“Ihre Sünden aber luden sie einem Bocke auf
und schickten ihn in die Wüste zu Azazel, auf
daß e r sie trage …”
(Aus den Kommentaren des Midrasch Abchir zum Alten Testament)

Warum der Rat der Priester gerade diesen öden Planeten zum Ort des Treffens bestimmt hatte, wußte ich nicht; der Bote, der mir die Nachricht gebracht hatte, trug die goldene Maske des Schweigens, und ich konnte seine Gedanken nicht lesen. Vielleicht hatten sie einen Weltkörper wählen wollen, der weder im Machtbereich der Ryl, noch in dem der Erdwesen lag – als neutralen Ort für diese so schwerwiegenden Verhandlungen.

Mir aber erschien dieser Planet — Azazel hatten ihn die Erdwesen getauft, nach einem Dämon eines ihrer heiligen Bücher, der in der Wüste lebte – heute wie ein böses Omen. Endlos, einförmig und unfruchtbar wie seine Wüsten waren die Debatten, die ich hier führen mußte – und lagen nicht all unsere einstigen Pläne genauso hoffnungslos und erstorben, wie seine uralten Ruinen?

Mit welch tiefer Freude hatten wir doch die ersten Erdwesen begrüßt – nach Jahrtausenden, in denen wir schon fast jede Hoffnung aufgegeben hatten, es könnte außer uns noch andere denkende Wesen zwischen den Sternen geben! Und hatten wir nicht die gleiche Freude in den Gedanken jener Erdwesen mit ihren seltsam steifen Stockgliedern, ihrem schwankenden Gang (welche Mühe sie haben mußten, sich überhaupt aufrecht zu halten!) und ihren auf der einen Kopfhälfte zusammengedrängten Sinnesorganen; die Ryl mit ihrem glatten, gedrungenen Kegelleib, ihren biegsamen fünf Armen und ihrem Kopfstern: Beide hatten wir den Raum zwischen den Sternen überwunden – beide in der Hoffnung, eines Tages Brüder jenseits dieser Sterne zu finden!

Aber wir hatten ja nicht geahnt, daß wir zugleich mit diesen Brüdern auch jene gräßlichen, seelenlosen Maschinen finden würden, von denen mir jetzt wieder eine gegenübersaß…

„… ist uns Ihre Einstellung zu uns bei aller Verständnisbereitschaft nach wie vor unerklärlich!“ dröhnte der Lautsprecher der R 4141 aus seinem stumpfschimmernden Metallschädel. „Bei allen Menschen herrscht Einigkeit darüber, daß ein Roboter der gegebene Verhandlungspartner in einer so diffizilen Situation ist: Er darf – das ist das erste Grundgesetz der Robotik – weder einen Menschen angreifen, noch irgend etwas zulassen, was ihm schädlich sein könnte; also wird er die Interessen der Menschheit in jeder Beziehung zu wahren wissen. Er muß – das ist das zweite Grundgesetz – jeden von Menschen gegebenen Befehl ausführen, der nicht dem ersten Grundgesetz widerspricht; also wird er den Standpunkt der Menschheit ohne jede Verfälschung darlegen. Und erst zum dritten ist er gehalten, seine eigene Existenz zu schützen; ohne auch nur im entferntesten andeuten zu wollen, daß die Ryl irgendwelche feindseligen Absichten haben könnten, ist das schließlich eine unabdingbare Voraussetzung für jeden Botschafter in einem fremden Gebiet.

Berücksichtigen Sie ferner noch das unbedingt logische, nicht durch irgendwelche Gefühlsregungen getrübte Denken des positronischen Gehirns, so können Sie sich doch keinen geeigneteren Verhandlungspartner wünschen!“

Ich sog die trockene Luft des Wüstenplaneten in meine Atemröhre; noch immer machte es mir Schwierigkeiten, auf diese Art die merkwürdigen Luftschwingungen zu erzeugen, durch die sich die Erdwesen verständigten.

„Gerade diese drei Grundgesetze machen aber einen Roboter für uns Ryl als Verhandlungspartner untragbar!“ wiederholte ich zum hundertsten Male. „Es ist eindeutig, daß die positronischen Gehirne ausschließlich darauf ausgerichtet sind, die Interessen der Menschen und nur der Menschen zu wahren: Ein Roboter darf keinen Menschen zu Schaden kommen lassen – wohl aber einen Ryl; ein Roboter muß jeden Befehl eines Menschen befolgen -aber nicht den Befehl eines Ryl. Damit bleibt für uns nur noch eine Maschine übrig, die mechanisch ihre eigene Existenz schützt und uns genauso wichtig nimmt, wie eine Fliege oder ein unbelebtes Stück Holz!

Wir müssen darauf bestehen, mit dem Weltkoordinator persönlich zu verhandeln!“

R 4141 gab seiner blechernen Stimme einen verletzten Beiklang. „Wir haben ausdrückliche Befehle, jeden Ryl genau wie einen Menschen zu behandeln und zu achten!“

„Das ist eine Behauptung, deren Wahrheit wir nicht prüfen können – ein Ryl kann wohl die Gedanken eines Menschen lesen, nicht aber die eines Roboters!“

„Und – ohne damit die geringste Unterstellung ausdrücken zu wollen – deshalb wäre eben ein Mensch ein Verhandlungspartner, gegenüber dem ein Ryl beachtlich im Vorteil wäre!“ R 4141 machte eine kurze Pause, dann dröhnte er mit erhöhter Lautstärke: „Wenn die Ryl immer Menschen als Verhandlungspartner fordern, dann könnte das wirklich zu der Vermutung führen, daß nicht eine allgemeine Kritik an den Grundgesetzen der Robotik, sondern der Wunsch nach diesem Vorteil der eigentliche Grund für sie ist, den Beginn der Verhandlungen immer wieder zu verzögern!“

„Und wenn die Roboter unseren Wunsch, mit dem Weltkoordinator selbst zu verhandeln, immer wieder ablehnen – “ gab ich zurück, „dann könnte das wirklich zu der Vermutung führen, daß der Weltkoordinator irgendwelche Gedanken hegt, die wir Ryl nicht erfahren sollen!“

Meine Atemröhre schmerzte von der trockenen Luft und der ungewohnten Anstrengung – diesem sinnlosen Sprechen, das jetzt schon viele Tage dauerte. Die Worte wechselten ein wenig, und es wechselten auch die Wege, auf denen wir jedesmal auf den Ausgangspunkt zurückkehrten – aber vorwärts kamen wir nie. Ich konnte nicht mit einer Maschine verhandeln, die technisch durchaus fähig war, in diesem Augenblick die Vernichtung aller Ryl zu planen, ohne daß ich es auch nur ahnte – und diese Maschine konnte aus irgendeinem Grunde nicht zulassen, daß ich die Gedanken des Weltkoordinators las. Es war wie im Endstadium jenes Schachspiels der Erdwesen, wenn sich immer die gleichen Züge wiederholen, ohne daß ein Spieler einen Vorteil davon hat: Fruchtlos und eintönig.

Nur einen Vorteil hatte ich: Während die Maschine immer wieder mechanisch die gleichen Argumente vorbringen mußte, konnte ich einmal damit aufhören. Und das tat ich jetzt.

