… lebt zu Beginn der Handlung bei einer Freundin, der Witwe eines verarmten britischen Adligen, die kaum mehr hat, als dessen verschuldetes Landhaus, und kümmert sich, während diese das Nötigste durch Übersetzungsarbeiten verdienen muß, um deren Jungen, den künftigen “Lord Glenarvon” – hat sich aber auf eine Anzeige hin beworben …
(… das Vorgespräch…)
Als ich am Sonnabend aus dem Dorf zurückkam, empfing mich Marjorie etwas aufgeregt in der Halle.
„Es ist jemand aus Deutschland da – wegen der Anzeige! Ein Dr. Bollinger oder so – ich glaube, er ist der Hausarzt und gerade zu einem Kongreß in London – er radebrecht zwar entsetzliches Englisch und sieht aus wie Goldfinger, du weißt schon, dieser deutsche Schauspieler da im Film, aber ich glaube, er ist ganz nett: mit Tom jedenfalls versteht er sich schon prächtig – “ wisperte sie mir atemlos zu.
„Mit Tom?!“ fragte ich – etwas albern, denn es lag ja nahe, daß sich jemand, der meine Eignung als Gouvernante prüfen wollte, auch für meinen Schützling interessierte; aber ich war im Moment wirklich völlig durcheinander. Zudem sah ich aus wie frisch unterm Tore hereingekrochen!
„Also halt ihn bitte noch ein bißchen bei guter Laune – ich muß mich wenigstens etwas zurechtmachen!“ beschwor ich sie.
„Aber wieso – Du siehst doch so sehr hübsch aus – “ behauptete Marjorie und wollte mich schon am Arm in die Bibliothek ziehen.
Ich machte mich los. Mühsam einen hysterischen Unterton in meiner Stimme unterdrückend, sagte ich bestimmt: „Marjorie, Du weißt, wie sehr es für mich darauf ankommt, wie ich aussehe – gerade vor so einer Begegnung! Also sei ein Schatz und laß mir ein paar Minuten vor dem Spiegel!“
Sie nickte. „Na ja – ich versteh Dich ja: also lauf – ich mach das hier schon!“ und wandte sich, ihr bestes Gastgeberinnenlächeln aufsetzend, wieder zur Bibliothek, während ich die Treppe hinaufhetzte.
In meinem Zimmer angekommen, hatte ich regelrechtes Herzklopfen – ob nun vom raschen Treppensteigen oder vor Aufregung? Mit all diesen Medikamenten im Leib entwickelte ich mich langsam wirklich zu einem hysterischen Frauenzimmer!
Aber es beruhigte mich wie immer, als ich mich vor die Spiegeltoilette setzen, wenigstens ein bißchen make-up für Augen und Mund auflegen und die Haare halbwegs zurechtkommen konnte – nichts Glamouröses natürlich, aber immerhin genug, um mein Selbstgefühl einigermaßen wieder herzustellen. Das kam einfach alles zu unerwartet und zu rasch: regulär hätten mir diese Deutschen zurückschreiben – und allenfalls den Termin für eine Vorstellung vorschlagen müssen, auf die man sich in Ruhe vorbereiten konnte – statt mir gleich ihren medizinischen Sachverständigen auf die Bude zu schicken! Aber – mußte ich plötzlich denken, während ich mechanisch nochmal mein Bild im Spiegel kontrollierte, vielleicht war es ein Fingerzeig des Schicksals, daß es ausgerechnet ein Arzt war, mit dem ich zu reden hatte?
Was ich mir wirklich richtig dabei dachte, kann ich selbst nicht sagen – aber jedenfalls schloß ich diese unterste Schublade im Sekretär auf und holte die schwarze Mappe mit den Unterlagen heraus. Es war ein wenig grotesk, daß die einzige Tasche, in die diese Mappe paßte – schließlich wollte ich sie nicht gleich in der Hand hereintragen; Marjorie kannte sie zu gut – meine grüne Frotteetasche für die Badesachen war: aber wenigstens paßte die sogar zufällig zu den Paspeln meines weißen Sommerkleids, so daß es nicht allzu blödsinnig aussah, sie mitzuschleppen. Aufzumachen brauchte ich sie ja gar nicht, wenn es nicht nötig war …
Und dann ging ich – nach noch ein paar Spritzern Eau de Cologne, damit ich wenigstens wie eine gepflegte junge Dame roch statt wie eine verschwitzte Stute – hinunter.
„So – Sie sind also die Miss Vivian Grey!“ dröhnte Dr. Bollinger, als wir allein waren, und musterte mich mit unverhohlener Neugier von oben bis unten. Ich hoffte nur, daß sein Eindruck von mir besser war als der meine von ihm: Marjorie hatte wirklich den Nagel auf den Kopf getroffen – er sah aus wie Goldfinger, ich meine dieser Herr Fräse oder Frebe: die gleiche massige Figur, der runde Kopf mit den schlauen Schweinsäuglein, sogar der gleiche Knickerbockeranzug und die gleiche blusterige Art zu sprechen:
„Ich rede lieber Deutsch mit Ihnen, weil Sie das ja anscheinend perfekt können – “ brummelte er weiter, „das ist zwar unhöflich, aber nur halb so sehr als wenn ich Ihnen mein Englisch zumute: für Ihren Artikel habe ich drei Stunden mit dem Diktionär gebraucht – höhöhö!“ röhrte er fröhlich. „Nehmen Sie auch was zu trinken?“ unterbrach er sich und wies auf die Whiskyflasche, die noch mit Eis und Gläsern auf dem Tisch stand.
Ich schaute ein bißchen hilflos: trinkt eine seriöse Gouvernante am hellen Vormittag Whisky bei ihrer Vorstellung? Wahrscheinlich doch wohl nicht, dachte ich und schüttelte leicht den Kopf.
