried und Roy in Las Vegas auf offener Bühne einen Tiger verschwinden lassen! Beides ist natürlich Show-Business – aber bezieht es nicht eben, gerade als Show-Business, seine Faszination doch im Grund aus dem ‚Magischen‘, mit dem es spielt – hier die ‚Magie‘ des Verschwindens, dort die ‚Magie‘ des Sich-Verwandelns?“

S: „Dennoch werden Sie sich schwer tun, mich zu überzeugen, dass etwa Schwänke wie ‚Charleys Tante‘ oder ‚Tootsie‘ eine tiefe magische Bedeutung hätten!“

E: „Warten wir’s ab – immerhin wissen wir ja seit FREUD, dass auch hinter ‚Witzen‘ oft durchaus ernste Probleme stecken: so ernste sogar, dass man sie eben gerade deshalb unter einem Witz versteckt! Und wenn das alte Testament in 5. Mose 22 donnert: ‚Es soll nicht Manns Zeug auf einem Weibe sein, und ein Mann soll nicht das Gewand eines Weibes anlegen, denn wer irgend solches tut, ist ein Greuel im Angesicht Jehovas‘ – dann hielt es so etwas doch offenbar für alles andere als bloß einen harmlosen Jux?
Aber wenn Ihnen solche ‚Animaskeraden‘ erst mal zu unseriös erscheinen, können wir auch nur mit dem anfangen, was ja nun zu jeder ‚Evokation‘ nötig ist – nämlich mit einem N a m e n:
Da gab es etwa in London Ende des vorigen Jahrhunderts den Literaten WILLIAM SHARP, dessen Kunst- und Literaturkritiken in der Tat meist so scharf waren, wie es seinem Namen entsprach. Zugleich hatte er aber von Kind an eine tiefe Liebe zur geheimnisvoll-urtümlichen Natur Schottlands, die er gern in ‚keltischen Romanzen‘ dargestellt hätte; doch das gelang ihm erst, als ihm bei einem Aufenthalt dort auf einmal – wie er selbst sagte, ‚ready made‘ – der weibliche Name FIONA McLEOD in den Sinn kam: unter dem dann diese Werke entstanden – von denen kein geringerer als der spätere Literatur-Nobelpreisträger YEATS schrieb ‚ihre Kunst ist von jener großen Art, welche auf Offenbarung beruht und mit unsichtbaren und ungreifbaren Dingen zu tun hat’…“

S: „Nun ja, eben ein – wenn auch zugegeben etwas seltsam gewähltes – Pseudonym – „
E: „In diesem Fall doch wohl mehr: ‚ich kann mir so vom Herzen schreiben, wie ich es niemals tun könnte als William Sharp …‘ notierte er, und später ‚immer ausgesprochener werden W.S. und F.M. zwei Personen, bald vereint im Geist und zusammen ein Wesen, bald deutlich voneinander unterschieden‘ – schließlich wechselte er, wie seine Frau berichtet, sogar an jedem seiner Geburtstage Briefe mit ‚FIONA‘, in denen er ‚ihr‘ seinen Dank für die schöpferischen Quellen sagte, die sie ihm eröffnet habe – und ’sie‘ ihm darauf antwortete – „

S: „Ach – eine wirkliche Frau hatte er also auch?!“

E: „Wieso nicht? Sind Sie immer noch auf dem Trip, Umgang mit der Anima hätte zwangsläufig eine Art Entmannung zur Folge? Er war sogar sehr glücklich verheiratet – übrigens mit seiner Cousine – „

S: „Und was hielt die nun aber von ‚FIONA‘?“

E: „Offenbar sehr viel: denn in der Tat wurde die Identität von ‚FIONA McLEOD‘ mit WILLIAM SHARP, die vorher niemand geahnt hatte, überhaupt erst durch das Memoir zu seinem Andenken bekannt, das sie 1910 nach seinem Tod veröffentlichte…“

S: „Na schön – aber ich weiß jedenfalls nicht, ob ich in einer Art Dreiecks-Ehe mit einem Mann und seiner personifizierten Anima leben möchte, mit der er seelenvolle Briefchen wechselt – „

E: „Dann dürften Sie aber überhaupt keinen Autor heiraten, der mehr als pure Reportagen schreibt – denn sobald in seinen Werken auch Frauen vorkommen, die irgendetwas tun, sagen oder fühlen, das e r sich ausgedacht hat: wo ist da eigentlich noch der Unterschied zur ‚Fiona‘, mit der Sharp Zwiesprache hielt? Man macht sich meist doch gar nicht klar, dass die meisten großen ‚Frauengestalten‘ der Literatur – vom Gretchen im Faust bis zu Ibsens Nora – eben gar k e i n e ‚Frauen‘ sind: sondern nur die Autoren selbst in ihrem Versuch, ‚Frauen darzustellen‘ – und wie weit sind wir da eigentlich noch von Mary und Gordy?!“

S: „Na ja – das liegt aber doch nur daran, dass die Literatur eben
Jahrhunderte hindurch nur von Männern dominiert worden ist und die wirklichen Frauen nicht zu Wort kommen ließ – au verdammt, nein, umgekehrt ist’s ja genau so schlimm: der Rhet Butler in ‚Vom Winde verweht‘ ist in Wirklichkeit auch nur Mrs. Mitchells Animus in Hosen – und da die Männer in den Büchern unseren modernen Autorinnen ja genausowenig ‚echt‘ sind, werden wir entsprechend viel davon für ein ’neues Verhältnis von Frau und Mann‘ profitieren! Das ist allerdings ein echter Hammer: die ganze Weltliteratur als Transvestiten-Show – !“

E: „Sagen wir vielleicht etwas milder: als ständige ‚Anima‘- oder ‚Animus-Evokation‘! Seltsamerweise habe ich das ausgerechnet so klar bei einem Dichter formuliert gefunden, der heute fast unzeitgemäß ‚mannhaft‘ erscheint – dem Offizier und Landedelmann Börries von Münchhausen im Prolog zu seinen ‚Balladen und ritterlichen Liedern‘, wo er schrieb:
‚Männer schuf ich und schuf stille Frauen
Und erlöste Mann in mir und Weib,
Denn mit wunderlichen Selbstvertrauen
gab ich meine Seele jedem Leib… ‚
Das eigentlich ‚Magische‘ ist für mich dabei aber: nach allen ‚Regeln der Kunst‘ muss es doch schiefgehen, wenn jemand über etwas schreiben will, was er selbst nie erlebt hat – ein echter Kriminalkommissar findet einen Schnitzer nach dem anderen bei seinen erdachten ‚Kollegen‘ in Kriminalromanen – und wer selbst mal Manager war, muss meist darüber grinsen, wie sich Autoren das ‚Managen‘ vorstellen! Warum aber schüttele ich dann nicht auch ständig den Kopf über die männlichen Hauptpersonen in ‚Vom Winde verweht‘ – wieso protestieren Schauspielerinnen nicht laufend, dass sie sich als wirkliche Frauen mit den erdachten Frauengestalten männlicher Autoren doch gar nicht identifizieren könnten? Wieso hat jede von ihnen im Gegenteil sogar gerade da ‚Traumrollen‘, die sie unbedingt einmal ‚verkörpern‘ möchte – warum würden viele Männer gern Rhet Butler sein? Fasziniert sie gerade der – wie Sie so nett sagten – ‚Animus in Hosen‘, oder die Schauspielerin all die ‚Animas in Röcken‘?“

S: „Sie meinen – ‚erweitert‘ es nicht nur das Ich des Autors, wenn er sein gegengeschlechtliches Seelenteil ‚evoziert‘: sondern auch unser eigenes, wenn wir uns dann – eben gerade als Person des anderen Geschlechts – darin gespiegelt sehen? Da ist sicher etwas dran: ich glaube zum Beispiel, dass die meisten Frauen, wenn sie die Wahl hätten, sich von einer anderen Frau – oder aber von einem Mann portraitieren zu lassen, lieber sehen würden, wie ein Mann sie ’sieht‘ – „

E: „Da geben Sie mir gleich wieder ein Stichwort: das berühmteste ‚Frauenportrait‘ aller Zeiten ist ja wohl die Mona Lisa mit ihrem geheimnisvollen Lächeln. Nun hat aber jüngst die US-Computerspezialistin LILLIAN SCHWARZ ein Rötel-S e l b s t-Portrait LEONARDO DA VINCIs – da er ja meist in Spiegelschrift schrieb – gleichfalls seitenverkehrt gespiegelt und dann Punkt für Punkt mit dem Gesicht der ‚Mona Lisa‘ verglichen: und ohne Bart- und Brauen-Haare lagen Haaransatz, Augen, Wangen, Nase – und die weltberühmten Lippen! – exakt übereinander! Hat Leonardo da in Wirklichkeit ’seine gespiegelte Anima‘ gemalt?“

S: „Also – da würde ich aber nun nicht zuviel hineingeheimnissen! Vielleicht hat er auch bloß – rein technisch – vor dem Spiegel mal Licht und Schatten auf seinen eigenen Lippen skizziert, um diese spezielle Art von Lächeln (das die arme Lisa beim stundenlangen Modellsitzen ja nicht dauernd gezeigt haben wird!) richtig hinzukriegen – „

E: „Aber wäre es selbst dann nicht eigenartig, dass ausgerechnet dieses ‚männliche‘ Lächeln auf weiblichen Lippen die Menschen nun seit Jahrhunderten derart fasziniert? Wirkt da nicht doch wieder irgendwo die Magie der evozierten Anima?“

S: „Nun ja – dass schöpferische Künstler oft auf die innere Kraftquelle ihrer Anima – und Künstlerinnen dann wohl auf die ihres Animus zurückgreifen, und dass die sich dann auch, mehr oder minder deutlich, in ihren Werken spiegeln: das könnte man ja nun auch so verstehen, dass man eben in jeder ‚Schöpfung‘ eine Art von ‚Zeugungsakt‘ sieht, bei dem ‚männliche‘ und ‚weibliche‘ Elemente einander befruchten ?“

E: „Genau das war ja nun ein zentraler Gedanke aller ‚gnostischen‘ Lehren der Spätantike – und von der ‚Gnostik‘ führen ja nun direkte Wege zur ganzen mittelalterlichen Magie wie auch zur Alchymie: wo ‚Hermaphrodit‘ oder ‚Androgyn‘, mannweibliche Doppelwesen, immer wieder als Symbole der ‚Materia prima‘ – oder des ‚Steins der Weisen‘, der aus ihr entsteht – auftauchen – „

S: „Was Sie nun sicher gleich wieder als pure ‚Animagie‘ deuten wollen?! Aber statt dass Sie mir jetzt in das weite Feld der Alchymie davonpreschen, möchte ich doch lieber das weiterverfolgen, was ich eben eigentlich im Sinn hatte: schöpferische Künstler – oder auch alchymistische Adepten – mögen ja nun wirklich recht intimen Umgang mit ihrem ‚gegengeschlechtlichen Seelenteil‘ haben. Aber wo bleiben dabei nun gewöhnliche Sterbliche, die nicht immer gleich unsterbliche Werke oder den Stein der Weisen schaffen?
Könnten auch die ihre Anima oder ihren Animus evozieren – und wie?“

E: „Sie meinen sozusagen ‚Animagie für den Hausgebrauch‘?
Da gäbe es neuerdings eine ganze Menge von Möglichkeiten: zum Beispiel wurde jetzt eine Art Computerspiel ‚Alter Ego‘ populär, in dem man als Mann oder Frau einmal ein ganz anderes hypothetisches Leben durchspielen kann (übrigens auch ein sehr ‚magisches‘ Konzept, das Sie in vielen alten Legenden finden); da brauchten Sie nun nur die Diskette für das andere Geschlecht einzulegen – um zwangsläufig ihren Animus ‚ins Spiel zu rufen‘.
Oder: gerade vor kurzem hörte ich von einem Fotobuch der Fotografin SYLVIA VOSER, ‚Identity‘ – mit dem Untertitel ’27 Männer und Frauen entdecken sich in der eigenen und der anderen Geschlechtsrolle’…“