R 4141 erhob sich schwerfällig. „Haben Sie noch irgendwelche Wünsche?“ fragte er höflich.

Ich wehrte ab. Ich wollte nachdenken – nachdenken, ob es nicht doch einen Ausweg aus der Sackgasse gab, in die unsere Verhandlungen geraten waren, noch ehe sie richtig begannen.

R 4141 schob sich schwerfällig von dannen. Die anderen Ryl der Delegation glitten auch davon – ich spürte die Wellen der Erleichterung darüber, daß die ermüdende Konferenz für heute beendet war. Sie konnten sich jetzt erholen – ich fing den Gedanken auf, daß sie sich zusammen mit ein paar Erdwesen aufmachen wollten, um eine Fahrt zu den uralten Ruinen draußen in der Wüste zu machen. Es war so schade: Sie verstanden sich so gut miteinander, die Erdwesen und meine Ryl – trotz aller Verschiedenheiten; und wären nur nicht diese gräßlichen unerforschlichen Maschinen mit ihren stumpfen Metallgesichtern und ihren undurchdringlichen Metallgehirnen gewesen – hätte ich nur einmal dem Weltkoordinator genauso gegenüberstehen können, wie ihnen – vielleicht wären dann all unsere Sorgen schon längst vorüber…

Warum entzog sich dieser Mensch nur jedem direkten Kontakt? War es wirklich nur die Sorge, die Ryl könnten irgendeinen Vorteil aus ihren telepathischen Fähigkeiten ziehen? Oder hatte er nicht doch etwas zu verbergen – ein Geheimnis, einen Verrat? Das seltsame war ja, daß er hier auf diesem Planeten weilte – daß er die zermürbende Fruchtlosigkeit der Verhandlungen mit seinen Robotern aus nächster Nähe erlebte, ohne einzugreifen!

Dort drüben – in dem schlanken Raumschiff der Erdwesen – hielt er sich verborgen; und drei massige Roboter hielten am Fuß des Schiffes Wache, damit niemand zu ihm gelangte. Es waren immer die gleichen Roboter – anscheinend eine spezielle Leibwache.

Aber waren es diesmal wirklich die gleichen? Der eine sah doch fast aus wie R4141! Ich glitt näher. Tatsächlich – das war R 4141 und jetzt fiel mir auch wieder ein, was ich im Vorbeigleiten in den Gedanken eines Erdtechnikers entdeckt hatte: daß heute nachmittag irgendeine der üblichen Überholungsprüfungen angesetzt war – eine Überholungsprüfung für Roboter.

Anscheinend hatte man den einen von ihnen zu dieser Prüfung beordert – und R 4141 hatte einspringen müssen. Aber war R 4141 ein Wachroboter? Eben hatte er mir doch versichert, seine Befehle zwängen ihn, einem Ryl genauso zu gehorchen, wie einem Menschen!

Unklar formte sich ein Plan in meinem Gehirn.

Die drei schweren Maschinenwesen marschierten regelmäßig im Kreis um das Raumschiff – um hundertzwanzig Grad gegeneinander versetzt. Wenn R 4141 genau an der Einstiegleiter des Schiffes war, dann befanden sich seine Kollegen ebenso exakt an Stellen hinter dem zylindrischen Körper – an Stellen, von denen aus ihre Photozellenaugen die Leiter nicht sehen konnten. Freilich war diese Leiter für Menschen bestimmt – Menschen mit langen, beweglichen Beinen – und nicht für die weiche Gleitfläche eines Ryl. Aber hatte ich nicht fünf kräftige Arme?
Allerdings – wenn ich die Höhe der Leiter abschätzte: Ich konnte unmöglich bis zur Einstiegluke gelangen, ehe einer der anderen Roboter in Sicht kam. Aber würde er dann die obere Hälfte der Leiter kontrollieren – oder das Gelände rings um das Raumschiff? Ich konnte es nicht wissen, ob R 4141 wirklich meinen Befehlen gehorchen würde. Aber schon allein das zu entdecken, war die Mühe wert…

Wieder glitt ich ein Stück näher. Der eine Roboter verschwand hinter der Biegung der zylindrischen Düsen – und von der anderen Seite kam R 4141. Jetzt! Das letzte Stück – und dann…„Heb mich hoch – so hoch es geht – das ist ein Befehl!“
Fast pfeifend kamen die Laute aus meiner Atemröhre – aber R 4141 verstand sie – und gehorchte! Ich fühlte, wie er meinen Rumpf packte und hob – immer höher – jetzt konnte ich drei Arme um die Streben der Leiter schlingen…

„Geh weiter!“

Schwerfällig schob sich R 4141 davon. Meine Arme schmerzten von dem ungewohnten Gewicht meines Körpers – die scharfen Sprossen schnitten in die weichen Fibern – aber ich zog mich höher. Nach den ersten Zügen fand ich mich schon besser zurecht: Ich hielt mich mit zwei Armen an den Sprossen fest, während ich mit den anderen beiden nach den nächsthöheren angelte, und ließ den fünften lose hängen – er hinderte mich nur. Aber jetzt kam der andere Wachroboter in Sicht…

Mit gleichmäßigen Schritten bog er um die Rundung – sein metallener Schädel drehte sich nach allen Seiten – aber nicht nach oben! Er marschierte gradewegs unter mir vorbei, ohne mich zu bemerken! Jeder im Lager hätte mich sehen können – aber es schien ja kaum jemand da zu sein: Fast alle hatten sich dem Ausflug zu den Ruinen angeschlossen!

Wieder zog ich mich höher — da hielt ich plötzlich inne: Fremde Gedankenströme trafen mein Gehirn. Natürlich – daran hätte ich denken müssen: die Einstiegluke hatte innen noch einen menschlichen Wächter! Aber dann spürte ich, daß ich ungewöhnliches Glück hatte: denn der Gedankenstrom, den ich auffing, lautete etwa:

„So was Dummes – ???? vergessen – jetzt den ganzen Nachmittag ohne ???? – ach was, kann ich noch rasch holen – sowieso Unsinn, das Wachestehen hier: die Roboter passen ja auf! „

Ich konnte nicht herausbekommen, was das Erdwesen vergessen hatte – irgendeine Art klebriger Materie, die man in den Mund steckte, aber nicht aß – doch ich konnte spüren, wie es sich entfernte – und wie es sich vergewisserte, daß es niemand auf seinem Weg sah – und so sah auch mich niemand, als ich durch die Einstiegsluke glitt.

Obwohl ich noch nie in dem Erdenschiff gewesen war, kannte ich sein Inneres gut genug – aus den Gedanken der Erdwesen, die in ihm zu tun hatten: der Robot- und Nachrichtentechniker. Ich kannte den Weg zu den Räumen des Weltkoordinators, und ich wußte sogar, wie er aussah – freilich nur so, wie er sich den Augen der Erdwesen dargeboten hatte, aus deren Erinnerungen ich schöpfte: Für die fünf Kugelaugen eines Ryl sah das alles erheblich anders aus. Doch als Mitglied der Kontaktdelegation war ich darin geschult, die Bilder zu übersetzen…

So stand ich endlich – ermattet, aber ohne jeden störenden Zwischenfall – vor der Tür zu den Räumen des Weltkoordinators.