„Na dann gestatten Sie aber, daß ich mir noch einen einschenke – “ meinte er ungerührt und goß sich sein leeres Glas wieder voll. „Durstiges Geschäft – Gouvernanten interviewen!“ brummte er dazu und zwinkerte mir vertraulich zu. Ich hatte mich zwar noch nie für so einen Posten vorgestellt – aber daß Dr. Bollingers Art etwas unorthodox für ein solches Interview war, schien mir doch auffällig, merkwürdigerweise hatte das aber eher eine beruhigende Wirkung auf mich – vielleicht, weil es dadurch immer unwirklicher schien, daß aus alledem ernsthaft eine Anstellung werden könne …
„Sie meinen also – “ fuhr er nach einem kräftigen Schluck Whisky fort, „daß mit einem Jungen nie ‚was nicht in Ordnung‘ ist – sondern allemal bloß mit den Leuten, die ihn erziehen wollen: und je mehr sie an ihm herumerziehen – desto mehr kommt alles aus der Ordnung – nüch?“ machte er gemütlich.
„Ganz so habe ich das zwar nicht geschrieben – “ korrigierte ich vorsichtig.
“ – aber gemeint!“ wischte er meinen Einwand unbeirrt weg. Drei Stunden mit dem Diktionär mochte er über „What’s wrong with your Boy?“ gebraucht haben – aber entgangen war ihm dabei auch das nicht, was eigentlich nur zwischen den Zeilen stand: hinter dieser brummeligen Onkel-Doktor-Fassade steckte ein unheimlich scharfer und wacher Verstand – ein „gemütliches“ Interview würde das keineswegs werden …
„Ich erzähl Ihnen dazu ’nen klassischen Fall – “ brummelte er wie versonnen weiter, „Vater: Forschungsingenieur, wird Unternehmer, baut ’nen Riesenladen auf, ist immer mehr unterwegs – Mutter hockt mit dem Jungen zuhause, mopst sich, macht sich aus ihm ein Püppchen zum Spielen – zudem ist sie zwar süß und charmant, aber im Bett kalt wie ein Fisch – Resultat: nach’n paar Jahren Scheidung – der Junge wird der Mitte nach durchgeteilt, zeitlich meine ich, halb für Papa und halb für Mama – nur weil Papa sowieso nie da ist, kommt’s darauf hinaus, daß er praktisch immer bei Mama hockt – sprech ich zu schnell oder zuviel Jargon?“ unterbrach er sich.
„Nein – danke – ich komme ganz gut mit!“ beruhigte ich ihn.
„Hm – “ fuhr er nachdenklich fort, „der Junge selbst: hochintelligent – da kommt der Vater durch – sensibel – von der Mutter her – übernervös – warum, brauch ich nicht zu erklären – wird natürlich der kleine Page seiner schönen Mama: und der Vater ebenso natürlich für ihn der finstere Tyrann hinterm Berg, der ihr immer so bitter Unrecht tut – besonders wenn er sagt ‚Du erziehst den Jungen falsch!’: dann machen beide schon aus Protest das Gegenteil von allem, was er vorschlägt – und im übrigen meint die Mama, wie in diesem jiddischen Witz, wo die eine Frau der anderen erschrocken erzählt, der Psychologe fürchte, ihr Moritz hätte einen Ödipuskomplex – “ er griff, instinktiv eine kleine Pause vor der Pointe einlegend, nochmal zu seinem Whiskyglas – aber da begann schon wieder diese Automatik in meinem Gehirn zu arbeiten: das stand doch – Moment – in Koestlers “Göttlichem Funken” unter den Beispielen für die ‚Logik des Lachens‘, als ein Witz, den ihm kein Geringerer als der große John von Neumann erzählt hatte:
„Ödipus, Schmoedipus – was regst Du Dich auf, solang er ein braver Junge ist und seine Mammi liebhat!“ ergänzte ich automatisch.
Dr. Bollinger setzte verblüfft das Glas ab:
„Ach herrje – der Tom hat recht: Sie kennen wirklich so ziemlich alles!“ sagte er kopfschüttelnd. „Also kurz und gut – oder vielmehr gar nicht gut: die beiden leben wie die Turteltauben – der Junge hilft ihr die Hüte und Kleider aussuchen, und sie würde ihn am liebsten auch in Spitzenkleidchen stecken – eigentlich hätte sie sowieso viel lieber ’ne Tochter gehabt – und sie wird schon eifersüchtig, wenn er über ’nem Buch hockt oder in seiner chemischen Räucherkammer im Keller statt bei ihr – von Schulkameraden oder Freunden ganz zu schweigen! – aber die vermißt er natürlich auch gar nicht, weil er ja die schönste Mama der Welt hat … “ er nahm wieder einen Schluck Whisky, „da – bums – fahren die beiden eines schönen Tages mit ihrem Auto gegen die Leitplanke – Mutter sofort tot – „
“ – und der Junge ?“
„Schock und doppelter Oberschenkelbruch – gottseidank doppelt, möcht‘ ich sagen, so komisch das klingt – denn dadurch muß er so lang in Gips und Streckverband stecken, daß ihm wenigstens das Begräbnis erspart bleibt – die Trauergäste – und dann das leere Haus – “ Er schwieg einen Moment. „Aber einmal – und zwar schon sehr bald – muß der Gips runter – und dann ?!“
„Der Vater – ?“ fragte ich ziemlich unsicher.
„Also – der Vater: hoffentlich habe ich den jetzt nicht zum Buhmann – sagen Sie doch auch, nöch: Boogeyman oder so ? – vom Ganzen gemacht! Natürlich war er nie zuhause! Natürlich hat er bei anderen Frauen geschlafen, als seine keine Lust mehr hatte! Natürlich hätte er nachher wenigstens mit der Faust auf den Tisch hauen müssen, bevor sie ein Schoßkind aus dem Jungen machte! Aber schließlich hatte der Mann die ganze Zeit auch noch was anderes um die Ohren – so ein Konzern is ja kein Pappenstiel und den hat er ja schließlich auch für seinen Jungen aufgebaut!“ Er sah mich herausfordernd an.