S: „Schon interessant – aber Computer und Fotos haben ja nun schwerlich eine lange ‚magische‘ Tradition?“

E: „Da könnte ich Ihnen zwar auch gründlich widersprechen: vom ‚erzenen Haupt‘, das alle Fragen beantwortet (und das von Albertus Magnus bis zu Gerbert d’Aurillac so ziemlich allen mittelalterlichen Weisen zugeschrieben wurde) bis zur ‚magischen‘ Scheu des Naturmenschen vor dem Fotoapparat, der mit seinem Bild auch seine Seele einfangen könnte! Aber in gewissem Sinne haben Sie schon recht: nur kommen wir dann eben zu dem Thema, an das Sie vorhin partout nicht heranwollten – die jedermann zugänglichen ‚Hausmittel‘ zur Evokation von Anima oder Animus waren eben von altersher die Kleidungstücke des anderen Geschlechts!“

S: „Aber wenn es für jemand nicht bloß ein Jux ist, die anzuziehen, sondern bitterernst: ‚Fetischismus oder ‚Transvestitismus – dann sind das doch sexuelle Perversionen – keine Magie!“

E: „Entschuldigung – aber das ist ja nun reines Wortgeklingel: ’sexuell‘ heißt doch nur, dass hier irgendwie das Geschlecht im Spiel ist – und ‚Perversion‘ eigentlich bloß ‚anders als gemeinhin üblich‘! Nach dem Schema könnte ich mit gleichem Recht etwa Astrologie eine ‚astronomische Perversion‘ nennen – oder sogar, da ja die meisten Menschen eher Horoskope lesen, als wirklich Sterne beobachten, die Astronomie eine ‚astrologische Perversion‘! Ich fände es viel aufschlussreicher, wenn wir diese Fälle statt dessen einmal nach ‚magischen Konzepten‘ betrachten: trägt dann der Mann, der unter seiner ’normalen‘ Kleidung ein Stück Damenwäsche anhaben muss, nicht eigentlich ein ‚Anima-Amulett‘ – das ihn irgendwie der ständigen helfenden ‚Präsenz‘ seines weiblichen Seelenteils versichern soll?
Oder vollzieht – im anderen Extrem – jener, der sich hinter verschlossenen Türen vor dem Spiegel in stundenlanger Andacht Punkt für Punkt, vom falschen Busen bis zu Make-up und Perücke, als elegante Dame herrichtet, nicht ein regelrechtes ‚Evokations-Ritual‘: in dem seine Anima schließlich ganz analog sichtbar ‚erscheint‘, wie ein heraufbeschworener Geist oder Dämon?“

S: „Nun – meinetwegen: aber dann müsste sie ja auch irgendwas entsprechend wunderbares für ihn tun?“

E: „Darf ich mal wieder zitieren – nicht etwa einen sanften Poeten, sondern einen 31jährigen Eisenbahnangestellten: ‚Die wunderbare Wirkung der Frauenkleider ließ mich noch den nächsten Tag bei der Arbeit zittern. Die Welt erschien mir klar, friedlich und heiter. In einem Glücksrausch ging ich unter den verlöschenden Sternen zur Arbeit. Obwohl ich nur die Hälfte meiner Energie anwandte, verrichtete ich die Arbeit von drei Personen…“‚

S: „Entschuldigen Sie – das klingt aber für mich doch eher wie ein schwärmerisches Frauenzimmer!“

E: Oder noch ein Zitat: ‚Durch die geheimnisvolle Kraft dieses Gewandes‘ – diesmal eine enganliegende schneeweiße Robe, fußlang und mit einem Gürtel gebunden, über seidener Unterwäsche – ‚lege ich einen Schutzpanzer des Heils an, die Kraft, mein Vorhaben zu vollbringen…“
‚ S: „Anscheinend allemal gleich pathetisch!“

E: „In der Tat verblüffend ähnlich: nur war das diesmal die Beschreibung der Kleidung, die laut dem 4. Buch von AGRIPPA VON NETTESHEIMs ‚Okkulter Philosophie‘ der Magier zu seinem Ritual anzulegen hat – und die Formel, mit der er sich dann seinem Werke weiht, aus dem berühmten Grimoire ‚Lemegeton – oder der kleinere Schlüssel Salomos‘.“

S: „Bei Salomo: das hätte ich doch ahnen müssen, dass Sie – oder Ihre raffinierte Anima? – mich schließlich mal wieder richtig hereinlegen würden! Aber ich muß mich geschlagen bekennen: Gewänder sind also wirklich auch etwas ‚Magisches‘ – und anscheinend sogar umso mehr, je femininer sie sind! Aber wieso nun gerade das?“

E: „Dazu hat nun der Historiker ROBERT GRAVES – Sie wissen: ‚Ich, Claudius, Kaiser und Gott‘ und so weiter – in seiner Darstellung der griechischen Mythen eine interessante These aufgestellt: in der Jungsteinzeit, führt er aus, stand die gesamte Religion noch allein im Zeichen der ‚Großen Göttin‘ – deren Kult, eng mit dem des Mondes verbunden, damals ausschließliche Domäne der Frau war: während die Männer sich nur mit harmloseren Dingen wie Jagen, Fischen, Viehhüten und, gelegentlich, Kämpfen befassen durften. Die jeweilige Mond-Priesterin erwählte zwar periodisch eine Art ‚Prinzgemahl‘ – der aber anfangs nach Ablauf seiner ‚Amtszeit‘ regelmäßig bei Fruchtbarkeitsriten sein Leben opfern musste (bìs diese Amtszeit allmählich immer weiter verlängert und endlich zum Königtum auf Lebenszeit wurde). Zunächst durfte er die Priesterin aber höchstens gelegentlich bei manchen ihrer magischen Funktionen vertreten, wenn sie ihm dazu gestattete – jetzt kommt es – i h r e magischen Roben anzulegen, mit denen auch ihr ‚Mana‘ zeitweise auf ihn überging!“

S: „Holla – steckt das etwa sogar noch in der heutigen ‚Investitur‘ des Priesters: der ja, wenn ich’s mir recht überlege, auch eine Art ‚feminine Robe‘ anbekommt?“

E: „Ganz bestimmt spiegelt es sich jedenfalls – sagt GRAVES – noch in der höchst seltsamen Episode des Herkules-Mythos, in der ausgerechnet dieser antike ‚Super-Mann‘ im Dienst der Königin Omphale Löwenfell und Keule ablegt und statt dessen an ihrem Hof in Frauengewändern, mit weiblichem Schmuck und Kopfputz am Spinnrocken sitzt: was dann die ‚klassischen‘ griechischen Schreiber später nur noch als Allegorie dafür verstehen konnten, dass eben selbst ein öffentlicher Held zuhause manchmal zum bloßen ‚Pantoffelhelden‘ werde (in der Tat verdrosch ihn nämlich Omphale angeblich, wenn er mit seinen Heldenpratzen den Spinnfaden zerriss, mit ihrem goldenen Pantoffel).
OVID allerdings gab für diese Überlieferung eine ‚Erklärung‘ eher im Stil einer französischen Schlafzimmer-Farce: danach hätte Omphale nämlich bloß den nach einer heißen Liebesnacht eingeschlummerten nackten Herkules mit ihrem seidenen Gewand zugedeckt zurückgelassen, als der Gott Pan, der sich in Omphale verliebt hatte, in das dunkle Gemach schlich, die Gestalt unter der Seide zärtlich umarmte – und prompt von dem erwachenden Herkules mit einem gewaltigen Fußtritt hinausbefördert wurde; nur aus Rache für diese Blamage habe Pan dann überall herumerzählt, der Heros laufe neuerdings perverserweise in Frauenkleidern herum!“

S: „Wahrhaftig – fast so eine Szene gab’s doch in ‚Manche liebens heiß‘ auch: nur hatte ich keine Ahnung, dass sie so ein ‚klassisches Vorbild‘ hatte!“

E: „Ja – an diesem Beispiel können Sie aber nun fast wie ein Archäologe bei einer Ausgrabung die einzelnen ‚historischen Schichten‘ der Reihe nach ‚abtragen‘ – oder wenn wir mal umgekehrt ‚von unten‘ anfangen:
Der ursprüngliche Zusammenhang – wo es für den Prinzgemahl der Mond-Priesterin in der Tat eine hohe Ehre (und wahrscheinlich sogar ein profundes ‚magisches Erlebnis‘) war, sie in ihren Roben ‚vertreten‘ zu dürfen – war in der Zeit des Patriarchats bereits völlig ‚zugeschüttet‘: da erschien es vielmehr als eine ausgesprochene Peinlichkeit, einen männlichen National-Heros in Frauengewändern ‚erniedrigt‘ zu sehen – und da er so etwas nun auf Herkules nicht sitzen lassen wollte, ließ sich OVID anstelle dessen eine bloße Kleider-Verwechslungs-Komödie a la ‚Charleys ‚Tante‘ einfallen: womit dann auch Ihre entrüstete Frage von vorhin beantwortet wäre, ob ich Ihnen etwa solche Schwänke als ‚Beispiele für Animagie‘ offerieren wolle!
Tatsächlich können Sie aber z.B. in der Filmkomödie ‚Tootsie‘ das Urmuster sogar noch unverfälschter wiedererkennen: wenn der kleine Schauspieler auf einmal – sobald er sich (‚aus bloßem Jux‘?) ins Damenkostüm geworfen hat – als ‚großer Star‘ herauskommt: ist das nicht das frappierende Gegenstück zu unserem ‚Prinzgemahl‘ unter dem magischen Mana der Priesterinnen-Robe?!“

S: „Ich kapituliere – Sie haben’s wieder mal geschafft: und sogar so ganz en passant auch noch erklärt, warum das Haus zwar ausverkauft ist, wenn sich ‚Mary und Gordy‘ als ‚Damen‘ präsentieren – während kaum ein Hahn danach krähen dürfte, wenn zwei Frauen als ‚Herren-Imitatoren‘ auftreten wollten…“

E: „Entdecke ich da bei Ihnen gar eine neue Spielart feministischen Unmuts?! Dann bedenken Sie aber gerechterweise auch, dass diese ‚Asymmetrie‘ ja nun gerade auf eine Menschheitsperiode zurückgeht, wo offenbar eben wir Männer eindeutig ‚im zweiten Rang‘ standen! Aber vielleicht tröstet es sie, dass auf altägyptischen Reliefs umgekehrt auch die Königin Hatschepsut – um ihre Pharaonenwürde anzudeuten – mit einem Spitzbart dargestellt wurde und wahrscheinlich zu zeremoniellen Anlässen auch wirklich einen solchen falschen Bart tragen musste?“

S: „Was zumindest heutigen Königinnen und ähnlichen Würdenträgerinnen erspart bleibt – während ihr bedauernswerten Männer euch noch immer in wallende Roben hüllen müsst, um als Pfarrer, Kardinäle, Richter, Magier oder Gurus wenigstens ein Stückchen von unserem ‚Animana‘ abzuzweigen? Falls Sie sich nicht überhaupt gleich für Ihr nächstes Ritual etwas von meiner Garderobe ausborgen möchten – ?!“

E: „Vielen Dank – aber da Sie, wie ich konstatiere, gerade einen sehr schicken Hosenanzug tragen, wäre ich mit dem dann ja auch nicht weiter als schon in meinen Herrenhosen – „