Jetzt, da ich das langersehnte Ziel erreicht hatte, überfielen mich schwere Zweifel. Was ich getan hatte war zweifellos ein Bruch all unserer Vereinbarungen; ich wußte zwar, daß ich nur ein friedliches Gespräch suchte – aber die Erdwesen konnten meine Gedanken ja nicht lesen. Man konnte genauso gut glauben, ich hätte die Absicht, zu spionieren oder gar den Koordinator tätlich anzugreifen! Und was das – in der ohnehin gespannten Lage bedeuten konnte…

Geräusche jenseits der Tür ließen erkennen, daß der Koordinator in seinem Raum war – aber warum spürte ich seine Gedanken-Ströme nicht? Ich spannte meine Aufmerksamkeit voll an, als sich die Tür öffnete…

„Nun – das ist ein unerwarteter Gast!“ Die Stimme klang voll und angenehm – aber ich verstand die Worte fast nicht vor fassungsloser Verblüffung: jetzt hätte ich doch Gedanken aufnehmen müssen – Überraschung, Sinneseindrücke, vielleicht sogar Beunruhigung; aber ich empfing nichts – nichts!

Die Augen des hochgewachsenen Koordinators musterten mich von oben bis unten. „Gondor Ryan, vermute ich? Sie sind der Sprecher Ihrer Delegation, nicht wahr?“

Ich versuchte zu antworten, aber es gelang mir nicht, Laute zu formen. In meinem Hirn jagten sich die Gedanken: Gab es unter den Erdwesen auch Nichttelepathen? Das schien fast unmöglich -die Fähigkeit der Telepathie beruht auf Eigenschaften des Denkprozesses, die untrennbar mit jedem überhaupt lebenden Gehirn verbunden sind. Oder – hatten die Erdwesen einen telepathischen Schirm entdeckt – ähnlich der goldenen Maske des Schweigens, die unsere Hohen Priester, die Richter und die Prüfer der hohen Schulen benutzen durften? Aber warum dann die stete Weigerung der Erdwesen, mit uns direkt zu verhandeln – unter Hinweis auf die Vorteile, die uns die Telepathie bringen würde?

„Ich würde gern sagen, daß ich mich über Ihren Besuch freue – “ fuhr der Koordinator fort, „aber ich kann es nicht. Ich weiß nicht, wie Sie hierher gelangt sind – aber bald werden Sie verstehen, warum ich gerade das jetzt schon Wochen hindurch zu verhindern suchte; und ich kann nur hoffen, daß…“

Plötzlich nahm ich Gedanken wahr – aber es waren nicht die des Koordinators, sondern die eines anderen Wesens, das den Raum betreten hatte. Jetzt sah es mich – und eine Flut wirrer, erschrockener Gedanken wirbelte durch sein Hirn…
Und jetzt verstand ich. Jetzt verstand ich alles – das Vorschicken der Roboter – die ewige Verzögerung der Verhandlungen – die Unerreichbarkeit des Koordinators – und die Ausweglosigkeit unserer ganzen Situation. Und ich verstand auch, daß es für diese beiden – den Koordinator und das Erdwesen Marc, das die anderen für seinen Sohn hielten – nur eine Konsequenz geben konnte: Daß Gondor Ryan, der Sprecher der Ryl, dieses Schiff nicht mehr lebend verlassen durfte.

Eigentlich hätte ich es schon vor Minuten erkennen müssen – die Erklärung, weshalb ich keine Gedanken des Koordinators auffing, war mir doch so vertraut: Ein Ryl kann zwar in einem menschlichen Gehirn lesen, aber nicht in einem – positronischen…

Ja – der Koordinator war, trotz seines menschlich erscheinenden Körpers, trotz seiner tiefen, angenehmen Stimme, trotz seines Ranges und seiner Würde, kein Mensch – sondern ein Roboter. Das war das Geheimnis, das, wie ich aus den Gedanken des Erdwesens Marc las, selbst die wenigsten Menschen kannten.
Eigentlich war es – vom Standpunkt der Erdenwesen aus gesehen – nur konsequent. R 4141 war nicht müde geworden, mir die Vorzüge einer robotischen Politik zu preisen: Leidenschaftslos und logisch – schneller und sicherer reagierend als jedes lebende Gehirn – und unausweichlich an die Gesetze gebunden, die jeden einzelnen Menschen unverletzlich machten: So war das positronische Gehirn die ideale „Regierungsmaschine“. Und ein solches Gehirn in einem nach außen hin menschlichen Körper zu verbergen, war sicherlich ein geschickter Schachzug gegenüber Menschen, die sich einer Maschine nicht so freiwillig unterworfen hätten…

Aber gerade diese kristallklare Konsequenz und Logik ließ mich verzweifelt erkennen, wie aussichtslos die Lage für uns Ryl war: Wenn selbst der Weltkoordinator, die oberste Macht im Reiche der Erdwesen – ein Roboter war, ein Roboter, dem nur Menschen unverletzlich waren, aber keine anderen Wesen, dann wurde unsere alte Sorge zur unausweichlichen, niederschmetternden Gewißheit.

Ich spürte in den Gedanken des Erdwesens Marc den Wunsch nach Vernichtung. Gedämpft durch Mitgefühl und die Überzeugung, daß ich ein unschuldiges Opfer sein würde, gewiß – aber angefacht durch die Überlegung: Jetzt ist es erst ein Ryl, der das Geheimnis kennt – aber wenn er es weitergibt, dann schwindet jede Aussicht, sich mit den Ryl noch zu verständigen! Besser ein Opfer – als einen Kampf der beiden Rassen, der Hunderttausende von Opfern fordern kann! Und – diese Überlegung war richtig…

„Nichts Vorschnelles, Marc!“ Mit hartem Griff packte die Hand des Koordinators – Stahl und Leichtmetall unter weicher Plastik-Muskulatur – den Arm des Erdwesens, der schon eine Strahlpistole gehoben hatte. „Zu einer solchen Konsequenz ist es immer noch früh genug!“

Und diese Worte gaben mir neue Kraft. Ich war nicht so hilflos, wie die beiden glaubten! Es ist richtig, daß unsere telepathischen Fähigkeiten normalerweise daran gebunden sind, daß wir dem Partner gegenüberstehen – aber in Todesgefahr, in äußerster Anspannung kann der geübte Ryl seine Brüder auch über weite Entfernungen erreichen.

Ich hörte nicht mehr, was die beiden sprachen – ich konzentrierte meine ganze Energie darauf, den Kontakt mit meinen Freunden aufzunehmen, die zu den alten Ruinen gefahren waren – ich spannte unwillkürlich die Fibern meiner Arme an, als könne ich sie herbeiziehen – spürte, wie alle Energie in mir nach innen floß – wie sich das Bild der Kabine vor meinen Augen verwischte – Dunkel – Leere –
Und dann auf einmal, wie ein schwerer, unerwarteter Schlag, fluteten die Empfindungen über mich herein: Schmerz!!! Zerreißendes Gewebe – zuckende Arme – sickernder Körpersaft -und Angst, höchste Todesangst: nicht jene fast nüchterne, kühle Überlegung, die mich eben davon überzeugt hatte, daß meine Chancen, das Raumschiff lebend zu verlassen, gering seien – sondern irre, kreisende, tierische Angst vor der Vernichtung – vor reißenden, schneidenden Klauen, die den Leib zerfetzen!