„Oh – “ sagte ich sanft, „da hab ich Sie nun doch falsch verstanden: es klang erst so, als hätte er das mehr zu seinem eigenen Vergnügen getan?“
„Touche – !“ sagte er und grinste ein wenig schuldbewußt. „Ich will ihn nicht besser machen als er ist: natürlich ist der Mann ein Fanatiker, wenn es um seine Arbeit geht – möglicherweise ist er sogar ein Genie – aber das heißt nicht, daß er blind ist oder verantwortungslos: der Mann liebt seinen Sohn – er versteht ihn sogar so gut, daß er weiß, der Junge kann jetzt, wenn kein Wunder geschieht, endgültig einen Knacks fürs ganze Leben bekommen – und muß sich doch eingestehen, daß er ihm gerade jetzt nicht helfen kann: weil er die Chance dazu irgendwann verspielt hat – und jetzt kann er sie nicht mehr zurückkaufen, auch wenn er sein ganzes Werk dafür drangeben wollte. Der braucht jetzt keine Vorwürfe – die macht er sich schon selbst – sondern jemand, der ihm hilft: oder vielmehr, der dem Jungen hilft. Also – “ er griff wieder nach dem Whiskyglas, „fährt der alte Dr. Bollinger aus, um nach einem Wunder zu suchen…“
Er nahm einen tiefen Schluck und sah mich dann voll an:
„Sind S i e dieses Wunder, Miss Grey?“
Ich schluckte. Was soll man auf so eine Frage antworten? Am liebsten hätte ich jetzt doch einen Schluck Whisky gehabt …
„Sagen Sie – “ der alte Doktor hob die Hand, “ – noch nichts: Sie sind nämlich – wenigstens bisher – die Einzige, die mir von wirklich kompetenter Seite empfohlen worden ist – “ er grinste wieder ein wenig sardonisch, als er meine Befremdung sah, und wühlte dann in seinem Aktenkoffer, um mir ein Blatt zu überreichen. Ich nahm es – und las, was da auf liniertem Papier in etwas krakeliger Schuljungenschrift stand:
„Sehr geehrte Herren,
bezugnehmend auf Ihre Anzeige betreffend eine Gouvernante kann Ich Frl. Vivian Grey für diese Position hoch empfehlen.
Ich meine das, weil Ich selbst zuerst bestimmt gegen Gouvernanten war. Am ersten Abend legte Ich einen Frosch in ihr Bett, Nächsten Morgen hatte sie ihn in ein Glas gesetzt und 3 Fliegen für ihn gefangen. Was zeigt das sie wirklich eine extrem vernünftige Person ist welche außerdem in der Tat fast alles kann, sogar Sachen die sie nie von einer Dame glauben würden wie Seemanns Knoten und Karten Tricks.
Ich würde wirklich hassen sie gehen zu lassen aber Ich denke sie könnte mit etwas mehr Geld tun und sie können wirklich dafür nicht irgendjemand besseres finden als Frl. Grey!
Hochachtungsvoll
Thomas
Lord Glenarvon
P.S. Sie spricht Deutsch auch wirklich sehr gut nur richten sie das nicht nach diesem Brief weil, natürlich, sie ihn gar nicht gesehen hat und all die Fehler mein sind!“
Ich spürte, daß mir auf einmal Tränen in den Augen standen. Das war natürlich albern und feminin – aber mit all diesen Hormonen bin ich neuerdings sentimental wie eine viktorianische Romanheldin – und die Vorstellung, wie Tom da mit gefurchter Stirn und englisch-deutschem Diktionär einen Empfehlungsbrief für mich aufgesetzt und abgeschickt hatte, war so rührend und komisch zugleich … dennoch war es mir sehr peinlich, ausgerechnet vor diesem deutschen Doktor da wie eine Heulsuse mit schwimmenden Augen zu sitzen.
Mit mehr Takt, als ich ihm zugetraut hätte, machte er sich in seinen Akten zu schaffen – obwohl ich sicher war, daß seinen scharfen Schweinsäuglein nichts entgangen war – und brummelte halb aus seinem Koffer hervor:
„Eine junge Dame, die bei jemand, der ihr erst Frösche ins Bett gelegt hat, eine solche – nahezu fanatische Begeisterung auslösen kann, macht selbst einen alten Skeptiker wie mich wieder an Wunder glauben … „
„Halten Sie das nicht – “ versuchte ich in leicht spöttischem Ton einzuwerfen (der mir nur leider ziemlich mißlang, weil ich noch immer so eine Art Kloß im Hals hatte), „nur für eine besonders raffinierte Methode, mich wieder loszuwerden?“
„Also das Raffinement – “ grinste der Doktor, „traue ich nun Thomas Lord Glenarvon wieder nicht zu – und ich habe, wissen Sie, auch ein bißchen Erfahrung mit kleinen Jungen … “ er wurde unvermittelt wieder ernst, „und ich könnte – wohlgemerkt könnte – mir denken, daß Sie vielleicht das sind, was uns eine Chance gibt … „
Soviel Hoffnung stand auf einmal in seinen alten Augen, daß ich gar nicht anders konnte, als aufzustehen und zu sagen:
„Herr Dr. Bollinger – es gäbe zwei Gründe, warum ich diese Aufgabe liebend gern übernehmen würde:
der eine ist, daß ich fast den gleichen Fall – sehr eng – schon einmal miterlebt habe; einen Fall, in dem niemand da war, der dem Jungen helfen konnte – und wo er, wie Sie ganz richtig sagen, endgültig einen Knacks fürs ganze Leben bekommen hat. Wenn ich die Chance hätte, zu versuchen … “ Ich brach ab. Dieser Kloß im Hals war noch immer nicht hinuntergeschluckt.