S: „Touche – wollen Sie sagen: wir Frauen evozieren in unserer Kleidung ja heute schon unseren ‚Animus‘ ganz routinemäßig, während ihr Männer euch das bei eurer Anima noch immer höchstens in Ausnahmefällen traut? Vielleicht sollten wir uns als Zeichen der Gleichberechtigung auch gleich noch falsche Spitzbärte a la Hatschepsut zulegen … ?
Aber damit haben Sie mich jetzt noch auf was ganz anderes gebracht: wenn – wie Sie sagen – nun zur ‚vollen‘ Frau eben auch ihr ‚Animus‘ gehört – dann müssten Sie ja in Ihrer ‚Anima‘, um sich mit ihr wirklich auf die Frau einstimmen zu können, gleichfalls wieder ein korrespondierendes Unter-Stückchen ‚Animus‘ haben: und das müsste dann, da es ja dem Mann entsprechen soll, auch wieder eine Unterabteilung ‚Anima‘ haben – und so weiter in einer unendlichen Schachtelfolge, an der ESCHER oder HOFSTADTER ihre Freude hätten! Und um das übrigens – im Sinne magischer ‚Korrespondenz‘ – zu symbolisieren: müßten Sie sich dann nicht eben gerade doch meinen Hosenanzug ausborgen?“

E: „Donnerwetter – jetzt hat sich unser Gespräch aber wirklich gelohnt: Sie haben natürlich völlig recht – mein ‚Resonanzkreis‘ für das Weibliche müsste mir natürlich auch sagen, wie nun wiederum die Frau auf mich reagieren würde: das heißt aber doch, welche Resonanz ihr ‚Animus‘ gegenüber mir hätte – schließlich schrieb ja nicht nur SHARP Briefe an ‚FIONA‘, sondern ‚FIONA‘ schrieb ja auch an ihn zurück, obwohl ’sie‘ ja im Grund ’seine‘ eigene Anima war! – und das geht ja eigentlich nur, wenn auch in meiner eigenen Anima wiederum ein Animus-Resonanz-Element steckt…
Das sind ja ganz neue Perspektiven – denn zu alledem müsste es ja auch die entsprechenden ‚animagischen‘ Gegenstücke geben: wäre eine derart ‚androgyne Anima‘, in der auch wieder ein ‚Animus‘ steckt, und in dem wieder dessen ‚Anima‘ usf. – bzw. ihr Widerpart bei der Frau – etwa nun tatsächlich der ‚Stein der Weisen‘, in dem die Gegensätze zusammenfallen – ‚coincidentia oppositorum‘ – nicht indem sie sich gegenseitig ‚auflösen‘, sondern sich gleichsam unendlich ineinander verschränken? Und wäre es diese unendliche Verschränkung, die sich etwa in den -zig mal zu wiederholenden Operationen des ‚magnum opus‘, des ‚Großen Werks‘ der Alchymie spiegelt?
Darüber muss ich erst mal gründlich nachdenken – und wenn unser Gespräch, mit seinem parallelen Dialog auch zwischen Ihrem Animus und meiner Anima, mich dazu angeregt hat, kann ich mich nur bei allen (zwei, vier – oder unendlich vielen?) Beteiligten dafür bedanken … „

HEKATE – „Senior“ plus „Seniorita”

Interview mit einem eigenwilligen Alt-Crossdresser

Unter dieser Überschrift ist ein Interview mit meiner lieben, klugen Freundin Hekate in dem Buch „Geliebtes alter Ego“ von Daggi Binder erschienen, zu dem Hekate ein lesenswertes Vorwort geschrieben hat.

Mein geliebtes alter ego

Cover des Buches von Daggi Binder

„Welche Freude, wenn es heißt:
Alter, du bist alt an Haaren,
blühend aber ist dein Geist!“
(Lessing, Die 37. Ode Anakreons)

FRAGE: „HEKATE” – das klingt sehr altertümlich ?

HEKATE: Durchaus mit Absicht! Denn da gab es bei Robert Graves – das war auch der mit „Ich, Claudius, Kaiser und Gott” – eine faszinierende These zu den griechischen Mythen: Einst, In der übergangszeit vom Matriarchat zum Gottkönigtum, durfte der Prinzgemahl der herrschenden Mondpriesterin sie bei bestimmten Riten vertreten – aber nur, wenn er ihre geweihten Roben anlegte! Und die „Hekate” der Griechen war eine direkte Nachfolgerin der uralten Mondgöttin.

Hekate

F.:Also eine Art Schutzpatronin Deines Crossdressing?

H.: Ja – es passt alles so schön: geboren bin ich im Zeichen des Krebses, das traditionell der (als weiblich geltende) Mond beherrscht – doch der stand da genau in Opposition zur (männlichen) Sonne. Die griechische Hekate konnte „zwischen den Welten reisen” – gerade so wie ich! – und wurde dreigestaltig dargestellt: als zarte Maid, reife Frau und alte Vettel – und ich hab mich meiner Mutter zum ersten Mal, allerdings schon als „femme fatale”, mit 12 Jahren präsentiert, die meisten meiner Damenbilder zeigen mich mit 40 bis 45 Jahren, doch heute bin ich 77…

F.: Noch immer „aktiv”?

H.: Dazu nachher mehr – der Name soll zudem aber andeuten, dass ich eben keine „KISS-ME-KATE” bin, sondern eine „HE-KATE”! Ich frag mich oft, warum andere Crossdresser kaum analog „doppelbödige” Namen wählen – o.k., eine „Schöne HE-LENA” wär vielleicht etwas happig: aber, um mal bloß bei A zu bleiben, warum keine „ERANITA”, „ERANNY” oder „ERANNETTE”?

F.: Also „Gleichberechtigung” des Männlichen schon im Namen?

H.: Warum nicht? Ich verstünde zwar voll , wenn unsere „verwunschenen Prinzessinnen”, die Transsexuellen, nach ihrer „Erlösung” jede Erinnerung an den einstigen „Mann” auslöschen wollten. Aber warum sollten Crossdresser, die stolz darauf sind, sich ihres „weiblichen alter ego” nicht mehr zu schämen, nun andererseits ihr „männliches alter ego” wie etwas beinahe Ehrenrühriges verstecken? Ich z.B. hab als Manager und Freiberufler, Gatte und Vater traditionell „männliche Rollen” ebenso freudig ausgefüllt, wie ich dazwischen gern „Hekate gespielt” habe! Mir hat an dem Projekt hier von Anfang an imponiert, dass alle Teilnehmer ihre in beiden „Versionen” gleich offen präsentieren – in der Tat gehören ja auch beide zu unserer Persönlichkeit!

F.: Deshalb „präsentierst” Du Dich sogar gern auf dem gleichen Bild als Frau und als Mann – wie nebenan als „Diskussions-Partner”?
Animagie

Doppelte Hekate auf dem Titelbild des wundervollen Animagie-Dialoges, der hier als Download zu finden ist.

H.: Dort sollte das zwar zwei ganz bestimmte Typen „portraitieren” (wobei der weibliche davon nicht unbedingt mein „Ideal” war!). Aber ich gebe gern zu, meine beiden „alter egos” mögen einander – besonders nachdem ich vor vielen Jahren Witwer wurde – sehr gern: wofür die einige Psychologen eine neue grässliche Perversion erfunden haben, die „Autogynephilie”! Das Seltsame dabei ist nur: wenn die beiden „egos” einander im Gegenteil partout nicht ausstehen könnten, wäre das zwar keine Perversion, aber dafür eine Psychose – kurz verliert und lang bezahlt!

F.: Bei Dir weiß man oft nicht, wo der Ernst aufhört und der Spaß anfängt?!

H.:Oder umgekehrt – beides wie im Leben auch! Das gilt z.B.: von dem, was ich „den Mut zum schiefen Maul” nennen möchte: wie oft wollen wir doch bitterernst auf Fotos so „schön” oder „sexy” wie möglich wirken – aber wenn auch Regisseure fest zu glauben scheinen, in komische Situationen gerieten prinzipiell nur dicke oder schinakelige Frauen – das Leben lehrt, dass auch hübsche Mädchen oder schöne Damen mal ausrutschen und hinfliegen oder sonst was Groteskem zum Opfer fallen können: und ich habe es immer für den wahren Test meiner eigenen Fähigkeiten gehalten, selbst dabei noch immer möglichst „weiblich“ zu wirken und nicht wie ein „verkleideter Mann“. Warum trauen sich nicht mehr Crossdresser, öfter auch mal solchen Ulk auszuprobieren? Da könnte vielleicht vieles netter, lustiger und natürlicher wirken als in der 137. „Model“-Pose …

F.:Aber Du wolltest noch verraten, ob Du auch heute noch „crossdresserisch” aktiv bist?

H.: Von einem berühmten japanischen Kabuki-Schauspieler wurde erzählt, er habe sich erst im hohen Alter reif genug gefühlt, graziöse junge Mädchen ideal darzustellen. So talentiert fühle ich mich nicht: wenn ein Jubelgreis sich als alte Schachtel oder gar als Spätlese-Teenager herrichten wollte, muss nicht mehr unbedingt ein Kunstwerk herauskommen – auch wenn er das noch immer möchte! Als ich 70 wurde, hab ich das Problem mit meinem „geliebten Alter Ego” durchgesprochen – und es sagte mir: Schau – in der Lebensmitte hatten wir zwar zusammen eine schöne Zeit – aber eine schöne Jugend hab ich, in Drittem Reich, Krieg und Nachkriegszeit, nie gehabt ! Doch jetzt gibt’s Computer, Bildbearbeitung und wunderschöne Programme zum Testen von Make-up und Frisuren – warum „creierst” Du mir damit nicht, aus Deinen Jugendfotos, nachträglich das „ideale Jungmädchen-Leben”, das wir versäumt haben?!

F.: Also „virtuelles Crossdressing” am Bildschirm?
Junge Hekate

In der Oper

Hekate als Mädchen

H.: Ich weiß, dass „ge-fake-te” Bilder bei den meisten Crossdressern nicht hoch im Kurs stehen (verständlich, falls einer Pfunde wegschwindeln will, indem er seinen Damenkopf auf den Körper der „Miss Universum” setzt!) -aber hier ist das doch etwas anders: da wird ein Stück Lebensgeschichte „rekonstruiert”, die möglich gewesen wäre – ähnlich,. wie wenn z.B. ein Autor eigene „Jugend-Möglichkeiten” in einem Roman durchspielt: das würde man kaum ein „fake” nennen – sondern eher „creative Umsetzung”!

F.: Wäre das auch Deine Empfehlung für andere Crossdresser im Alter?

H.: Götter, wer bin ich, anderen was zu „empfehlen”?! Immer älter werden wir zwar alle – aber fertigwerden muss damit jede(r) auf seine eigene Art!

Für mich jedenfalls war meine durchaus erfolgreich: etwa konnte ich so bei einer sehr lieben Verwandten (einer keineswegs verklemmten, aber von Natur eher keuschen Jungfrau-Geborenen – das gibt’s) nach vielen Jahrzehnten endlich mein weibliches Alter Ego „outen” – als „virtuelles Schwesterchen” nahm sie es sofort in die Familie auf: ja als ich ihr jüngst zum 91. Geburtstag eine Karte ausdruckte, auf der gleich vier unterschiedliche solche Schwesterchen ihr im Reigen gratulierten, ging diese im Kreis der eingeladenen alten Damen von Hand zu Hand – und alle fanden den Einfall und seine Ausführung „entzückend”: auch ein kleiner Sieg auf dem Weg zu Akzeptanz des Crossdressing!

F.: Hekate – vielen Dank für Deine Anregungen und dies Gespräch!