„Was fehlt Ihnen, Gondor Ryan?“ drang wie von fern die Stimme des Koordinators zu mir. „Beruhigen Sie sich – Ihnen droht keine Gefahr! Wir werden einen Weg finden, die Situation zu klären – einen anderen Weg, als ihn der temperamentvolle Marc gehen wollte!“

Ich tauchte wie aus einem tiefen Schacht wieder auf – langsam gewannen die Umrisse der Kabine um mich her wieder Gestalt; und ich zwang mich, endlich wieder verständliche Laute zu formen:

„Nicht – ich – die anderen, die Ryl bei den Ruinen – ein Unglück – sie sind tot – oder sterben „

„Sie – Sie sind gekommen, um Hilfe zu holen?“

„Nein – ich – habe gespürt – Fernkontakt – ein Ungeheuer mit tausend Klauen – zerreißt sie – “ Mir kam zum Bewußtsein, daß all das diesem Roboter ja gleichgültig sein mußte; für ihn waren wir Ryl ja nichts anderes als irgendwelche seltsamen Tiere.

„Auch die Menschen – dort – in Gefahr!“ fügte ich hinzu. Gespürt hatte ich davon nichts – aber es war schließlich mehr als wahrscheinlich; ich konnte mir nicht vorstellen, daß die Menschen ein solches Untier herbeigeschafft und auf meine Brüder gehetzt haben sollten – sie waren wohl alle zusammen Opfer dieses unfaßbaren Angriffs.

„Marc – ein Boot!“ hörte ich den Koordinator noch sagen -dann sank ich in tiefes Dunkel zurück.

Der Ort des Unglücks lag ein gutes Stück weit entfernt – irgendwo in der Wüste, im Schatten jener uralten Ruinen, deren Zweck wir heute kaum mehr ahnen konnten.

Und es schien so, als seien diese Ruinen selbst die Ursache der Katastrophe gewesen: Denn es war der Turm, der die Ruinenstätte weithin kenntlich gemacht hatte, unter dessen Trümmern jetzt die leblosen Körper der Ryl und der Menschen begraben lagen, die diese unglückselige Fahrt unternommen hatten. Er mußte – warum, konnten wir uns nicht erklären – eingestürzt sein, gerade als sich die Gruppe an seinem Fuß aufhielt.

Aber so schrecklich der Anblick der zerschmetterten Leiber war – ich hätte gewünscht, wir hätten weiter nichts gefunden. Aber hier – zwischen Trümmern und Leichen – stießen wir auf das Schrecklichste: Einen Anblick, der – wie ich aus den Gedanken des Erdwesens Marc spürte – gleich grausig für Menschen wie für Ryl war.

Das Ungeheuer war fast so lang wie drei Erdwesen. Sein stumpfbrauner Leib bog und wand sich unter zahllosen Schuppenringen – und seine vielfach gegliederten Beine zuckten in einer unfaßbaren Vielfalt von Bewegungen: Hier gruben sich seine scharfen Klauen in den noch zuckenden Körper eines sterbenden Ryl – dort hoben sie den zerschmetterten Schädel eines Menschen und ließen ihn wieder fallen – da zerrten sie einen nur Verletzten unter den Trümmern hervor – es war ein Anblick, bei dem mich eine unwiderstehliche Übelkeit schüttelte.

Dem Erdwesen Ralph ging es nicht viel besser – und ich mußte zu meinem eigenen Grauen noch das seine mitspüren. Doch das unausweichliche Gesetz trieb den Weltkoordinator – den Roboter – vorwärts: Er mußte versuchen, die Menschen, die dort unter den Klauen des Untieres zuckten, zu schützen. Er sprang aus dem Boot und lief auf die Unglücksstätte zu – doch ein wuchtiger Schlag mit dem Schwanz des Untieres (oder war es das Kopfende? Beide sahen gleich aus!) schleuderte ihn meterweit zurück.

Marc hob schnell seine Strahlpistole. Der bläuliche Schein schoß in einem vernichtenden Kegel auf das Untier zu – zischend zergingen Steine und Sand um den braunen Leib: aber das Wesen blieb unverletzt. Fassungslos ließ der Erdmensch den Strahl immer wieder auf das Ungeheuer los – aber es schien gegen die Energie gefeit!

Ich spürte, wie ihn das Entsetzen zu übermannen drohte – doch da geschah etwas Unerwartetes. Irgendwo im Unterbewußtsein hatte ich schon von Anfang an gespürt, daß noch andere Wesen in der Nähe sein mußten – jetzt tauchte plötzlich hinter der zerfallenen Wand einer Ruine das Boot auf, mit dem die Gesellschaft gestartet war. Erleichtert spürte ich die Gedankenströme meiner Brüder – und der Menschen, die sie begleiteten.

Wir hatten das Ausmaß des Unheils überschätzt: Es konnte nur eine kleine Gruppe gewesen sein, die hier unter den Trümmern des Turms begraben lag – die meisten befanden sich dort im Boot und eilten zur Hilfe herbei. Aber konnten sie Hilfe bringen – gegen diesen unverletzlichen Gegner?

Doch unsere Überraschungen waren noch nicht zu Ende. Kaum war das Ungeheuer der Kommenden ansichtig geworden, als es von seinen Opfern abließ. Nur den Verletzten schoben seine Klauen noch ein Stück weiter – dann wandte sich der riesige Leib zur Flucht. Oder wollte es die Ankömmlinge angreifen?
Von unserem entfernten Standpunkt aus sah es fast aus wie ein seltsamer Beschwörungstanz: Die Menschen und Ryl des Bootes formten eine Reihe, gegen die sich das Untier wandte – und wieder zurückwich. Bläuliche Strahlen umflirrten es – aber die Strahlpistolen verletzten es nicht; doch Schritt für Schritt drängte es die Kette der Angreifer gegen die Mauer zurück. Ein wuchtiger Schlag mit einem Spaten zerspaltete fast das eine Ende des Leibes – und das Ungeheuer wehrte sich nicht – es wich aus – und es schien geradezu Angst zu haben?

„Schnell! Die Gitter!“ Der Koordinator hatte sich aus dem Sand wieder aufgerappelt – und während wir noch versuchten, zu verstehen, was eigentlich vorging, hatte sein blitzschnell arbeitendes positronisches Gehirn schon einen Angriffsplan gefaßt: Die Explorationsboote – oft auf fremden Planeten mit gefährlichen Bewohnern eingesetzt – hatten als Standardausrüstung auch einen Vorrat biegsamer Tronium-Gitter: Leicht wie Aluminium, aber hart wie das Metall einer Raumschiffhülle. Während die anderen das Untier mit Schlägen und Hieben in Schach hielten, rollten einige der Menschen die Gitter aus – und in Minuten war das fremde Wesen von einem dreifachen Wall umgeben, der an der Ruinenwand verankert war. Mit geschwächter Energie arbeitende Strahlpistolen schmolzen den Sand unter den Klauenbeinen des Untiers zu einer einzigen glitzernden Quarzplatte zusammen und nahmen ihm den letzten Ausweg.