„Der zweite Grund – “ sprach ich rasch weiter, „ist, daß ich das Geld – wie Tom sehr richtig schreibt – brauchen – nicht bloß gern haben, sondern – lebensnotwendig brauchen könnte.
Leider gibt es einen dritten Grund, weshalb ich es nicht verantworten könnte, diese Aufgabe zu übernehmen. Als ich Ihnen schrieb, war das vielleicht auch schon nicht zu verantworten – aber da sah es noch so aus, als wäre es nur irgendein Job für irgendeinen Jungen, sagen wir wie Tom – und da hätte ich es riskiert. Aber bei Ihrem Fall hängt zuviel davon ab – ich kann’s nicht! Verstehen Sie: so brennend gern ich wollte – ich kann’s nicht – !!!“ Ich merkte mit Schrecken, wie meine Stimme schrill und hysterisch geworden war – ich mußte ein schönes Schauspiel für einen Mediziner abgeben! Es fehlte nur noch, daß ich mich in der klassischen „grand-mal-Pose‘ auf den Teppich schmiß …
„Ich glaube Ihnen – “ sagte er langsam, beinahe zärtlich, „ich glaube Ihnen ja: daß Sie uns so gern helfen wollen – und daß Sie einen Grund haben, weshalb Sie’s dennoch nicht tun können.“ Er sah mich scharf an – aber gottseidank hatte ich mich jetzt wieder unter Kontrolle. „Ich glaube Ihnen auch – “ fuhr er, noch immer langsam und eindringlich, fort, „daß es ein guter und gewichtiger Grund ist – und ich bin bereit, diesen Grund zu respektieren: ob ich ihn nun erfahre oder nicht.“
Er stand auf und trat neben mich: „Aber vielleicht verzeihen Sie einem alten Doktor – und alte Doktoren, falls Sie das noch nicht wissen, sind neugierig wie junge Hunde! – wenn er diesen Grund doch gern erfahren würde – und sei’s nur – alte Doktoren sind nämlich auch ziemlich eitel! – weil er denkt, daß er Ihnen vielleicht irgendwie helfen könnte … „
Ich spürte, wie ehrlich er es meinte – und versuchte zu lächeln (es ging sogar einigermaßen), als ich sagte:
„Nein – ich glaube, Sie haben sogar ein Recht darauf, zu erfahren, was dieser Grund ist: und sei’s nur – Eitelkeit ist nämlich nicht das Privileg alter Doktoren! – damit Sie mich nicht für ein völlig übergeschnapptes Frauenzimmer halten… „
Ich nahm die schwarze Mappe aus der Tasche und gab sie ihm in die Hand: „Das stammt zwar von einem englischen Doktor – aber ich hoffe, Sie werden die Fachausdrücke auch ohne Diktionär verstehen …“
Er sah mich wieder scharf an – öffnete dann die Mappe und schaute hinein – hob entschuldigend die Hand, setzte umständlich eine dicke Hornbrille auf und ließ sich dann am Tisch nieder, um Text und Bilder zu studieren.
Es dauerte sehr lange – und das lag sicher nicht nur am Englisch. Einmal murmelte er vernehmlich „Hol mich der … !“ – dann schüttete er sich, wie ich am Glucksen der Flasche hörte, einen neuen Whisky ein; ich hörte es nur, denn ich war ans Fenster getreten und wandte ihm den Rücken zu – aber vom Park draußen sah ich nichts. Schließlich räusperte er sich dreimal – immer lauter – bis ich mich endlich wieder umdrehte.
Er hatte die Brille wieder abgenommen und wippte sie nachdenklich in der Hand, während er mich nocheinmal von oben bis unten musterte. Dann sagte er langsam, als müsse er jedes Wort abwägen:
„Ich danke Ihnen, daß Sie mir das gezeigt haben – und ich kann Sie nur bitten – “ Er brach ab. „Alte Doktoren sind oft auch alte Narren“, sagte er dann, ‚
Ich glaube, ich fange schon wieder an zu heulen, dachte ich verzweifelt. Aber er sprach langsam und bedächtig weiter:
„Manchmal hat man als Arzt die Wahl zwischen zwei Methoden der Therapie:
Die eine ist konservativ und ohne Risiko – bloß ist sie meist auch ohne Erfolg.
Die andere hat eine Chance für einen durchschlagenden Erfolg – leider eine genau so große für eine katastrophalen Mißerfolg.
Da ein Arzt auch nur ein Mensch ist, hofft er natürlich immer, daß ihm rechtzeitig noch eine dritte Methode einfällt, die durchschlagenden Erfolg ohne Risiko garantiert. Meistens hofft er vergebens.“
Er sah mich wieder an.
„Was ich damit sagen will, ist: ich habe mich in dieser Wahl noch nicht entschieden. Überhaupt noch nicht entschieden.“ Er machte wieder eine lange Pause. „Wenn ich mich in einem bestimmten Sinne entscheiden sollte, würde ich damit auch die volle Verantwortung für diese Entscheidung übernehmen. „
Er erhob sich umständlich.
„Aber ich rede zuviel – ich habe heute überhaupt schon verdammt zuviel geredet! – darf ich Ihnen gegebenenfalls schreiben?“
Er griff nach der schwarzen Mappe und reichte sie mir – fast mit einer gewissen Feierlichkeit – hin:
„Aber wenn Sie einem alten Doktor noch einen Spruch erlauben: es kommt nicht soviel darauf an, wo man sich einen Knacks geholt hat – es kommt darauf an, wie man mit ihm fertig wird.
Es war mir eine Ehre, Sie kennenzulernen – Miss Grey!“
Damit verneigte er sich altväterisch – und küßte mir die Hand.