HEKATES Abschied vom Forum

Anm. Jula: bereits im Krankenhaus liegend übermittelte Hekate diesen Text über ihre Freundin Elle an die Forist*innen

Hekates Communiqué an die Gemeinde « am: 29. August 2007, 01:07:00 am
Folgende Zeilen hat mir Hekate heute in die Feder gesprochen…

Liebe Gemeinde,

erst jetzt komme ich endlich dazu, Euch einmal persönlich anzusprechen, nachdem ihr Euch in der Zwischenzeit mit Communiqués von Freundinnen begnügen mußtet.

Da ich nichts davon halte, Dinge zu verschönern, die nicht besonders schön sind, hier kurz und brutal die Sachlage: Ich habe ein inoperables Karzinom in der Lunge, das nicht auf Bestrahlung und -wie wir inzwischen wissen- auch nicht auf Chemotherapie anspricht. Die weitere Entwicklung ist dem Schicksal überlassen.

Dies ist keine Tragödie, mitten aus dem vollen Leben heraus gerissen zu werden, auch wenn man noch viele Dinge vor sich hat. Ich hatte ein langes, schönes und in vielem auch erfolgreiches Leben, das ich Jedem von Euch auch gönnen würde.

Ein Schock, wie beim Kaninchen vor der Schlange ist überflüssig, so etwas mag es geben, wenn man mitten aus einem aktiven Leben haraus gerissen wurde. Mit neunundsiebzig Jahren kann man sich damit abfinden, den Rest in Ruhe zu erleben. Ich freue mich, daß mir meine letzten Jahre noch Gelegenheit gaben, so viele liebe Menschen wie Euch kennen gelernt zu haben und vielleicht dem Einen oder Anderen noch eine Freude gemacht zu haben und will versuchen, dem Wahlspruch meines Lieblingsautors Curt Goetz nachzueifern:

„Das Höchste wäre es, mit Humor sterben zu können.“

Ob es mir gelingt, weiß ich noch nicht, werde mir aber Mühe geben.

Die Zeit, die mir noch bleibt, werde ich versuchen, zusammen zu tragen, was Euch und uns von Nutzen sein kann. Um einem das Leben nicht unnötig schwer zu machen, hört sich gut an, ich habe nur meinen Zweifel, ob dies von Erfolg gekrönt ist.

In diesem Sinne übergebe ich Euch das nicht gerade vollständige, teilweise skandalöse, aber zum Teil auch vielleicht für Manche nützliche Vermächtnis der

ollen Hekate

Antwort #1

Deine Hellsichtigkeit und Dein unpathetischer Ton machen die Nachricht nicht weniger traurig, auch wenn Du es uns leichter machen möchtest.

Insoferne hoffe ich, da ich ja nicht glaube, auf einen Zufall, einen Irrtum, eine Laune der Natur, die Dir plötzlich doch weiteren Aufschub, mehr Kredit, vielleicht bloß mehr Überzugsrahmen gibt. Das Schicksal hat ja keinen Witz, aber hin und wieder feinen (?) Humor…

Was immer nun gewünscht werden kann, wünsche ich Dir, Hekate, vor allem aber, daß Du Deine bewundernswert würdige Weise nicht zu verlieren brauchst, was auch kommen mag.

Mit Kotau, C

[fett| ]

Antwort #2

Hekate!

Ich finde die Zeilen aus deinem Munde großartig, wenn nicht sogar grandios. Ich hoffe, dass du dir diese entspannte Haltung bis zum Schluss aufheben kannst, das es geht habe ich schon miterlebt. Mach das was dir Spaß macht und ärgere die Zivis und Schwestern nicht so doll!

Gute Reise und weiche Landung!
wünscht
Die Sarah :*

Antwort #3

Mach keinen Mist, Hekate! Kannst dich doch hier nicht einfach so davonstehlen wollen. Nee, nee, das geht nicht; schließlich wirst du hier noch gebraucht.

Ohne deine hilfreiche Hand kommt der Schüttelreimthread gar nicht weiter, und deine klugen Ausführungen fehlen in allen anderen Threads auch. Also reiß dich zusammen und beehre uns weiter mit deiner Weisheit!

Aber egal, was du planst oder wozu du gezwungen wirst: behalte deine Gelassenheit. Dein Weisheit wird dich ohnehin nie verlassen!

Cyrano, ein Fan…

Antwort #4

schön, daß Hekate einen Gruß für Alle hat. Es waren ja schon Einige bei ihr zu Besuch und manche nahmen und nehmen sogar ne lange Anfahrt in Kauf.

Hoffentlich schafft Hekate es öfter uns von Zeit zu Zeit mit ihren zauberhaften Nachrichten zu erfreuen.

Gibt es eine bessere Form mit dem Leben fertig zu werden, als mit Liebe und Humor? (Charles Dickens) Wenn man dem dicken Charles glauben kann (ich tus) dann ist Hekate auf dem richtigen Weg

Antwort #5

Hallo Hekate,

ich hoffe wir lesen noch viel von Dir, auch wenn die Zeit davon tickt.

Vielen Dank auch noch für die Fotomontagen die Du mir seinerzeit geschickt hast. ich hab Sie immer noch.

Liebe Grüße Anna

Antwort #6

Die von Cristin angesprochene Würde ist etwas, was ich an Dir, liebe Hekate, in der Tat bewundere – neben dem Sinn fürs Geschriebene im Verbindung mit einem gewissen Augenzwinkern.

Ich freue mich auf Deine Beiträge!

Vanja

Antwort #7

Ohje.. Ich weiß gar nicht was ich hier schreiben kann, da ich eigentlich mehr die niemals ernste Spaßtranse bin. Aber diesen Beitrag zu ignorieren kann ich auch nicht. Ich wünsche dir einfach mal für jeden Tag einen neuen Geburtstag! Auf dass du noch viele Geburtstage feiern wirst

Alles liebe Jessica

Zitat von ﻪﺟاﻮﺧ ﻦﯾﺪﻟاﺲﻤﺷ ﺪﻤﺤﻣ ﻆﻓﺎﺣ یزاﺮﯿﺷ : Über Sein und Nichtsein sei Kummerlos und sorgenfrei; Denn von jedem Sein, wie hoch, ist Nichtsein das Ende doch. (aus dem Persischen von Friedrich Rückert)

Antwort #8

Hallo Hekate,

Dein beredtes Stillschweigen über einen längeren Zeitraum war für mich in letzter Zeit Anlass genug um mir Sorgen zu machen. Und wie recht ich hatte lese ich – leider – aus deinem Communiqué.

Wir beide sind ja – wie Du weißt – altersmäßig nicht allzuweit von einander entfernt. Ich sehe mit großer Erleichterung, dass Du mit Dir und dem was auch immer vor Dir liegt im Reinen bist.

Ich grüße Dich mit großer Hochachtung vor Deiner beispielhaften Kraft.

Herzlichst Claudia

Antwort #9

hallo Hekate, wie die richtigen worte finden? darüber zerbreche ich mir seit gestern den kopf. gibt es überhaupt die richtigen worte ? bestimmt! ich wünsche dir für den rest deiner zeit alles gute, viel kraft und stärke und vor allem liebe freunde die dich begleiten, lieben und unterstützen. verliere nie den glauben und behalte bis zuletzt deinen wunderschönen humor, der uns so sehr erfreut und verzückt. im moment ist mein herz ganz bei dir.

diana becks

Antwort #10

Nur zwei Dinge

Durch so viel Form geschritten, durch Ich und Wir und Du, doch alles blieb erlitten durch die ewige Frage: wozu?
Das ist eine Kinderfrage. Dir wurde erst spät bewußt, es gibt nur eines: ertrage – ob Sinn, ob Sucht, ob Sage –dein fernbestimmtes: Du mußt.
Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere, was alles erblühte, verblich, es gibt nur zwei Dinge: die Leere und das gezeichnete Ich.
Gottfried Benn

Antwort #11

Hallo,
Hekate hat heute von ihrer Tochter die hier versammelten Antworten auf ihre Worte überbracht bekommen. Sie hat sich riesig gefreut, wie sie sich auch über weitere Worte (und auch den einen oder anderen zukünftigen Besuch) freuen wird…

Herzlich,

Elle+++

Antwort #12

Bin jetzt endlich mal dazu gekommen, diesen Thread durchzulesen und fühle mich schmerzlich an meine Mama erinnert Ich wünsche Dir, liebe Hekate, auch wenn ich Dich nicht kenne, eine gute Landung, viel Liebe, und sag bitte meiner Mama, daß ich sie vermisse und ganz doll lieb habe.

Mehr kann ich momentan mit Kloss im Hals und verweinten Augen nicht sagen.

Liebe Grüße Die Orientalmaus

Antwort #13

Zitat von: Cyrano am 29. August 2007,16:38:50 pm […] Ohne deine hilfreiche Hand kommt der Schüttelreimthread gar nicht weiter, und deine klugen Ausführungen fehlen in allen anderen Threads auch. Also reiß dich zusammen und beehre uns weiter mit deiner Weisheit! […]

Liebe Hekate, ich kann mich meinen Vorrednerinnen und Vorrednern nur anschließen. Ich wünsch dir alles alles Liebe und Gute. Und wie Cyrano schon geschrieben hat … der Schüttelreimthread stagniert ein wenig. Ich mein´ ich bin auch ganz gut darin Auf alle Fälle mal besser als die anderen Mädels und Jungs hier im Forum . An deine Klasse reiche ich natürlich nicht ran. Insofern muss ich noch ein wenig in deine „Schule“ gehen und noch fleißig lernen … also erst mich noch ein wenig in Sachen „Schüttelreim“ unterrichten … und dann sehen wir weiter. Ich halte die Augen offen hier im Forum nach deinen grandiosen Beiträgen

[fett|Antwort #14]

Antwort #14

Also Frau Hekatner,
so geht das nicht … so nicht, gell!

Sie sind anscheinend net in der Lage die zur Gesundung geforderten 31.487 Millionen male ihr „Hecki Hecki Patang“ vernünftig aufzusagen. Stattdessen lassen sie sich vom Salber einen quacken und verfassen moribunde Communiqués.

Als 2. Beischläferinsitzerin des örtlichen Gesundsprechvereines kann ich ihnen nur raten, solch ein lächerliches Karzinömschen umgehend unter den Tisch zu trinken. Wenn die Abbarätschens des ihnen zugeteilten Kassenarztes versagen, hülft nur Hülfe zur Selbsthülfe. Geben sie dem vermeintlichen Schicksal einen ordentlichen Tritt in den Anus, damit es sich seiner Verantwortung bewusst wird und schauen sie mit starrem Blick nach vorne … dorthin wo die Tafel mit der Aufschrift „Tumor ist, wenn frau trotzdem lacht!“ hängt.

Ich schlage vor, dass ich die Sache einmal persönlich mit ihnen anlässlich meiner Nemberch-Vorortseiung am 22.9. bespreche. Bitte teilen sie ihren flinken Heroldinnen mit, ob meine Anwesenheit erwünschet sei.

Wokommerdenndasonsthin … Frau Babsner

Anspieltip: „You only live twice“ – Nancy Sinatra

Antwort #15

Liebe Hekate,

ich bin froh, daß wir uns noch kennen lernen konnten. Du hast mich sehr beeindruckt:

Dein interessantes Leben, Deine Anima und wie Du mit ihr umgegangen bist, Deine tollen/wissenschaftlichen/unterhaltsamen/lehrreichen/… Texte, Deine Lebensweisheit und vor allem Dein Geist und Humor.

Du bist ein großes Vorbild und wirst mir fehlen, ich werde Dich nicht vergessen und unsere Sache weiter vorantreiben.

Nach meinem Eindruck hast Du Deinen Humor, trotz Deiner Situation, nicht verloren. Ich bin mir sicher, daß Du Deinen Humor auch nicht verlieren wirst.

Ich wünsche Dir alles Liebe und Gute sowie noch eine schöne Zeit, laß es Dir richtig gut gehen.