„Zumindest eine neuartige Kombination: Hat keine Angst vor Strahlpistolen – wohl aber vor Knüppelschlägen!“ sagte nun Marc schweratmend.

„Und greift offenbar nur wehrlose Gegner an – eine Art Aasfresser!“ ergänzte der Weltkoordinator. „Ein wenig sympathisches Tierchen!“

„Sofern“, fügte er nachdenklich hinzu, „das nicht nur eine Art Kriegslist ist!“ Er beobachtete das Unwesen scharf. Es lag still – nur seine unzähligen Klauenbeine zuckten hin und wieder. Doch jetzt richtete es plötzlich das eine Ende seines Leibes auf – stützte sich, wie um Halt zu gewinnen, mit dem äußersten Beinpaar auf den Boden und begann mit den anderen, erhobenen Beinen seltsame Bewegungen über dem Boden zu machen.

„Was soll das bloß?“ fragte Marc mißtrauisch.

Wir Ryl hatten den Menschen wenig helfen können. Auch die Gedanken, die ich mit meinen Brüdern austauschte, brachten keine rechte Klärung: Sie hatten die verunglückte Gruppe – einen Ryl und zwei Menschen – wohl zwischen den Ruinen verschwinden sehen, waren dann in weiter Ferne durch den Einsturz des Turmes alarmiert worden und herbeigeeilt – aber was eigentlich geschehen war, wußten auch sie nicht. Und die Verunglückten waren nicht in der Lage, es uns zu schildern – zwei waren tot, der übriggebliebene Mensch schwer verletzt.

Aber die Aufklärung sollte uns von einer einigermaßen unerwarteten Seite kommen. Der Koordinator hatte das Wesen und sein seltsames Treiben nicht aus den Augen gelassen und sagte plötzlich:

„Marc! Gondor Ryan! Seht her – ich glaube, das Biest zeichnet etwas auf den Boden!“

Tatsächlich. Fasziniert starrten wir auf die vielgliedrigen Arme, die in die glattgebrannte Quarzfläche jenseits des Gitters jetzt Linien kratzten – mit Klauen, die schärfer sein mußten als Quarz! – und diese Linien zu Bildern formten. Fast zehn Arme arbeiteten zu gleicher Zeit an diesem Bild – und endlich waren sie fertig: Mit der Präzision eines technischen Konstruktionsplanes zeigten sie uns ein Bild, das wir wiedererkannten – die Szene des Unglücks!

Das war der hohe Turm – das die langgestreckte Mauer – und davor, in ihren Umrissen deutlich erkennbar, waren zwei menschliche Gestalten und die Kegelform eines Ryl gezeichnet.

„Unfaßbar!“ murmelte Marc. „Mit zehn Armen zugleich ein solches Bild zu zeichnen – und auch noch so, daß es für das Biest auf dem Kopf steht – das ist doch unglaublich!“

„Sieh genauer hin!“ warf der Koordinator ein. „Der eine Mensch hält eine Strahlpistole – und diese Linien sollen bedeuten, daß er schießt: auf den Fuß des Turmes!“

Das Wesen machte mit seinen Armbeinen eine seltsame Geste -dann schob es sich weiter und begann auf einem noch unberührten Fleck eine neue Zeichnung.
„Es meint, der Schuß hat die Basis des Turmes getroffen, dort die Materie aufgelöst, und dadurch ist der Bau eingestürzt!“ sagte Marc atemlos.

Eine dritte Zeichnung entstand: Zwischen angedeuteten Trümmern lagen die Leiber der Menschen und des Ryl – und nun setzte das Wesen seinen eigenen gewundenen Leib dazwischen: Mit ein paar Beinpaaren die Körper anhebend und Trümmer beiseite schiebend.

„Ist das wirklich möglich? Es ist erst nachträglich dazugekommen – und hat nur versucht, den Verunglückten zu helfen?“ fragte Marc zweifelnd.
„Das ist seine Darstellung des Vorganges! Gondor Ryan hat etwas anderes dazu zu sagen, nicht wahr?“ sagte der Koordinator kühl. „Können Sie die Gedanken dieses Wesens lesen?“ fuhr er zu mir gewandt fort. „Diese Geschichte vom barmherzigen Samariter paßt kaum zu dem Eindruck von reißenden Klauen, den Sie empfangen haben, als das Unglück geschah!“

Ich hob bedauernd die Arme. „Ich empfange nichts. Ich kann nicht beurteilen, ob dieses Wesen überhaupt denkt – geschweige denn, was. Ich weiß nur, daß es seine Klauen in den Leib des toten Ryl geschlagen haben muß, als er noch lebte – ob, um ihm zu helfen, oder um ihn vollends zu töten, das kann ich nicht entscheiden!“
Der Koordinator nickte langsam. „Die ganze Sache ist sehr unklar. Wir wissen nicht, warum der Mensch geschossen hat – wir wissen nicht, woher dieses Wesen überhaupt kommt – wir wissen nicht, was es vorhatte. Nur eines wissen wir: daß es keineswegs irgendein harmloses Tier ist, sondern zumindest so intelligent wie wir – und unverletzlich für Strahlpistolen!“

Er wandte sich ab. „Gondor Ryan, ich halte es für gut, wenn wir“, er stockte, „wenn wir unser Problem zurückstellen, bis wir mit diesem Wesen da im reinen sind. Es könnte sein, daß es für uns alle gefährlicher ist, als sich Ryl und Menschen und Roboter je werden können!“

Ich neigte meinen Kopfstern – eine Geste, die auch bei uns Zustimmung bedeutet. „Ich werde meinen Brüdern das Geheimnis nicht mitteilen – jetzt, inmitten der vielen Menschen, wird es ihnen nicht auffallen, daß sie die Gedanken des Koordinators nicht empfangen können. Und ich glaube, wir dürfen sie jetzt nicht beunruhigen!“

„Vater“, unterbrach uns Marc, der hinzugetreten war, „der Verwundete! Er scheint zu sich zu kommen – kann aber nicht sprechen. Vielleicht können die Ryl…?“

„Ein guter Einfall!“ erwiderte ich. „Ich will versuchen, was ich aus seinen Gedanken erfahren kann!“

Ich glitt an die Seite des Verletzten. Einer der Menschen hatte seinen Kopf – der aus mehreren Wunden blutete – in den Schoß genommen und war dabei, ihn zu verbinden. Die anderen, die im Kreis um ihn herumstanden, machten mir eifrig Platz, als sie von meiner Absicht erfuhren.