(Die Auslese… )
Nach und nach trafen – jedesmal von der perfekten Sekretärin geleitet – die anderen Kandidatinnen ein.
Miss Ludlow war ein junges, ein wenig eckiges Mädchen in Blue Jeans mit langen Haaren, einer randlosen Brille und – offensichtlich – einer Mission; Miss Forbes eine ungeheuer kompetent und respekteinflößend ausschauende Persönlichkeit in einem unmöglichen Kleid – und Mrs. Ellinger, die in letzter Sekunde etwas atemlos ankam, eine etwas mollige, impulsive junge Frau mit unordentlichem make-up.
Wie man schon aus meiner Schilderung sieht, beschauten wir uns gegenseitig mit all der Sympathie und untadeligen Korrektheit von vier fremden, aber wohlerzogenen Katzen, die man ins gleiche Zimmer gesperrt hat – nur daß es bei Katzen ein wenig unterhaltsamer gewesen wäre, weil man wenigstens ihre Schwanzspitzen zucken gesehen hätte. Dieser Dr. König mußte überhaupt keine Ahnung von Psychologie haben, uns hier allesamt um einen Tisch zu versammeln – oder, fragte ich mich beim zweiten Überlegen, unheimlich viel Ahnung? Denn wenn etwas geeignet war, unsere Schattenseiten zum Vorschein zu bringen, dann ja wohl diese Situation …
Doch ich kam nicht mehr dazu, diesem Gedanken nachzuhängen, denn in diesem Augenblick betrat – pünktlich mit dem Sekundenzeiger – unser prospektiver Arbeitgeber den Raum. Ich sage „Arbeitgeber“, weil er genau so aussah: groß, schlank, gepflegt, korrekt und „dynamisch“ – in Vorstandssitzungen oder Tarifverhandlungen genau so zuhause wie, offenbar, in dieser einmaligen Versammlung künftiger Gouvernanten:
„Meine Damen – “ sagte er, an die Stirnseite des Tisches tretend (wo die perfekte Sekretärin das Schildchen „Dr. König“ aufgestellt hatte – brav demokratisch genau in der gleichen Ausführung wie unsere) „ich danke Ihnen sehr, daß Sie sich hierher bemüht haben – und daß Sie mit der etwas unorthodoxen Form dieser Besprechung einverstanden sind – „
Er machte eine Pause, die genau so kurz war, daß keine von uns etwas sagte – aber genau so lang, daß er unser Schweigen als Zustimmung nehmen konnte – und fuhr dann fort:
„Ich möchte weder Ihre noch meine Zeit damit verschwenden, das zu wiederholen, was Sie bereits von Herrn Dr. Bollinger erfahren haben – ich werde Ihnen lediglich ein paar Fragen stellen, die mir zur Abrundung des Bildes – und für meine endgültige Entscheidung – nützlich erscheinen. Frage Nummer Eins: – “ er machte wieder eine unmerkliche Pause und fuhr dann mit einem kleinen Lächeln fort: „Hat Sie Fräulein Rothacker mit allem an Getränken, Zigaretten und so fort versorgt, damit Sie sich hier wohlfühlen? Sie dürfen selbstverständlich – wenn Sie wollen – rauchen: schon allein deshalb, damit ich mir – “ er griff in die Tasche, „selbst mit besserem Gewissen eine Zigarette anzünden darf!“
Falls es die anderen nicht gemerkt haben sollten – mir war nun jedenfalls klar: dieser Mann wollte Katz und Maus mit uns spielen – mal eiskalt geschäftsmäßig, mal entwaffnend charmant, aber immer so, daß wir nie vergaßen, daß er der Chef war. Ich beschloß, ihm zu zeigen, daß außer ihm jedenfalls noch eine Katze im Raum war.
Er sah sich kurz in unserem Kreis um:
„Wenn alles zu Ihrer Zufriedenheit geregelt ist – “ noch eine der bewährten Dr.-König-Pausen, wieder genau so lang, daß wir das perfekte Arrangement des perfekten Frl. Rothacker bewundern konnten – und zur Kenntnis nehmen, daß derartige Perfektion der Standard für all seine Anforderungen war – „dann darf ich jetzt zur ersten ernsthaften Frage kommen.“
Vorsicht, Mäuse – jetzt kommen die Krallen dachte ich; aber er lehnte sich, die Arme übereinanderschlagend, zurück und sagte in leichtem Konversationston:
„Gesetzt den Fall, Ihnen stünde – um eine runde Summe zu nehmen – 1 Million Pfund zur Verfügung, die Sie nach Ihrem Belieben zur Förderung geistig zurückgebliebener Kinder – oder zur Förderung hochbegabter verwenden dürften. Wie würden Sie sie verteilen?“
Ich wußte nicht, ob ich über die Unverschämtheit, mit der er uns hier zu examinieren begann wie eine Herde Schulmädchen, wütend werden sollte – oder sie bewundern. Aber da er wahrscheinlich genau eines von beidem erwartete, konzentrierte ich mich lieber auf die Frage selbst: merkwürdigerweise eine, über die ich selbst schon manchmal nachgedacht hatte …
„Da es ein bißchen kindisch aussähe, wenn Sie sich durch Handheben zu Wort melden müßten – „(wieder mal verstand er es, die Situation mit dem gleichen Charme zu entschärfen wie zu betonen!) „darf ich vorschlagen, daß Sie in der Reihenfolge antworten, wie Sie sitzen – vielleicht – “ er warf einen Blick auf unsere Namensschilder, „Miss Ludlow zuerst ?“
Das blonde Mädchen räusperte sich – und sagte dann überzeugt:
„Selbstverständlich die ganze Summe für die Behinderten!“
Dr. König nickte höflich. „Ihre Begründung – ?* fragte er.