Viele liebe Grüße
Maya

Antwort #16

Hallo Hekate,

ich habe eine Weile gebraucht um zu wissen ob ich was schreiben soll oder nicht. Denn gerade dieses Thema weckt in mir einige schmerzhafte Erinnerungen an verluste von Menschen die ich sehr geliebt habe. Dazu kommt, dass wir uns nicht wirklich kennen außer von ein paar Threads hier im Forum.

Jedenfalls schicke ich Dir all meine Kraft, damit Du weiterhin mit Deiner momentanen Einstellung Dein Leben genießt. Wie gesagt ich habe schon ein paar Menschen begleitet und diejenigen die den Mut und die Kraft hatten sich davon nicht unterkriegen zu lassen haben gute Zeiten verlebt.

Mit tiefen und herzlichen Wünschen Jennifer

Anm. Jula: Hekate konnte das Forum nie mehr besuchen. Vom Krankenhaus übersiedelte sie in ein Hospiz, wo sie kurze Zeit später verstarb.

Um 1940: Anima regt sich

Vorab: 4 Absätze “Theorie”… [Auszug aus einem meiner Artikel]

Die “ANIMA” bildet oft die gegengeschlechtliche (und i.a. “unbewußte”) “Ergänzung” zu einem ( i.a. “bewußten”) völlig a n d e r e n “Seeleninhalt”:
nämlich der “PERSONA”, also dem “Bild”, der “Rolle” oder zuweilen sogar nur “Maske”, die ein Mensch nach außen hin gegenüber anderen “präsentiert” – und oft genug, weil stets die Gefahr besteht, in einer solchen Rolle “aufzugehen”, zugleich auch nach innen hin gegenüber seinem eigenen Ich:
anders gesagt, also jene Schnittstelle, an der Gesellschaft und Kultur entscheidend – und oft unheilvoll – in das Seelenleben des Individuums “hineinlangen” können.

So finden wir beim Mann oft eine einseitig und überzogen “männlich” geprägte “PERSONA”, die bei vielen Männern den Anspruch erhebt, ihre gesamte Persönlichkeit zu darzustellen, aber – gleichsam als “Opposition im Untergrund” dazu – eine (ohnehin vorhandene, aber in diesem Zusammenhang besonders wichtige) kompensatorische “ANIMA” als Vermittlerin all jener Aspekte, die er (bewußt oder unbewußt) “dem Weiblichen” zuordnet.

… und nun: die “Praxis”:

Großmeister in der Massenproduktion populärer “PERSONA”s für ganze Gruppen (“groß”)deutscher Menschen waren zweifellos die Nationalsozialisten. So hatten wir – als ich etwa 1940 zwölf Jahre alt war – direkt aus “Mein Kampf” die Deklaration des Führers, wie “Deutsche Jungen” zu sein hatten:
“Zäh wie Leder – flink wie Windhunde – und hart wie Kruppstahl!”

Das war unzweifelhaft klar und eindeutig. Und ebenso unzweifelhaft paßte in diese offenbar für deutsche Jungen verbindliche “PERSONA” nicht die Faszination der Vorstellung, sich irgendwann mal als schicke junge Dame anzuziehen! Wie war solch eine Idee bloß in meinen Kopf gekommen?!

Als Damen verkleideten sich – wußte ich aus Illustrierten oder Kriminalromanen – Knaben beim chinesischen Theater, Hochstapler und dergleichen Verbrecher oder zuweilen auch Detektive. Nun war ich weder ein Chinese noch ein Detektiv: war ich dann etwa vielleicht ein künftiger Verbrecher?
Abenteuerlich genug war ja eine solche Vorstellung schon:

[einsam, in Opposition zu Polizei, Recht, Ordnung und Konvention, geradezu richtig heroisch (paßte das etwa doch irgendwie zum gepriesenen Leitbild?! Aber: Heldentaten in Damenkleidung? Doch wohl fragwürdig!)]

  • andererseits allerdings auch ziemlich unbehaglich:
    [schon im 12. Lebensjahr unausweichlich zur Verbrecherlaufbahn bestimmt zu sein – von allen gejagt und am Ende doch entlarvt und erwischt zu werden: zumal ich ja eigentlich gar keine Lust hatte, jemand was Böses zu tun?]
    Allerdings – tröstete ich mich dann wieder – hatte sich selbst der typische Lausejunge Huckleberry Finn mal als Mädel verkleidet: und sogar untadelige Hitlerjungen hatten bei “Stadtgeländespielen” schon Mantel und Mütze ihrer Schwester angezogen, um so den Gegner unentdeckt auszuspionieren.
    Bloß – widersprach etwas in mir – träumten die bestimmt nachts nicht davon, und stellten sich auch nicht heimlich vor, mal wie eine richtig erwachsene junge Dame auszusehen! Nein: da war etwas zutiefst nicht in Ordnung mit mir, was mich anscheinend von all den normalen Jungen des Dritten Reichs unterschied: etwas “Dekadentes” (was immer das heißen mochte) – so wie ja auch, wie man uns immer wieder predigte, die Zeit von 1918 bis 1933, die “Systemzeit”, zu-tiefst “dekadent” gewesen war:
    da hätte ich wahrscheinlich besser hingepaßt, dachte ich dann resigniert – wo ja selbst die echten jungen Damen alle ausgesehen hatten, als wären sie verkleidete Buben (mit ”Bubikopf”) … !

    Um falsche Eindrücke zu vermeiden: all die Zeit über tändelte ich nicht etwa in Muttis Schürze, um – a la Charlotte von Mahlsdorf – im Haushalt zu helfen oder sonstig ‘Töchterliches” zu treiben: sondern saß zwischen Mathematik-büchern, Experimentier- und Metallbaukästen, über meinem Mikroskop oder in meinem eigenen kleinen chemischen Labor, das ich mir in der unbenutzten Speisekammer neben der Küche eingerichtet hatte – sah mich als künftigen Forscher – und trachtete im übrigen mit zusammengebissenen Zähnen, dem offiziell erwünschten Bild eines “Deutschen Jungen” möglichst nahezukommen!

    Aber Fräulein Anima war ein raffiniertes Weibsbild [nicht abfällig gemeint: ”Bild des Weibs” im Unbewußten!] und tat ganz harmlos so, als könne ich mir alle dekadenten Damen-Ideen ja ganz sachlich ausreden: Rein als Hypothese mal angenommen, ich hätte mich jetzt und hier als Mädchen verkleiden wollen – wie hätte ich das denn machen wollen? In der ganzen Wohnung wäre kein einziges Utensil dafür gewesen: kein Dienstmädchenkleid, daß ich hätte stibitzen können, kein Büstenhalter, kein Lippenstift, kein Kopftuch, ganz zu schweigen von einer “Perücke” oder einem “Gummibusen”, wie sie in Büchern offenbar für solche Fälle stets zur Verfügung standen – lediglich die lächerlich zu weiten Sachen meiner zu der Zeit schon recht korpulenten 54jährigen Mutter!

    Aber wie gesagt: Fräulein Anima war raffiniert – und wußte genau, daß man nur behaupten mußte, etwas sei eigentlich unmöglich: damit ich sofort begann, nachzugrübeln und möglichst sogar auszuprobieren, wie es dennoch gehen könne – ob nun beim Bau von Modellen, für die ich eigentlich die dritthöhere Nummer des Metallbaukastens benötigt hätte, oder bei scheinbar unlösbaren Mathematikproblemen (und auch später im Beruf haben mich immer die Projekte am meisten gereizt, die angeblich “nicht gehen” sollten); also begann ich auch hierzu mal – “bloß so als Denkaufgabe” – abends vor dem Einschlafen oder wenn ich mal allein in der Wohnung war, Punkt um Punkt für jedes einzelne Hindernis zu überlegen oder gar andeutungsweise zu testen, ob es denn in der Tat so völlig unüberwindlich wäre – und wenn mir dabei zuweilen ein ungewohnt angenehmes Kribbeln über den Leib lief, war das lediglich eine Art weiterer “Denkansporn”…

    … bis dann eines Tages natürlich zwangsläufig der Punkt kam, wo ich mir sagen mußte, daß das in der puren Theorie ja alles recht gut und schön sein mochte – der endgültige Beweis aber, wie auch in Wissenschaft und Technik, erst erbracht, wenn man es irgendwann auch einmal tatsächlich machte!
    So geschah es denn also, daß ich am Abend des 55. Geburtstags meiner Mutter
  • sie saß noch mit Gästen zusammen, während ich mich schon “zum Schlafengehen” empfohlen hatte – mit einigen rasch zusammengerafften Utensilien heimlich in ihr Schlafzimmer schlich und das “Mysterium Transformationis” eröffnete: Hemd, Hose, Schuhe und Socken aus. Über die nackten Beine mit grosser Sorgfalt, wie ich das mal im Kino gesehen hatte, vom Fuß aufwärts je einen ihrer “guten” Kunstseidenstrümpfe schrittweise nach oben gerollt, damit die Nähte auch genau hinten in Wadenmitte und gerade saßen, und oben mit je einem von den elastischen Ringbändern festgehalten, die mein Vater sonst zum Raffen seiner Hemdärmel trug (Mutters Korsett mit Strumpfhaltern zu benutzen, wäre bei dessen Größe eine Unmöglichkeit gewesen); ihre schmalsten und engsten Schuhe drüber, zuschnüren – immer noch ziemlich weit, aber es ging.

    Das einzig diskutable von ihren Kleidern – grün-schwarz gemusterte Kunstseide – mit einem Bindegürtel und etlichen Sicherheitsnadeln auf Taille bringen: reichte mir zwar fast bis zu den Knöcheln – na schön, war’s eben eine Art “Abendkleid” – Ärmel auch viel zu lang und weit, aber glücklicherweise mit Druckknöpfen am Handgelenk: gaben dadurch gerafft direkt einen hochmodischen Effekt! Fehlte noch der Busen: war eines der härtesten Probleme, da ja noch nicht mal ein etwa ausstopfbarer Büstenhalter zur Verfügung gestanden hatte – Lösung: ein altes aufblasbares Gummischiff für die Badewanne, das – unter mein Turnhemd unterm Kleid gestopft – eine durchaus akzeptable Rundung über der Brust ergab (natürlich ohne echten “Busen”-Einschnitt in der Mitte – aber da ich ja kein Dekollete hatte, fiel das nicht auf) – im langen Spiegel Höhe kontrolliert: nach meinen Messungen an Photos exemplarischer BDM-Sportsmaiden in Turnhemden mußten die (gedachten) Brustwarzen genau auf der Linie liegen, welche die Halbierungspunkte der Oberarme zwischen Ellbogen und Schultern verband – stimmt!

    Hm, so weit gar nicht übel – aber jetzt das Wichtigste: Kopf und Gesicht! Die Haare konnte ich glücklicherweise unter einem fertiggenähten schwarzen “Turban” verschwinden lassen, den meine Mutter zuweilen unterwegs trug – saß recht gut. Dazu rechts und links je einen ihrer langen geschliffenen Onyx-Tropfen-Ohrringe – da sie gottlob nichts vom Durchstoßen hielt, problemlos an die Ohrläppchen schraubbar. Dann mit der Quaste was von dem rosa-bräunlichen Puder, den sie zuweilen beim “Ausgehen” benutzte – natürlich erst zuviel, sah aus wie bei ‘nem Zirkusclown – aber das kannte ich schon von einem früheren Testexperiment: Überschuß vorsichtig abtupfen – blieb (da zum Glück Winter: kein Sonnenbrand oder sowas – glatte Gesichtshaut) ein interessanter samtiger “Teint”. Und nun: zur Krönung mit – da weder Lippenstift noch Schminke verfügbar! – dem Korken des Röhrchens Erdbeer-Einkochfarbe sorgsam spiegelkontrolliert über die leicht geöffneten Lippen streichen – – – ja: Tiefrot !!!