Es war schwer, zwischen den immer wieder aufbrandenden Wellen des Schmerzes die Gedankenströme der Erinnerung zu erfassen. Aber allmählich formte sich vor mir das Bild der Vorgänge:

„Sie wollten – jagen. Diese kleinen Wüstentiere, die hier zwischen den Ruinen hausten. Sie hatten sich von den anderen getrennt. Der andere Mensch hatte gerade eines der Tiere geschossen – nicht mit einer Strahlpistole, mit einer altmodischen Kugelbüchse – da tauchte das Untier auf – irgendwoher aus den Ruinen!“

Ich hielt inne. Wenn ich in die Gedanken des anderen eindrang, mußte ich auch all seine Schmerzen mitspüren…

„Ehe er es noch begriffen hatte, packte das Untier mit seinen Klauenbeinen das Gewehr und wollte es ihm entreißen. Dabei löste sich ein zweiter Schuß – er traf unglücklich den Ryl, der in der Richtung stand. Und gleich darauf stürzte sich auch das Untier auf den Ryl und bohrte seine Klauen in seinen Leib…

Der Verwundete hob seine Strahlpistole, um das Untier anzugreifen. Aber der Strahl schadete ihm nichts – er traf nur die Mauer des Turmes. Und die löste sich auf – der Turm stürzte ein, und seine Trümmer begruben alle drei unter sich…”
Atemlos gespannt hatten die anderen gelauscht.

„Das sieht verdammt anders aus als die Bildergeschichte, die uns das Vieh erzählen wollte“, knurrte Marc.

Ich neigte meinen Kopfstern. „Bedenken Sie auch, daß das Tier den Koordinator angegriffen hat, als er dem Verwundeten zu Hilfe eilen wollte!“

“Es ist ein wahres Wunder, daß ihm nicht mehr geschehen ist!” stimmte der Arzt der Erdmenschen zu. “Auch unser Freund hier”, er wies auf den Verwundeten, “hat mehr Glück als Verstand gehabt – bloß einen glatten Schenkelbruch und oberflächliche Verletzungen – ich will nur der Vorsicht halber seine Wunden noch desinfizieren – “

„Vorsicht! – Das Tier! – Die Gitter!“

Wir fuhren auf. Mit einem wütenden Ruck hatte sich das Ungeheuer gegen die Tronium-Gitter geworfen. Scharfe Klauenzangen packten die Stäbe, bogen sie und zerbrachen sie – der lange, braune Leib wand sich und schoß durch die Öffnung!

„Zum Boot!“

Ein starker Arm packte mich und riß mich mit. Rings um uns stoben Ryl und Menschen auseinander, während sich das Untier auf den Verwundeten stürzte, der allein hilflos zurückgeblieben war. Es war wahrhaftig nicht Feigheit, daß ihn die Erdwesen zurückließen – sie hätten ihn aus den Klauen des Untiers herausreißen müssen, denn es hatte sich zielsicher über ihn geworfen.

„Verdammt!“ knirschte Marc, als wir das Boot sicher erreicht hatten. „Also war alles nur eine List, um uns in Sicherheit zu wiegen!“

„Es ist unverständlich“, sagte der Koordinator leise. „Dieses Wesen ist intelligent genug, uns diese Zeichnung zu zeigen – und dann wiederum so sinnlos wütend, daß es die Gitterstäbe zerbricht und uns deutlich zeigt, worauf es eigentlich aus ist. Ich kann List und Heimtücke verstehen – und auch ungezähmte Freß- oder Angriffslust – aber dieses Gemisch von beidem?”

„Und dann“, fuhr er fort, „noch so ein Widerspruch: Es widersteht Strahlwaffen und kann Troniumstäbe zerreißen – aber es flieht vor einem Menschen, der es mit dem Spaten angreift! Ich verstehe dieses Wesen nicht!“

Er versank in nachdenkliches Schweigen.

„Chef“, knurrte einer der Erdmenschen, die mit uns Zuflucht im Boot gesucht hatten, „mich interessieren psychologische Studien über dieses Vieh wirklich nicht, solange der arme Kerl da draußen unter seinen Klauen liegt! Will ihm denn keiner helfen?“

„Der einzige Weg, ihm zu helfen, ist, herauszubekommen, was das Wesen eigentlich will! wies ihn der Koordinator zurecht. „Soll ich etwa mit einer Strahlpistole schießen? Das schadet dem Verwundeten mehr als dem Untier!“

Er hatte recht – er mußte recht haben; denn hätte es einen anderen Weg gegeben, so hätte er ihn – als Roboter – wählen müssen. Ich ahnte, daß sich in seinem positronischen Gehirn jetzt die Ströme jagten, um eine Lösung zu finden.
Aber ich ertrug es nicht länger, diesem Schauspiel zuzusehen: ein rötlicher biegsamer Rüssel war irgendwo aus dem Leib des Untiers hervorgekommen und wühlte in den Wunden des Verletzten – ich hatte selbst die Schmerzen des sterbenden Ryl gespürt – und jetzt schlugen die Wellen der Angst des Verwundeten zu mir herüber …

„Gondor Ryan!“ rief der Koordinator. „Bleiben Sie stehen!“

Ich hörte nicht auf ihn. Ich hatte mich über die Wandung des Bootes geschwungen und glitt jetzt über die Sandfläche auf das Untier zu. Mich schüttelte das Grauen bei dem Gedanken an seine reißenden Klauen – aber die würgende Angst, die aus den Gedanken des Verletzten zu mir drang, seine verzweifelten, stummen Hilferufe zogen mich genauso stark und unwiderstehlich an, als sei ich ein Roboter, den das Gesetz zwang, ihm zu Hilfe zu eilen.

Jetzt hatte ich ihn erreicht. Dicht vor mir lag der Leib des Untieres – dort zuckten die Klauenbeine, und der Rüssel tupfte ruhelos an den Wundrändern. Ich schob einen meiner Arme vor und suchte ihn wegzureißen, aber schon schoben sich andere gegliederte Beine dazwischen – und nun packten sie mich plötzlich, hoben mich – schon glaubte ich, die scharfen Klauen in meinem Leib zu fühlen…

… aber ich fühlte nichts. Es war geradezu ein betäubender Schock: Anstatt des wilden Schmerzes, auf den ich gefaßt war, fühlte ich mich nur sanft emporgetragen; die scharfen Messerklauen waren eingezogen und die starken braunen Beine verursachten mir weniger Schmerz als vor ein paar Stunden die kantigen Leiterholme des Erdschiffes!

Sorgfältig, fast liebevoll setzten mich die seltsamen Greifer wieder in den Sand und zogen sich gestikulierend zurück, als wollten sie sich für ihr Vorgehen entschuldigen.

Aber die Angst des Verwundeten trieb mich wieder vorwärts. Hinten – im Boot – schrieen die Menschen etwas Unverständliches. Unklare Gedankenfetzen der Ryl drangen zu mir. Aber sie alle wurden übertönt durch den Schreck des Verwundeten. Aber plötzlich ließ dieses wilde Drängen nach – die Gedanken wurden schlaff. Stirbt er jetzt, fragte ich mich. Aber schon schoben sich andere Gedanken nach vorn – und so unfaßbar es mir erschien: Der Verwundete – träumte! Er schlief!