Sie schaute ihn einen Augenblick befremdet an, als habe er sie nach dem mathematischen Beweis für „2×2 ist 4“ gefragt:
„Zusätzliche Mittel müssen immer den Unterprivilegierten einer Gesellschaft zugute kommen!“ sagte sie dann; ich hatte es ja gleich gewußt: sie hatte eine Mission.
„Danke – “ antwortete Dr. König kurz, „Mrs. Ellinger?“
Ich war gespannt, wie sie sich schlagen würde – sie war mir von der ganzen „Konkurrenz“ noch am sympathischsten – aber ich hatte nicht erwartet, daß sie gewissermaßen laut nachzudenken beginnen würde:
„Also – “ sie faßte mit der rechten Hand den Zeigefinger ihrer Linken, als müsse sie die Million abzählen, „ich glaube, ein geistig zurückgebliebenes Kind kann man schon mit ganz bescheidenen Mitteln fördern – sagen wir mit Spielzeug oder nur indem man sich mit ihm befaßt – aber wenn ich ein hochbegabtes Kind fördern will, dann wird das viel teurer – dem muß ich Bücher geben oder einen Computer oder was weiß ich – und wenn ich nun für beide gleichviel tun will – “ sie schaute ihn regelrecht verblüfft an, „dann muß ich mehr Geld für die Hochbegabten ausgeben!“
„In welchem Verhältnis etwa ?“ erinnerte sie Dr. König höflich.
„Ach Gott ja – “ sie runzelte die Stirn und schien wieder im Geist an den Fingern zu zählen, „siebzig zu dreißig etwa ?“
„Danke – “ kommentierte er knapp , „Miss Forbes?“
„Ich weiß zwar nicht, was diese Frage mit Erziehung zu tun hat -“ kam ihre Antwort wie aus der Pistole geschossen, „aber die Antwort kann nur fünfzig zu fünfzig lauten – alles andere wäre ungerecht!“
„Danke – Miss Grey ?“
Ich nahm, bevor ich antwortete, bewußt noch einen tiefen Zug an meiner Zigarette – Kunstpausen waren nicht das Privileg des Herrn Dr. König! – und sagte dann liebenswürdig:
„Gesellschaftlich – „(soviel für Miss Ludlow!) „wie finanzmäßig ist das eine Frage des return on investment: Förderung Hochbegabter schafft höhere Werte als die Zurückgebliebener. Also muß das ganze Geld in die Förderung der Hochbegabten gesteckt werden – “ noch einen Zug, zweite Effektpause, „mit dem Proviso natürlich, daß die später, wenn sie Geld verdienen, die aufgewandten Beträge mit einem Aufschlag von 100 Prozent zurückzahlen; davon können wir dann die Hälfte für die Betreuung Zurückgebliebener verwenden – und die andere Hälfte in neue Begabte reinvestieren, womit wir auch die Forderung nach gerechter Gleichverteilung erfüllen – „
Dr. König lächelte ein wenig. „Danke – ich hatte nicht verlangt, daß Sie gleich die ganze Stiftung organisieren!“
„Ob bitte – “ ritt mich der Teufel zu sagen, „gern geschehen!“
Aber er hatte sich schon wieder abgewandt und sprach, einen imaginären Punkt fixierend, über den ganzen Tisch hin:
„Miss Ludlow – ich möchte Sie nicht länger aufhalten. Ihre Spesen und Ihren Tagessatz regeln Sie bitte mit Fräulein Rothacker. Und nocheinmal vielen Dank für Ihre Bereitwilligkeit, mir zu helfen.“
Armes Mäuschen, dachte ich mitleidig, hat die Katz so schnell zugeschlagen, als das blonde Mädchen, nachdem es einen Augenblick wie versteinert dagesessen hatte, mit eckiger Bewegung und zusammengepreßten Lippen aufstand.
Aber Dr. König kümmerte sich weder um ihre Miene noch um die der anderen am Tisch – er wartete noch nicht einmal, bis sie den Raum verlassen hatte, sondern sprach, als sei nichts geschehen, weiter:
„Ich komme nun zur nächsten Frage : Angenommen, Sie haben einen Holzwürfel von 3 Zoll Kantenlänge, den Sie – „
Der Mann war so unmöglich, daß es einem fast schon wieder imponieren konnte – ich war aufrichtig gespannt, was wir jetzt mit dem Holzwürfel machen sollten: erst rot anstreichen und dann durchsägen – oder gleich in 27 kleinere zersägen? Doch ich erfuhr’s nicht sofort: irgendjemand – und das hatte er genau berechnet – an diesem Tisch mußte jetzt explodieren; in diesem Fall war es Miss Forbes.