    “Und wer, meinst Du – “ schwärmte meine Mutter anderentags, “hat mir, als alle gegangen waren, in meinem Schlafzimmer als Letzte gratuliert?” – kleine Spannungspause – dann, noch immer entzückt: “Eine m o n d ä n e Frau !!!
    Und während meine Schwester (inzwischen 27, Ehefrau und Mutter), zu der sie das sagte, erst sie leicht verständnislos ansah, um dann – Hintergründe erahnend – mit großen, sanft bestürzten Augen den Blick auf mich zu wenden:

    der ich mich meinerseits bemühte, die möglichst arglose Miene des großdeutschen Leder-Kruppstahl-Windhund-Jungen zur Schau zu tragen, räkelte sich im Unbewußten Fräulein Anima ob des Kompliments wohlig eher wie eine systemzeit-dekadente Seiden-und-Goldhalsband-Katz: mit dieser Di-va-Rolle, dachte sie (soweit Anima’s denken können), hat er mir also eine echte Verbündete gewonnen – vielleicht hätte sie lieber gleich zwei bildschöne Töchter gehabt statt nur der einen? Und wenn er etwa auch die noch, träumte sie weiter, zu meiner nächsten, schwesterlichen Freundin machen könnte … ? Aber auf die Erfüllung dieses Traums mußte sie – wie gut, daß eine Anima als Archetyp “zeitlos” ist! – noch volle 5 Jahrzehnte warten…

Schon nach knapp 5 Jahren dagegen kam – fast kaum zu glauben! – jenes Jahr 1945, wo all die Deutschen Blockwarte und anderen Kleinformat-Helden ihre bisherigen “PERSONA”s ganz schnell ganz klein zusammenfalteten, um vor Spruchkammern und Entnazifizierungsausschüssen zu schwören, sie hätten all diese “PERSONA”s ja nur aus Angst vor der Gestapo getragen : und alibisuchend begannen, Stück für Stück die auf einmal gar nicht mehr dekadent, sondern eher nachahmenswert erscheinende “Systemzeit” wiederzuentdecken:

Und es erwies sich, daß Fräulein Anima völlig recht gehabt hatte: in die hätte ich von Anfang an viel besser gepaßt… !

D O S S I E R

„Name“: je nach Typ/Stimmung wechselnd,
Jahrgang: 1928
Größe: 176 cm (ohne Schuhe)
Konf.größe: einst: mit Glück 42, bequem 44/46 – heute: 🙁 !!!
Schuhgröße: mit Glück 39/40, bequem 41/42

:: A:: Zur allgemeinen Charakterisierung:

Beruf:
„Zwei Ballonfahrer hatten sich im Nebel verflogen. Endlich riß die Wolkendecke auf, sie erblickten einen Mann am Boden und riefen ihm zu: „Wo sind wir?“
Der überlegte tief und rief dann zurück: „Sie sind in der Gondel eines Ballons!“
Dies war eindeutig ein Mathematiker: er dachte lange nach – was er dann folgerte, war unwiderlegbar richtig – und niemand konnte den mindesten praktischen Nutzen daraus ziehen.“
(Selbstkritischer Mathematikerwitz aus dem Internet)

:: B :: Zum Werdegang im einzelnen:

Nach Studium der Mathematik und Physik in Göttingen und Hannover über Fachschriftstellerei zu technischer Werbung (Elektromedizin, Stahl), dann „Marketing“ und Marktforschung in Druck- und Verlagswesen (konnte man die ganze gute alte Mathematik auf einmal wieder brauchen!), Aufbau und Leitung eines EDV-Schulungs- und Rechenzentrums, Stabsstelle „Marketing“ eines Unternehmensverbandes.

Ab 1967 selbständig als freier Marketingberater:
Auslandsreisen, Lehr- und Vortragstätigkeit, „Grundlagenforschung“,
Konzeptionen für Verlage, Firmen und Werbeagenturen
(auch ’n paar deutsche & US-Preise für erfolgreiche Werbekampagnen)
Publikationen zum „Empfänger-orientierten Ansatz im Marketing“

1979/80: Organisation der ersten detaillierten Analyse des deutschen Werbedrucksachen-Markts und ihre Programmierung auf „Microcomputer“ (Datenbank für, nach 2 Jahren, über 40 000 Druckobjekte: Zugriff auch ohne – damals noch unerschwingliche – Festplatte in Sekunden!)
RKW-Broschüre: „Die 10 häufigsten Fehler beim Einsatz v. Microcomputern“
Parallel dazu: Forschungsvorhaben und -broschüren für fast alle großen deutschen Zeitschriftenverlage und Demo-Disketten dazu; Konzepte, Bildentwürfe und Texte für Multimedia-Schauen zu Grundsatz-Problemen der Direkt- und Katalogwerbung – und, um dazwischen auch mal was echt Wertvolles zu tun: Entwicklung eines „Praxis-Buchs“ (mit völlig neuer Zugriffs-Form) für eilige (und theorieferne) praktische Ärzte über Behandlungsmöglichkeiten der Parkinson-Krankheit und anderer dopaminerger Störungen (das dann, amüsanterweise, zudem ein „Hit“ an Universitätskliniken wurde!)

Andererseits hatte ich mal (vergl. Vorspruch zur „Animagie“) in einem Gestalter-Magazin etwas über „Magie und Werbung“ veröffentlicht, das ein Verleger später als „professorale Theoretisiererei“ bekrittelte – worauf ich aus Zorn genau nach den in diesem Artikel stehenden Prinzipien Computerprogramme für Promotion-Aktionen von Markenartiklern und Versicherungen bei Verbrauchermessen oder Supermärkten entwickelte, an denen mein Sohn mit seiner kleinen eigenen Firma nachher insgesamt einige hunderttausend Mark umsetzte…!

Im Jahr 2001 habe ich dann – auch wegen der Folgen eines Knöchelbruchs, der mir bei Reisen usf. etwas zu schaffen machten – meine „hauptberufliche“ Beratertätigkeit eingestellt: und kann mich nun all dem widmen, wozu ich vorher nicht gekommen bin!

Hobbies Geschichten schreiben, vorwiegend Science Fiction und „Strange Stories“
Maschinenmodelle bauen (Fischer-Technik, Märklin-Metallbaukästen)
Unterhaltungsmathematik und Denksportaufgaben
„Computer Recreations“ und Bildbearbeitung

Reisen (beruflich oder privat):
USA: New York, Chikago, Rochester ; Kanada: Montreal, Toronto;
Mexiko: Mexico City & Umfeld, Tula; Asien: Tokio, Osaka, Hongkong, Thailand;
Europa: London, Paris, Griechenland, Türkei, Kreta, Capri (Lieblingsinsel: 3x!)

Familie

:: A :: Engste:

seit 1949 verheiratet, seit 1992 verwitwet; 1 Sohn (1951), 1 Tochter (1954)

:: B :: Eltern, Vorfahren:

Vater:
Befähigter Ingenieur, eher nüchtern, aber vielseitig und „ingeniös“; auch wohl mutig (div. Auszeichnungen als Leutnant im 1. Weltkrieg).
ging von 1923-26 mal als „Organisator und Oberingenieur“ nach Kronstadt/Siebenbürgen in Rumänien (mit der ganzen Familie).
Ab 1928 ständig Auslandsreisen nach England, Belgien, Frankreich, 1932 sogar Sowjetrussland, 1933/34 bis Beirut, Jerusalem, Kairo.
Erlebte 1955 noch 50jähriges Berufsjubiläum, davon 25 Jahre Technischer Geschäftsführer des gleichen Unternehmens und viele Jahre anerkannte Koryphäe seines speziellen Fachgebiets.
Selbst im Ruhestand mit über 70 noch immer als Fachautor tätig.
{Vaters Vorfahren: mehrere Generationen von Maschinentechnikern, Maschinenbauern und später Maschinenfabrikanten.}

Mutter:
Unkonventionell, talentiert und sowohl „praktisch“ wie „musisch“: fand nichts dabei, mir als 5jährigem statt Märchen die Odyssee vorzulesen oder uns nachts um 11 rasch mal Grüne-Bohnen-Suppe zu kochen! Beruflich vor der Ehe und wieder im 1. Weltkrieg als Sekretärin tätig – hätte später nach guten Anfangserfolgen durchaus eine Karriere als Unterhaltungsschriftstellerin haben können: wenn sie nicht nach 1933 in unfassbarer Naivität als Thema gewählt hätte, wie ihre couragierte Heldin gerade noch verhindert, daß ein smarter Opportunist sich in den Besitz einer Firma setzt, indem er die Erben als „Nichtarier“ verleumdet (da’s ja aber doch „Arier“ waren, fand sie ihre Story ganz korrekt – bloß stand sie von da an halt auf einer schwarzen Liste!)
Umso peinlicher, daß der gleiche Schriftstellerverband dann bei einem anonymen Wettbewerb für eine Inschrift (zu einem der wenigen Projekte jener Tage, das sie mit gutem Gewissen anerkennen konnte) ahnungslos ausgerechnet ihren Vorschlag krönte – und dann zähneknirschend die Worte der „Unerwünschten“ in Marmor meißeln lassen mußte (wo sie noch heute stehen – an der Maschsee-Säule zu Hannover…)
{Mutters Vorfahren: die längste Linie führt bis 717 zurück, wo ein Herzog Thuring von Heyden [hach, citoyenne, muß ich mich schon wieder entschuldigen!] unter Karl Martell im Kampf gegen die Araber fiel. Da aber dessen Witwe Theodrada den ganzen Besitz der Kirche vermachte, tauchten die Nachkommen später als gutbürgerliche Richter, Prediger und Gelehrte – latinisiert als „Hedenus“ – auf: „gekrönter Poet“ war auch einer drunter – und ein Magister Erasmus Hedenus schrieb im 16. Jahrhundert unter dem gleichen Pseudonym „MEHA“, das meine Mutter später ganz ahnungslos und unabhängig (aufgrund einer völlig anderen Abkürzung) als Autorin gewählt hatte …
Ansonsten: Landwirte, Handwerker, Kaufleute usf. }

:: C :: Geschwister:

Die Eltern :: B :: hatten schon vor dem 1. Weltkrieg 3 Kinder:

        William

der Älteste, auch wissenschaftlich und mathematisch begabt, wählte aber dann unter dem Eindruck der 1929er Wirtschaftskrise, statt zu studieren, seine andere große Neigung als Beruf: die Musik. Mit der Gabe, aus jeder Krise doppelt so günstig hervorzugehen,. stieg er schon bald vom bloßen Musiker zum Kapellmeister auf und dies blieb ihm sein Leben lang treu: selbst als er nach Kriegsende, statt aus Norwegen entlassen zu werden, unerwartet noch ein Jahr lang nach Frankreich in Kriegsgefangenschaft geschickt wurde, endete das damit, daß er französische Militärkapellen schulen musste – und sogar, beim Besuch eines Generals, in französischer Korporals- Uniform die Kapelle dirigieren mußte! Und als er dann, endlich entlassen, sich bei einer Bergmannskapelle im Ruhrgebiet bewarb, war das Endresultat, daß er wegen seiner mathematischen Kenntnisse Leiter der Qualitätskontrolle dieser Zeche wurde…Leider ist er schon vor Jahren gestorben:

        Erich 

der zweite, war hingegen ein praktisches Universalgenie: Er konnte ebenso gut sein Motorrad reparieren, wie mit selbstgebauten Apparaten als Zauberkünstler auftreten; als er sich eine fast lebengroße Bauchrednerpuppe baute, modellierte er genau so ihren Kopf, wie er ihren Smoking schneiderte – und natürlich die gesamte elektrische Steuerung seines „Kasimir“ baute, bis hin zu dem Stuhl, auf dem dieser Bandoneon spielen konnte. Dank solcher Talente wurde er der ideale Meister eines technischen Versuchsraums, wo’s immer neue Probleme zu lösen galt. Leider lebt auch er heute nicht mehr.