Der braune Leib des fremden Wesens bäumte sich auf. Der rote Rüssel verschwand – die Klauenbeine lösten sich – es war, das spürte ich, im Begriff, zurückzuweichen; doch da traf mich plötzlich mit voller Stärke ein warnender Gedankenschrei:

„Vorsicht, Gondor Ryan!“

Und mit gräßlicher Klarheit drang aus dem Hirn eines anderen Ryl ein Bild auf mich ein: Einer der Erdmenschen im zweiten Boot hatte die Nerven verloren. Er hob, allen Erfahrungen zum Trotz, seine Strahlpistole, um auf das Wesen zu schießen – und ich stand genau in der Linie des Strahls!

Ich spürte noch, wie der Ryl den Arm des Erdmenschen abzulenken suchte. Aber es war zu spät. Ich sah, wie der bläuliche Kegel auf mich zuschoß! Das Wesen bäumte sich hoch auf. Dann hörte ich ein dumpfes Zischen. Ungeheure Hitze hüllte mich ein – und zum zweiten Mal an diesem Tag verlor ich das Bewußtsein.


„Dem Himmel sei Dank, Gondor Ryan!“

Ich blickte in die Augen eines Erdmenschen, der über mich gebeugt war. Ich las seine Gedanken: Scham und eine tiefe Erleichterung. Es war der Mann, der den unglückseligen Schuß abgegeben hatte.

„Ich – ich konnte es einfach nicht mit ansehen, wie das Vieh…“ stammelte er. Ich neigte begütigend meinen Kopfstern und legte einen meiner Arme auf den seinen.
„Ich verstehe – es wäre mir vielleicht genauso gegangen“, beruhigte ich ihn. „Aber – wieso…!“

Wieso lebe ich noch? wollte ich fragen. Ich kannte die Strahlwaffen der Erdmenschen. Nichts konnte in ihrem Kegel bestehen, wenn nicht Tronium-Metall oder…

„Was ist mit dem – Wesen?“ fragte ich stattdessen.

„Das hat es erwischt!“ sagte der Erdmensch mit tiefer Befriedigung. „Dieser Strahl war offenbar mehr, als es aushalten konnte!“

Ich richtete mich auf. Irgendwo auf dem Sand in meiner Nähe lag der verkrümmte Körper des Wesens, das uns alle vor wenigen Minuten noch mit solchem Grauen erfüllt hatte – halbverbrannt und leblos. Ein paar Menschen und Ryl schienen den Körper gerade näher zu untersuchen.

Der Koordinator war näher getreten, Marc an seiner Seite.

„Gondor Ryan – wir Menschen werden es nicht vergessen, daß ein Ryl es war, der als einziger gegen dieses – Ungeheuer anzugehen wagte“, sagte Marc leise. „Und ich wollte noch vor ein paar Stunden…“

Wieder spürte ich eine Welle von Scham aus seinen Gedanken zu mir herüberschlagen. Es war mir unangenehm. Schließlich hatte ich kaum überlegt, als ich aus dem Boot gesprungen war…

Aber irgend etwas stimmte doch bei der ganzen Sache nicht! Es war doch unmöglich, daß ein Ryl sich für einen Menschen einsetzte, während ein Roboter untätig dabeistand? Wo blieb da das erste Grundgesetz? Ich hatte das Gefühl, daß ich alle Vorgänge noch immer nicht recht verstand. Ein Schuß tötete das unverletzliche Ungeheuer, aber ich blieb verschont. Ein Verwundeter fiel aus Todesangst in friedlichen Schlummer – ein Roboter vergaß seine Pflicht – Widersprüche über Widersprüche!

„Chef!“ Ein aufgeregter Ruf ließ den Koordinator auffahren. Einer der Männer, die das leblose Wesen untersucht hatten, hielt gestikulierend etwas in die Höhe, was er aus dem verkrümmten Rumpf gezogen hatte. „Chef! Kabel und Spulen!“
Wenige Augenblicke später standen wir um den halbverkohlten Körper und starrten auf das, was die vernichtenden Strahlen der Waffe freigelegt hatten: Nicht Knochen oder Muskeln – unzählige, regelmäßig angeordnete Leitungen und Spulen, Kondensatoren und Transistoren füllten den Rumpf aus.

„Dieses – dieses verdammte Biest war ein Roboter!“ rief Marc fassungslos.
Der Koordinator nickte.

„Ich vermutete es schon seit einiger Zeit – jetzt wissen wir es sicher. Und ich möchte dich bitten, vorsichtig mit Ausdrücken, wie ,das verdammte Biest‘, zu sein – ich fürchte, sie passen besser auf uns alle, als auf dieses Wesen!“

Der Koordinator schwieg eine Weile nachdenklich. Dann fuhr er sich mit einer seltsam menschlichen Geste über die Augen und begann leise:

„Marc, wie lauten die drei Grundgesetze der Robotik?“

„Erstens: Ein Roboter darf kein menschliches Wesen angreifen oder zu Schaden kommen lassen“, sagte Marc langsam. „Zweitens: Ein Roboter muß jeden Befehl eines Menschen befolgen – sofern er nicht dem ersten Grundgesetz widerspricht. Und drittens: Ein Roboter muß seine eigene Existenz schützen, solange es nicht dem ersten oder zweiten Grundgesetz widerspricht.“ Er sah den Koordinator fragend an.

„Ja, Marc, das sind die drei Grundgesetze, wie sie die Menschen formuliert haben. Und nun stell dir eine andere Rasse vor, eine Rasse, die in vielem weit erfahrener und weiser war, als die Menschen – eine Rasse, die wohl wußte, daß sie nicht allein im Weltall lebte. Kannst du vermuten, wie ihre Grundgesetze für ihre Roboter gelautet haben?“

Der Koordinator machte eine Pause. Er sah mich einen Augenblick lang scharf an, dann fuhr er fort:

„Ja, für sie hieß das erste Grundgesetz: Kein Roboter darf ein lebendes Wesen, gleichviel welcher Art, angreifen oder zu Schaden kommen lassen. Und dieses ‘Ungeheuer‘ hat nichts weiter getan, als jenes Gesetz befolgt.

Jahrtausende, Jahrzehntausende, mag es hier irgendwo in den Ruinen gelegen haben. Und dann kamen wir. Und was taten wir? Wir gingen auf die Jagd! Das ist ja ein Vergnügen für uns, die Herren der Schöpfung, irgendein anderes Wesen totzuschießen – nur um uns zu beweisen, wie geschickt wir sind! Und damit setzten wir den uralten Mechanismus wieder in Gang: Der Roboter mußte dem Menschen die Mordwaffe, das Gewehr, abnehmen, damit er nicht noch mehr Unheil damit stiftete!

Hätte er sie ihm kampflos überlassen – alles wäre gut gewesen. Aber er widerstrebte – und der zweite Schuß löste sich. Er traf den Ryl – und damit mußte sich der fremde Roboter dem zweiten Verletzten zuwenden: Nicht, um ihn anzugreifen – nein, um ihm Hilfe zu bringen! Mit seinen ‚Klauen‘ – in Wirklichkeit feinsten chirurgischen Instrumenten – wollte er die Kugel aus dem Körper des Ryl entfernen. Aber das können wir nicht verstehen – wir müssen immer und immer das Schlimmste annehmen: Und deshalb stürzt sich der dritte mit der Strahlpistole auf den Helfer.