„Darf ich – “ ’sagte sie mit eisiger Miene, die sicher selbst Thomas Lord Glenarvon eingeschüchtert hätte, „fragen, was diese Holzwürfel und Stiftungen mit unseren pädagogischen Fähigkeiten zu tun haben ?“
Er sah sie mit mildem, leicht amüsiertem Befremden an – etwa wie ein Virtuose, der plötzlich ein Äffchen auf seinem Flügel entdeckt – und sagte dann liebenswürdig:
„Ja. Nichts.“
Und nach einer wieder haarscharf so dosierten Pause, daß Miss Forbes wirklich noch nichts sagen konnte – aber jedem Außenstehenden als sprachlos erscheinen mußte (er konnte diesen Trick wirklich gut, aber allmählich wurde er langweilig) fuhr er, wieder mit einem plötzlichen charmanten Lächeln, fort:
„Oh verzeihen Sie – ich vergesse immer wieder, daß Deutsch ja nicht Ihre Muttersprache ist! Ich meinte: ja, Sie dürfen mich das selbstverständlich fragen. Und die Antwort auf diese Frage ist: wären Ihre pädagogischen Qualifikationen – wie die aller Damen hier im Raum – nicht erstklassig und über jeden Zweifel erhaben, hätte ich Sie überhaupt nicht zu dieser Aussprache eingeladen. Die Fragen, die ich hier stelle, haben also mit diesem Punkt nicht mehr das Geringste zu tun.“
Er hielt wieder inne und fuhr dann, wie nachdenklich geworden, fort:
„Wahrscheinlich werden Sie nun fragen, warum ich sie dann überhaupt stelle. Ich glaube, ich bin Ihnen eine Antwort darauf schuldig – „
Nein, Dr. König wurde doch nicht langweilig – jetzt ließ er die Mäuschen zur Abwechslung mal wieder ein Stückchen frei laufen: erst ein Kompliment – und dann, zur Bekräftigung, die Einsicht, daß er uns eine Erklärung schuldig sei. Ich war einigermaßen gespannt – aber was er dann sagte, übertraf wieder alle Erwartungen:
„Daß ich – “ jungenhaft entschuldigendes Lächeln , „von Erziehung nichts verstehe, hat Ihnen allen ja Herr Dr. Bollinger gewiß erklärt – in der Tat ist das ja einer der Gründe, weshalb ich Ihre Hilfe suche!“ Er ließ das nocheinmal ein wenig einsinken, ehe er fortfuhr:
„Also bin ich – wenn so viele erstklassige Erzieherinnen vor mir sitzen – etwa genau so hilflos, wie Sie es wären, wenn Sie, sagen wir, einen erstklassigen Computerfachmann aussuchen sollten: schlimmer noch, den besten aus mehreren erstklassigen.
Soll ich jetzt nach der Haarfarbe entscheiden? Nach der Frisur? Nach der Figur? Oder soll ich abzählen : Enie – minie – muh, aus bist Du – bis nur noch eine von Ihnen übrig ist?“ Er schüttelte den Kopf: „Ehe ich so etwas Sinnloses tue, falle ich denn doch lieber auf Fragen zurück, bei denen ich die Antworten wenigstens beurteilen kann …“
„Selbst wenn diese Fragen völlig irrelevant sind?“ fragte Miss Forbes scharf – „Enie, minie, muh“ hatte sie offenbar in der Tiefe ihrer seriösen Erzieherinnenseele getroffen.
„Darüber – “ in seiner Stimme spürte man plötzlich wieder den Stahl unter dem Samt, „gehen unsere Meinungen nun offenbar auseinander. . . „
„Nicht nur darüber!“ Miss Forbes hatte sich erhoben. „Ich glaube nicht, daß unter diesen Umständen die Voraussetzungen für eine fruchtbare Zusammenarbeit vorliegen – „
„Das muß ich selbstverständlich respektieren.“ Ich konnte mir im stillen eine gewisse Bewunderung nicht verhehlen: dieses Mäuschen hatte er dazu gebracht, sich gleichsam am eigenen Schwänzchen aufzuhängen! Aber lassen konnte es der Kater doch nicht, nochmal mit der Krallenpfote hinzulangen: „Ihre Spesen und Ihren Tagessatz regeln Sie bitte mit Fräulein Rothacker – „
Womit er den dramatischen Abgang von Miss Forbes zweifellos etwas verdarb. Aber jetzt bekam ich auch Lust, ihm die schöne Pause ein wenig zu verderben, in der wir Zurückbleibenden eigentlich die Moral aus Miss Forbes Schicksal ziehen sollten:
„Would you, too, like another cup of coffee – ?“ wandte ich mich freundlich an Mrs. Ellinger und schenkte ihr, als sie mit einem kleinen Lächeln – offenbar hatte sie verstanden!- nickte, mit viel gastgeberinnenhafter Umständlichkeit einen Kaffee ein – ließ mir gerade, bevor ich mir selbst einschenkte, sichtbar einfallen, daß ich beinahe unhöflich gewesen wäre, und offerierte Dr. König auch etwas von seinem eigenen Kaffee.
Er nahm ihn – mit konventionellem Dankeschön – an: aber ein klein wenig glaubte ich zu spüren, daß all das nicht ganz in sein Konzept paßte – sowohl unseren wie seinen Kaffee hätte das perfekte Fräulein Rothacker einschenken müssen; aber die war ja gerade mit Spesen und Tagessatz für Miss Forbes beschäftigt… und jedenfalls hatte ich ihm mit alledem die sonst unweigerliche höfliche Frage, ob sich sonst noch jemand von uns der Meinung von Miss Forbes anschließe – nebst dem erwarteten verdatterten Zustimmungs-Schweigen – vermasselt!
Aber solch ein kleiner Schönheitsfehler störte einen Dr. König natürlich nicht ernstlich:
„Können wir nun – in etwas intimerem Kreis – auf meinen irrelevanten Holzwürfel zurückkommen?“ fragte er mit liebenswürdiger Selbstironie.
„Dieser Würfel hat also drei Zoll Kantenlänge – und ich möchte ihn in lauter kleine einzöllige Würfel zersägen. Das kann ich offenbar tun, indem ich zweimal quer, zweimal längs und zweimal – “ jetzt hatte ich den Ärmsten doch wirklich ein bißchen aus dem Konzept gebracht, “ – nun ja, also zweimal in der dritten Richtung säge – insgesamt also sechs Sägeschnitte.
Die Frage ist nun: könnte ich es auch mit weniger als sechs Sägeschnitten schaffen – indem ich etwa die Teilstücke zwischendurch anders hintereinanderlege und dann gemeinsam durchsäge ?“
„Konnten Sie mir das nochmal erklären?“ fragte Mrs. Ellington.