        Margarete  

die jüngste, war noch in Siebenbürgen (s. oben bei „Vater“) ein rechter „Tomboy“, der am liebsten in Sepplhosen mit Hunden herumtobte – bis sich daraus, nach der Rückkehr nach Deutschland, plötzlich ein bildschönes Mädchen entfaltete: dem aber weder Ballettschule, Kunstakademie und Bildhauerei – noch Schwärme vonVerehrern so zu Kopf gestiegen wären, daß es seine Natürlichkeit und seinen goldigen Humor verloren hätte. Verheiratet, war sie dann eine ideale Mutter – und nach Kriegsende couragiert genug, über Zonengrenzen und Besatzungssperren hinweg auf eigene Faust nach ihrem – der Himmel wußte wo – internierten Mann (Österreicher) zu suchen [mal andersherum – Penelopes Irrfahrten zu Odysseus!] – und Kindergeschichten, die sie in späteren Jahren schrieb (mütterliches Erbteil!) landeten sogar im Österreichischen Rundfunk. Heute ist sie mit über 90 Jahren mehrfache Urgroßmutter, (kann zwar nur noch mit edelstählernen Kniegelenken gehen) aber nach wie vor voll unverminderter Geisteskraft und Lebensfreude.

… und dann kam in jene bereits einigermaßen unwahrscheinliche Familie

nach 15 Jahren Pause – als ziemlich unerwarteter Nachzügler noch ich! Und falls ein eifriger Amateur-Psychologe nun sogleich folgern sollte…
Aha!
Vater dauernd auf Reisen, fast nie zuhause.
Brüder schon viel zu erwachsen.
Bereits ältliche Mutter und blutjunge Schwester
teilen sich in Hauptlast der Erziehung:
da muß ja mit der Geschlechtsrollen-Identifikation
des heranwachsenden Knäbleins was danebengehen!
… dann hätte er im allertiefsten Grunde vielleicht gar nicht so unrecht:
aber vordergründig läge er zunächst mal total schief:
Ich wurde nicht etwa besonders mädchenhaft herausgeputzt.
Ich spielte nicht mit Püppchen statt mit Autos.
Bruder Erichs Zaubergeräte, Bruder Williams Schachbrett
und die Abenteuer des listenreichen Odysseus
faszinierten mich weitaus mehr als Schwesterchens Tand.
Etwa gar mit kleinen Mädchen zu spielen,
hätte ich unter meiner Würde gefunden:
zum Spielen hatte ich ja eine viel schönere große Schwester:
… und das ging nach deren glaubhaften Berichten etwa so:
„Also Du bist jetzt meine Braut – hier – “ ihr einen Teddybären überreichend,
“ – hast Du ein Kind – aber ich – “ meinen Holländer besteigend,
“ – muß jetzt wieder fort: denn ich bin ja ein Traktorsmann!“
und damit brauste ich, laute Motorengeräusche erzeugend, von dannen …
… selbst Alice Schwarzer hätte schwerlich ein krasseres Bild
maskuliner „Einknopf-Mentalität“ entwerfen können … !

Allerdings war ich natürlich (hast ja schon gemerkt, wie ich noch heute von ihr schwärme!) total „in love“ mit meiner bildschönen großen Schwester…

{ ich habe dafür im Stile Freuds als Gegenstück zum „Ödipus-Komplex“ den Begriff „Siegmund-Komplex“ – nach dem Völsungen-Geschwister- und Liebespaar Siegmund und Sieglinde, siehe Wagners „Die Walküre“ – für solche Sonderfälle geprägt (müsste Freud eigentlich auch gut gefallen haben: hieß ja selbst mit Vornamen Sigmund!) }

… und war zunächst felsenfest überzeugt, ich müsse nur erwachsen genug werden, um sie dann heiraten zu können: erst als man mir nach 1933 erklärte, die neue Regierung habe jetzt leider verboten, daß Schwestern ihre Brüder heiraten dürften, fand ich mich schweren Herzens damit ab (zu weiteren Nebenwirkungen dieser Regierung vergl. bei Um 1940: Anima regt sich)…

… aber selbst ein solcher „Siegmund-Komplex“ hätte sich ja schon auf dem normalen Weg der „Projektion“ lösen können – in der Tat hatte meine spätere Frau im Gesichtsschnitt eine typische Ähnlichkeit mit meiner Schwester! – ohne etwa zwangsläufig zu „Crossdressing“ zu führen?!

1966: Das vierundvierzigste Hexagramm

Anfang 1966 kam die Maschine eines planmäßigen Linienfluges der Lufthansa nach Bremen aus ungeklärten Gründen beim Anflug in Schwierigkeiten, stürzte beim Versuch der Notlandung auf dem Flughafen ab, fing Feuer und brannte völlig aus; es gab keine Überlebenden.

“In dieser Maschine – “ sagte der Psychologe Walter H., als der Rundfunk die Katastrophenmeldung durchgegeben hatte, und fuhr sich mit der Hand über die Augen, “- hätte auch ich gesessen, wenn ich nicht wegen Ihres Besuches einen Tag früher zurückgeflogen wäre: Sie haben mir – sozusagen – das Leben gerettet … !”
Und während ich erst einmal zuhause anrief, um meine Frau zu beruhigen, daß ich mit meinem Flug vor ein paar Stunden noch sicher in Bremen gelandet war, stellte er schon auf dem meterhoch verschneiten Balkon vor seinem Dach-Atelier die Flaschen Champagner kalt, mit denen wir dann zusammen mit seiner Frau auf die ‘Gnade des Schicksals’ anstoßen – und bei dieser Gelegenheit gleich Brüderschaft trinken würden.

Daß zwischen uns irgendeine nicht alltägliche Resonanz zu bestehen schien, hatte ich zwar schon beim ersten Kennenlernen gespürt – und das hatte sich auch gleich am ersten Abend vertieft, als wir nach dem gemeinsamen Abendessen in eine so umfassende und tiefsinnige Unterhaltung gerieten, daß die noch dabeisitzenden Verlagsmitarbeiter sie wie eine hochkarätige Nachtprogramm-Diskussion genossen. Aber daß gleich mein erster Besuch bei ihm in Bremen unter so ‘schicksalhaften’ Auspizien stehen würde, hatten wir verständlicherweise beide nicht erwartet: im Hinblick auf spätere Entwicklungen hätte ich mir allerdings in der Tat – obwohl ja dessen ‘lebensrettender’ Aspekt schwerlich mein Verdienst war – kaum einen glücklicheren ‘Ersten Auftritt’ in seiner persönlichen Sphäre wünschen können:

Da war seine Frau Gisela – klein, drahtig, energiesprühend – die eine der ersten war, die sich als Dr.med., was damals noch keineswegs üblich war, profund mit der chinesischen Akupunktur befaßt und sie erfolgreich in ihrer Praxis angewandt hatte: was ihr bei Kollegen den Spitznamen ‘die Pi(e)k-Dame’ einbrachte (meine anfänglich durchaus vorhandene Skepsis verschwand ein für allemal, als ich sie bei einem nächsten Besuch mit den typischen Symptomen einer beginnenden Angina um eine Tablette bat – worauf sie erwiderte: “Nein – Du kriegst nur eine Nadel: hierhin!” – und sich nach diesem einen Stich in die Halsgegend in der Tat nicht das geringste von einer Angina mehr manifestierte!). Wie ich später einmal erfuhr, hatte sie einst – aus sehr reichem Hause – gegen die halbe Welt um ‘ihren’ Walter gekämpft: und empfand ab jetzt wohl eine Art unlogischer, aber tiefer Dankbarkeit gegen mich dafür, daß ich ihn ihr ‘erhalten’ habe;

dann war da die alte Haushälterin Frau S. – Witwe des Chefkochs einer großen Übersee-Schiffahrtslinie – die Walter und Gisela verehrte und mit den schmackhaftesten Speisen verwöhnte: und beides sozusagen automatisch nun auch auf mich übertrug;

‘das Haustier’ – beider 5jährige Tochter Katja – die sich am liebsten wie ein Kätzchen in irgendeine weiche Ecke kuschelte und dem interessanten Treiben der Erwachsenen zusah: ich weiß nicht, ob sie mir die Rolle eines auf die Erde hinabgestiegenen Schutzengels der Familie zugeteilt hatte – jedenfalls behandelte sie mich, in ihrer reizend altklugen Art, etwa so;
und dann natürlich die Hauptperson, der beratende Psychologe etlicher Werbeagenturen und Verlage – nebenher ein abstrakter Maler nicht geringen Grades – mit soviel Eigenwilligkeit und Phantasie, daß er in mir nun erst recht den optimalen ‘Partner’ sah: “Wir haben genug Gemeinsames, um einander verstehen zu können – aber zum Glück auch soviel Unterschiede, daß jeder dem anderen immer wieder was Neues bieten kann!” charakterisierte er einmal – sicher nicht ganz unrichtig – unser Verhältnis zueinander.

Der konkrete Anlaß für jenen ersten Besuch – und viele folgende – war eine sehr komplexe, in vier aufeinanderfolgenden Phasen durchzuführende Studie über einen neuen Typ von Verlagsobjekt, das bei den (für seine wirtschaftliche Existenz entscheidenden) Werbeleuten und Mediaplanern der großen Agenturen auf eine Fülle hemmender Vorurteile und Mißverständnisse gestoßen war, die es jetzt auszuräumen galt. Walter hatte die psychologischen Forschungsmethoden und die Fachkräfte zu deren Anwendung – ich mußte die Systematik, die Strategie und die Konzepte entwickeln, um die zunächst total unübersichtliche Fülle der Zugriffe und Resultate so aufzubereiten, daß die Angesprochenen sie nicht – was für sie am bequemsten gewesen wäre – ignorieren würden, sondern im Gegenteil (wie ich’s für meinen Hausgebrauch als Ziel formulierte) “so gespannt verfolgen wie einen Fernseh-Krimi”…

… ein reichlich ehrgeiziges Ziel, in dessen Verfolgung ich mich Mai/Juni 1966 sogar- nachdem die “Fachleute” der damit beauftragten Werbeagentur mein Konzept, die Veröffentlichung der Studie durch Briefe und Muster von Publikationen ähnlichen Typs aus aller Welt vorzubereiten, als “in der Theorie bestechend, aber in der Praxis undurchführbar” erklärt hatten – im fliegenden Start selbst zur Reise an all diese Verlagsorte in England, USA, Kanada, Mexiko und Asien aufmachen mußte, um zu demonstrieren, daß es doch ‘ging’ ! Doch das lag Anfang 1966 noch weit in der Zukunft…

Pin-Wand

Da stellte ich mich in Bremen erst einmal – in dem schönen großen Büroraum einen Stock tiefer, den Walter gerade erst angemietet und eingerichtet hatte – mit vielen Stichwort-Kärtchen und Nadeln vor eine große Pin-Wand und versuchte die Resultate der beiden ersten Studien-Phasen in irgendeine halbwegs zwingende Ordnung zu dressieren; und da das oft bis spät in die Nacht ging, war es recht gut, daß er vorausschauenderweise dort auch ein Gästebett eingeplant hatte.

Nur ein Besuch reichte für all das allerdings nicht aus – und so setzten wir uns in den folgenden Monaten regelmäßig in Bremen zusammen, bis das endgültige Konzept allmählich Gestalt annahm. Es muß wohl nach der dritten oder vierten solchen “Experten-Konferenz” gewesen sein – wir hatten gerade die interviewenden jungen Psychologen für die kommende “Verifikationsphase” bei etlichen hunderten von Befragten eingewiesen – als wir beide, einigermaßen ermattet, am Abend noch ein paar Flaschen Wein (weniger waren es bei Walter nie) zusammen tranken und im Gespräch wieder einmal vom hundersten in tausendste kamen – so auch auf das berühmte jahrtausendalte chinesische Orakelbuch I GING, das ‘Buch der Wandlungen’.