Der Roboter wehrt sich nicht – aber er absorbiert die Energie des Strahls ohne Schaden. Er ist nach dem dritten Grundgesetz gut dazu ausgerüstet, seine eigene Existenz zu schützen. Aber auch er kann nicht verhindern, daß jetzt der alte morsche Turm – seiner Fundamente beraubt – zusammenbricht und die Opfer unter sich begräbt.

Gleich nach dem Unglück bemüht er sich, zu retten, was noch zu retten bleibt – und wie wird ihm das gedankt? Wir erscheinen und schießen wieder mit Strahlpistolen herum!

Ich selbst störe ihn mitten in dem diffizilen Geschäft, die gebrochenen Knochen wieder zu richten – natürlich schiebt er mich weg!“

Die anderen schienen das ohne Kommentar hinzunehmen – nur in Marcs Gedanken spürte ich ein leises Lächeln: Der Koordinator war ja ein Roboter – und ihn konnte das Wesen ruhig angreifen: denn nur Leben war ihm heilig! Aber es war besser, wenn das ungesagt blieb.

„Und jetzt kommt eine ganze Horde lebender Wesen und gibt dem Roboter unmißverständlich zu verstehen, daß er sich fortscheren soll! Seine Aufgabe ist beendet – der Verwundete ist versorgt – also will er sich zurückziehen. Aber das lassen wir auch wieder nicht zu – wir sperren ihn ein und bedrohen ihn weiter.
Jetzt versucht er, sich mit uns zu verständigen – ohne Sprache allerdings, mit Hilfe einer Bilderschrift, die jedes intelligente Wesen verstehen muß, will er uns klarmachen, was geschehen ist. Aber wir glauben ihm nicht. Wir sind so voll Mißtrauen gesogen bis obenhin, daß wir jede Unklarheit in seinen Mitteilungen zu seinen Ungunsten auslegen!“

„Aber warum bricht er wieder aus dem Käfig aus?“ fragte einer der Männer erregt. „Niemand war da bedroht, dem er zu Hilfe eilen mußte!“

Der Koordinator lächelte.

„O doch – wenn wir Herren der Schöpfung es auch nicht bemerkt haben: Es war Leben bedroht!

Was sagten Sie doch, Doktor, als das ‘Ungeheuer‘ plötzlich aus seinem Käfig ausbrach? ,Ich muß nur noch die Wunde desinfizieren!‘ Und was heißt desinfizieren? Töten heißt es – unzählige Keime töten!“

Der Arzt fuhr auf. „Aber das ist doch…“

„Das ist für uns selbstverständlich, aber ich vermute, daß er mit seinem rötlichen Rüssel ein Lockmittel darbot, das die Bakterien aus dem Körper des Verletzten wieder auswandern ließ – ohne sie selbst zu schädigen. Sie sollten das Problem untersuchen!“

Der Koordinator wandte sich wieder zu mir. „Und nun kommen wir zum Ende der Geschichte. Der Roboter hat den Verwundeten in heilenden Schlaf versenkt – er hat einen neuen Störenfried, unseren Gondor Ryan, sorgfältig beiseite geschoben – jetzt könnte er sich endlich zurückziehen. Aber da hebt jemand die Strahlpistole – und diesmal ist es nicht nur der unverletzliche Roboter, der im Energiekegel steht, sondern auch ein lebendes Wesen. Und wieder greift das erste Grundgesetz ein: Vor die Wahl gestellt, sich selbst zu schützen – oder Gondor Ryan – muß sich der Roboter opfern.

Er verschiebt seinen Energieschirm so, daß er den Ryl vor dem sengenden Strahl bewahrt – aber dafür ist er selbst ohne Schutz. Und so bleibt ihm nur die Vernichtung – im Dienst des Lebens, das für ihn heilig ist…“

Der Koordinator schwieg, und wir alle standen stumm neben der verbrannten Hülle. Schließlich sagte einer der Männer mit einem unsicheren Lachen:
„Chef – Sie sprechen von dieser Maschine, als sei sie ein Märtyrer gewesen!“
Marc sah ihn scharf an.

„Nein – kein Märtyrer, aber ein Sündenbock. Sie kennen doch die Geschichte vom Sündenbock? Sie steht im Alten Testament: Einmal im Jahr – heißt es da – wählten sich die Kinder Israels zwei Böcke; der eine wurde dem Gott Jahwe geopfert – den anderen aber beluden sie mit allen ihren Sünden und jagten ihn in die Wüste hinaus, ins Reich des Dämons Azazel -.damit er sie trage‘, heißt es in einem Kommentar.

Haben wir alle – Menschen und Ryl – nicht das gleiche getan? War es nicht unser aller Mißtrauen gegeneinander, das Mißtrauen gegen Leben und Denken in anderer Form als der gewohnten, das wir auf dieses Wesen übertragen haben? Waren es nicht unsere eigenen Fehler, unsere ‘Sünden‘, die wir ihm angedichtet haben – Heimtücke, Betrug, Blutgier, Feigheit, der Wille, andere zu vernichten, nur weil sie anders sind, und die Angst, vernichtet zu werden, nur weil man anders ist?
Azazel – die Wüste – haben wir diesen Planeten genannt; und auf Azazel, den Sündenbock, haben wir unsere Sünden abgewälzt. Aber – haben wir sie auch mit Azazel vernichtet?“

Er wandte sich ab und ging in die Wüste hinaus. Der Koordinator sah ihm nach.
„Gondor Ryan“, sagte er leise, „wir waren einig, als wir glaubten, Azazel vernichten zu müssen. Können wir nicht auch einig sein, wenn es darum geht, seinem Vorbild, dem Vorbild seiner Erbauer, zu folgen – ein Band zu knüpfen, das alles Leben im Universum einigt?“ Ich neigte meinen Kopfstern.

„Koordinator“, erwiderte ich leise, „nicht umsonst hat wohl der Rat unserer Priester gerade diesen Planeten als Ort für unser Treffen ausgewählt. Unsere Priester sind weise – weiser, glaube ich heute, als der Hohe Rat unserer weltlichen Herrscher; und ich begreife jetzt, warum sie mir ein Angebinde mit auf den Weg gaben, dessen Sinn ich damals nicht verstand.

Morgen früh werde ich dem Erdmenschen Marc die Goldene Maske des Schweigens geben – die Maske, die seine Gedanken vor mir verhüllt.
Denn ich fürchte, wir Ryl, die wir Gedanken lesen können, haben dabei etwas sehr Wertvolles verlernt: dem anderen zu vertrauen, auch ohne sein Inneres zu kennen.

Und die Erdwesen haben sich Roboter gebaut, deren Gedanken sich auf genau vorgeschriebenen Bahnen bewegen müssen – und sie haben dabei auch etwas sehr Wichtiges verlernt: daß es nämlich Dinge gibt, die sich nicht in Gesetzen und Mechanismen einfangen lassen.

Vertrauen, Koordinator, ist stets ein Wagnis – und das wird es auch bleiben. Ein Roboter darf nichts wagen – er muß am Leitseil seiner Regeln einhergehen; und deshalb, Koordinator, müssen wir Ryl mit dem Wagnis des Vertrauens beginnen…“