„Gern – “ er nahm einen Block Papier und fing an zu skizzieren, „dies ist also der Würfel von drei Zoll – und – „
Ich schaute etwas amüsiert zu. Pech für Dr. König, daß ich mit Tom alle erdenklichen zwei-, drei- und vierzölligen Würfel, mit roten oder unbemalten Seiten, abends vor dem Schlafengehen im Geist in jeder Weise zersägt hatte! Aber ich mußte zugeben, daß er eine von den Fragen gewählt hatte, mit denen man Leute wirklich konfus machen konnte – wie Mrs. Ellington:
„Darf ich – “ sagte sie ein wenig unsicher, „darüber erstmal nachdenken ?“
„Selbstverständlich!“ nickte er großzügig und zündete sich eine neue Zigarette an.
Ich konnte es mir nicht verkneifen, währenddessen eine kleine Schau für ihn abzuziehen. Es ist eine alte Examensregel, daß man zwar, wenn einem die Aufgabe fremd ist, sofort anfangen muß zu reden – in der Hoffnung, daß einem der Prüfer dann weiterhilft: wenn er aber durch Zufall etwas erwischt haben sollte, was man bereits kennt, darf – ja muß man sich den Anschein geben, tief nachzudenken, um den Verdacht zu zerstreuen, man kenne die Antwort etwa zufällig schon. Während also die arme Mrs. Ellington die Hände wie Sägeblätter über der Skizze hin- und herbewegte, blickte ich konzentriert wie ein meditierender Yogi ins Unendliche – angelte dann einen Block heran, holte meinen Kugelschreiber aus der Handtasche und schrieb einen wohlformulierten Satz nieder, den ich Dr. König stumm hinüberschob.
Er überflog ihn mit unbewegter Miene und wartete weiter, bis Mrs. Ellington schließlich aufblickte und sagte:
„Also – wahrscheinlich geht’s nicht – aber wie ich das erklären soll – „
„Vielleicht so ?“ sagte er lächelnd und las von meinem Blatt vor: „Jede Seite des innersten Würfels muß jedenfalls erst durch einen Sägeschnitt entstehen – da dieser Würfel 6 Seiten hat, sind stets 6 Schnitte nötig.“
Sie überdachte das einen Augenblick, nickte dann impulsiv – schaute erst auf den Block und dann zu mir herüber und sagte mit reumütigem Grinsen:
„Spesen und Tagessatz bei Fräulein Rothacker, nicht wahr ?“
„Es scheint so – “ nickte er und erhob sich. „Dennoch – “ er machte eine kleine korrekte Verbeugung, „vielen Dank – „
Auch Mrs. Ellington war aufgestanden, sammelte ihre Sachen zusammen und trat dann plötzlich noch einmal auf uns zu:
„Ich wünsche Ihnen, daß – alles gut geht!“ sagte sie leise, wandte sich ab und ging.
Er sah ihr einen Augenblick nach – dann drehte er sich zu mir um.
„Tja -“ sagte er langsam, „es scheint, als wären nur noch wir beide übriggeblieben -„
„Halten Sie das – “ erwiderte ich ziemlich kalt, „für Anlaß zu großer Freude?“
Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn und ließ sich dann, wie ermattet, in den Sessel fallen.
„Wollen Sie mir jetzt eine Predigt halten – oder auch entrüstet hinausrauschen wie Miss Forbes?“ Er drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus – so abrupt, daß der Tabak aus dem weißen Papier platzte. „Natürlich war es ein Streß-Interview! Natürlich hab ich jeden billigen Trick benutzt! Aber – “ er sah mir voll in die Augen, „es war ein Kindergeburtstag im Vergleich zu dem, was Ihnen bei diesem Job bevorsteht!“
„Wie beruhigend !“ sagte ich sarkastisch. Er schüttelte den Kopf:
„Nun kommen Sie – tun Sie doch nicht so, als wäre Ihnen das nicht klar: erstens mal haben Sie‘ s mit mir zu tun – wie das ungefähr zugeht, haben Sie gerade erlebt. Dann wird ein Haufen Leute um Sie herumspringen und versuchen, Ihnen in alles reinzureden: da ist die alte Frau Stamm – die Haushälterin – die meine Frau und den Jungen vergöttert hat und alles hassen wird, was von mir kommt. Da ist meine liebe Schwester, die alles besser weiß. Da ist der alte Bollinger – „
„Der auch?“
„Na – der Querschädel! Onkel Doktor weiß alles am besten – der hat doch selbst mich an der Kandare! Was aber keineswegs heißt, daß seine Ideen von Erziehung richtig sein müssen! Und – “ er fuhr sich wieder über die Stirn, „vor allem der Junge selbst: machen Sie sich da nichts vor – natürlich hat ihn Marion in rosa Watte eingepackt: aber da drunter können Sie leicht auf Chromstahl stoßen – besonders wenn Sie von mir kommen!“ Er schüttelte den Kopf:
“Nein – das ist nichts für blaßblaue Idealisten oder Schulmeister-Typen! Die Mrs. Ellington wäre gar nicht so übel gewesen – aber wenn die bei Klaus anfängt, an den Fingern zu zählen – “ er grinste ein wenig, „und außerdem gibt sie zu schnell auf – wenn Sie gleich jedesmal die Flinte ins Korn schmeißen wollten, wenn Sie ‘nen Würfel nicht im Kopf zersägen können – „
„Aber daß ich das gekonnt habe, qualifiziert mich nun in Ihren Augen zur idealen Erzieherin?“ fragte ich spöttisch.
Er schüttelte wieder unwillig den Kopf: „Halten Sie mich für blöd – soll ich Ihnen aufzählen, was alles für Sie spricht? Von Ihrem Ritter Thomas Lord Glenarvon bis zu Ihrem Intermezzo mit dem Kaffee vorhin – oder Ihrer Selbstkontrolle, mir erst dann die Leviten zu lesen, wo Sie keine Konkurrenz mehr haben?”
Leider, leider – geht’s hier nicht mehr weiter…
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