Natürlich habe Gisela das – bzw. die klassische Übersetzung von Wilhelm – in ihrer Bibliothek chinesischer Werke. Und natürlich auch die traditionell zum Orakelnehmen verwendeten 50 Schafgarbenstengel. Nur hätten sie es jetzt lange Zeit nicht mehr benutzt – als sie es das letzte Mal für eine befreundete Familie befragten, sei irgendetwas über ein Feuer herausgekommen, von dem Gefahr drohe: und bald darauf seien beide mit ihrem Auto verunglückt – eingeklemmt und in den Flammen des sich entzündenden. Benzins bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Seitdem hätten sie es zusammen mit den Behälter der Schafgarbenstengel lieber auf seinem rituell vorgeschriebenen Platz – einem Bord höher als das Haupt eines Menschen – stehen lassen. Aber er könne es ja mal wieder herunterholen – und, wenn ich das wolle, für mich befragen.

Was wir dann auch taten. In dem komplexen sechsfachen Ritual des jeweils dreimaligen Teilens und Abzählens entstand als unterste eine (“weibliche”)Yin-Linie – darüber aber fünfmal je eine (“männliche”)Yang-Linie – alle “ruhende” Linien, die sich nicht weiter veränderten: also blieb nur das eine entstandene Hexagramm als Ganzes zu deuten.

Nun war ich eigentlich darauf gefaßt, daß jetzt eher eine ebenso schwerverständliche wie vieldeutige altchinesische Aussage über Schildkröten oder bronzene Opfertiegel herauskommen würde – mit der niemand besonders viel anfangen konnte. Versuche Dir nun also meine Empfindungen vorzustellen, als ich unter der Überschrift

Hexagramm 44. GOU / DAS ENTGEGENKOMMEN

knapp und sachlich las:
DAS URTEIL
Das Entgegenkommen.
Das Mädchen ist mächtig.
Ein solches Mädchen
heiratet man nicht.

Das Zimmer, in dem wir zusammensaßen, war – wie immer – gut geheizt. Dennoch lief mir ein ganz kleiner Schauer des Fröstelns über den Rücken…

Dann rückte ich etwas näher zu Walter – und sagte ihm, um was für eine Art von Mädchen es sich dabei handelte …

Bild Gou Jula: liegt mir leider nicht vor

Im Interesse der Objektivität muß ich hier einschalten:
Die Schafgarbenstengel wurden von Walter gehandhabt. Ich habe dabei nicht im einzelnen kontrolliert, ob er sie exakt gemäß den Regeln des I GING behandelte – oder sie irgendwie abweichend manipulierte. So ist rein objektiv nicht auszuschließen
a) daß er als Psychologe aus Beobachtungen an mir zu der Vermutung gekommen sein könnte, ich habe vielleicht gewisse einschlägige Probleme, die ich ihm besser offenbaren solle
b) daß er darauf unter den 64 Hexagrammen des I GING nach dem einen gesucht haben könnte, dessen “Urteil” im weitesten Sinne solche Probleme ansprach
c) und daß er bei dieser passenden Gelegenheit ein Befragen des I GING provoziert haben könnte, das er so manipulierte, daß ich mit dem Text dieses bestimmten Hexagramms konfrontiert werden würde: in der Hoffnung, mich dadurch zu veranlassen, mit ihm über dieses Thema (das ich sonst schwerlich von mir aus angeschnitten hätte) zu sprechen.

Subjektiv muß ich allerdings sagen, daß mir eine derart subtil-jesuitische “Intrige” im Stil von Schillers “Geisterseher” kaum viel wahrscheinlicher vorkommt, als die – gleichermaßen ‘rationale’ – Annahme, daß es sich einfach um eines jener völlig zufälligen, aber gerade dadurch besonders verblüffend wirkenden Zusammentreffen gehandelt habe, die ja in der Realität weitaus häufiger auftreten, als es der sog. ‘Gesunde Menschenverstand’ zu erwarten pflegt – oder als die dritte, objektiv ja auch nicht von vornherein zu verwerfende Hypothese, daß eben an einem Orakel, das Millionen von (wie die Geschichte lehrt, ja schwerlich primitiven) Chinesen Jahrtausende über zu ihren politischen oder persönlichen Problemen befragt haben, doch “was dran sein” könnte!^]

Im faktischen Resultat übrigens ist es bemerkenswerterweise verhältnismäßig gleichgültig, welche der drei obigen Annahmen zugetroffen haben mag – denn wie sagt der (wahrscheinlich von Kungtse stammende)

Kommentar zur Entscheidung

Entgegenkommen bedeutet Antreffen. Das Schwache tritt dem Festen entgegen.
“Ein solches Mädchen heiratet man nicht.” Das bedeutet, daß man nicht dauernd mit ihr leben kann.
Wenn Himmel und Erde zusammentreffen, so kommen alle Geschöpfe in feste Linien. Wenn das Feste die Mitte und das Rechte trifft, so geht alles unter dem Himmel herrlich voran.
Groß wahrlich ist der Sinn der Zeit des Entgegenkommens.

Oder weniger archaisch gesagt: Mit diesem Abend begannen die herrlichsten vier Jahre für Fräulein – oder vielmehr inzwischen Madame – Anima. In der wunderbar unkonventionellen und vorurteilsfreien Atmosphäre Walters und Giselas fand sie zum ersten Mal die Chance und Gelegenheit, sich wirklich so frei zu entfalten, wie sie es sich immer erträumt hatte:
allerdings erst, nachdem ich die unerwartet dazwischengeschobene “Round-the-World”- Tour erfolgreich hinter mich gebracht hatte: Aber dann wurde der große, mit Bad, Toilette und Schlafgelegenheit in sich abgeschlossene Büroraum mit seinen lichtdichten Vorhängen das “Atelier”, in dem Madame Anima sich – nach der wissenschaftlichen Arbeit des Tages – abends, mit einer Flasche Wein und einer Platte schmackhafter Snacks aus Frau S.s Küche, nach Herzenslust schminken, kostümieren und fotografieren konnte. Die erste Echthaar-Damenperücke hatte noch die hilfreiche Gisela – mit eiserner Stirn unter dem Motto “da sollen zu einer Party alle Damen als Herren und alle Herren als Damen kommen” – zusammen mit mir in einem einschlägigen Geschäft gekauft; aber bald störte es mich überhaupt nicht mehr, in Kaufhäusern mal eben eine Kunst- oder Echthaar-Perücke “für eine Aufführung” selbst zu besorgen.
Ein abschließbarer Einbauschrank füllte sich bald mit Kleidern, Mänteln und allem, was eine elegante Dame sonst noch brauchte – und was ich in der Bremer Innenstadt, ohne Sorgen um etwa peinliche Begegnungen mit Leuten, die mich kannten, nach Lust und Laune einkaufen konnte; sollten mal wirklich für irgendeine Aufnahme spezielle Accessoires fehlen, war Gisela immer bereit, mir mal rasch was zu borgen – die gelbe Umhängetasche der “SIE” im Animagie-Dialogbild zum Beispiel hatte sie mir, zusammen mit farblich passenden Schuhen (die ich seltsamerweise problemlos tragen konnte), für die Hosenanzugs-Aufnahmeserie geliehen.
Madame
Bei den ersten Aufnahmen – für die mich anfangs stets noch Walter knipsen mußte – machte ich natürlich noch alle erdenklichen Anfängerfehler: unter-betonte Augenpartie, verschminkte Nase, zu kleines Kußmündchen – dennoch wirkte Madame Anima im Gesamteindruck schon erschreckend “echt”.

Aber wenn sie ehrlich war, mußte sie zugeben, daß von ihr dabei etwa so viel archetypische Faszination ausging,

Madame

wie von der Chefin einer gutbürgerlichen Bierschwemme … Doch das änderte sich in den nächsten Monaten: Schritt um Schritt gewann Madame an Profil, Ausstrahlung und Persönlichkeit – und präsentierte sich in den nächsten Aufnahmen bereits als reif-welterfahrene “interessante Frau” – recht ladylike und mit einem wissenden Lächeln um die Lippen.

Blueprint for beauty

All das kam freilich nicht von ungefähr: denn in diesen Monaten wurde – nach wohl-durchdachten Handskizzen des (nicht bloß “abstrakten”) Malers Walter als “Maskenbildner” – jeder Pinselstrich in Madames Antlitz so systematisch geplant wie ein Apollo-Unternehmen: und Gisela begutachtete oft am anderen Tag fasziniert, was unsere gemeinsamen Bemühungen aus dem “Rohmaterial” meines Gesichts erschaffen hatten…

Denn – vor allen Dingen nachdem ich mich Anfang 1967 selbständig gemacht hatte – nach Bremen kam ich jetzt regelmäßig, um gemeinsam mit Walter neue Studien zu planen, durchzuführen und nicht zuletzt in unzähligen Präsentationen wirksam der Fachöffentlichkeit vorzustellen.
Präsentation
Bild Präsentation – in dem ich gerade am Overhead-Projektor eine Schemadarstellung erläutere, während Walter daneben in der rechten unteren Ecke zu sehen ist

Jedesmal Untersuchungen mit “Pionier-Charakter” – unser “Bremer Arbeitskreis”, wie wir ihn getauft hatten, begann in Fachkreisen allmählich zu einem Qualitäts-Begriff zu werden – “alles unter dem Himmel” schien, wie im Kommentar verhießen, “herrlich voranzugehen”…

… nur heißt das I GING eben nicht umsonst das “Buch der Wandlungen”:
Im Sommer 1969 hatte Walter, wie er mir halb nachdenklich, halb spöttisch erzählte, einen seltsamen Traum, in dem er eine schwarze Uhr sah, die nicht Stunden und Minuten, sondern ein Datum mit Tag und Monat anzeigte – und im Traum, fügte er hinzu, habe er gewußt, daß es eine “Todesuhr” sei.
Der Tag, den sie angezeigt hatte, war ein Datum im November gewesen – und als ich ihn, noch immer halb im Scherz, nach diesem Datum anrief, um mich zu erkundigen, ob er immer noch lebe, lachten wir beide doch ein wenig erleichtert auf.

Dann kamen wieder viele neue Aufgaben – und als ich ihn im November 1970 zum letztenmal in Bremen besuchte, sagte er gerade, er freue sich auf das Wochenende zum Ausruhen – es sei in der letzten Zeit doch ein wenig viel gewesen – als das Telefon klingelte und eine von ihm beratene Werbeagentur anrief, ob er nicht übers Wochenende kommen könne, um noch einmal die bevorstehende Präsentation bei einem prospektiven neuen Kunden durchzusprechen.

Wie üblich, ließ er sich dazu breitschlagen – er flog hin – fand dann, daß es sicherer sei, wenn er selbst die Kernpunkte bei der Präsentation vortragen werde – tat das mit durchschlagenden Erfolg – die Agentur gewann dadurch den Kunden – und beim gemeinsamen Umtrunk am Abend griff er sich plötzlich ans Herz und kippte um: der herbeigerufene Arzt konnte nur noch “Tod durch Kreislauf-Versagen” feststellen.

Das Datum seines Todestages war genau das, welches er 1969 auf der Todesuhr seines Traumes gesehen hatte.
[Eine “strikt rationale” Erklärung hierzu – außer, daß dies schon wieder einmal einer jener ‘unwahrscheinlichen Zufälle’ gewesen sei – habe ich bis heute noch nicht gefunden.]

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