Hellmut Wolfram
Anm. Jula: ein weiteres Pseudonym von Hekate


Cum deus calculat, fit mundus]

LEIBNIZ

Heute setze ich mich nieder, um jenes seltsame Erlebnis aufzuzeichnen, das ich in dem Haus mit der großen Rechenmaschine hatte – und ich weiß nicht, folge ich damit einem eigenen Entschluß, oder ist auch das noch eine zwingende Folge aus den Erlebnissen jener Nacht, die ich nie vergessen werde – eine Folge, deren Eintreten der lächelnde Professor schon im voraus wußte, als ich jenes Haus noch gar nicht betreten hatte? Ich bin so sehr irre geworden an allen meinen bisherigen Überzeugungen von Freiheit und Gesetzmäßigkeit, von Persönlichkeit und Realität, daß ich selbst in den geringsten Dingen kein Urteil mehr zu fällen wage – und hier, wo es um eine Sache geht, die mich wie selten ein Erlebnis erschüttert und verwandelt hat, fürchte ich mich fast schon vor dem Nachdenken. Aber vielleicht ist hier das Handeln befreiender als das Grübeln -und so will ich beginnen.

Es war einer jener Abende, wie sie wohl viele Menschen erleben – einer jener Abende, an denen so viele kühne Entschlüsse gefaßt werden, die man später, wieder untergetaucht in jener lähmenden Halbzufriedenheit des Gewohnten, auszuführen versäumt oder gar belächelt: Einer jener Abende, wo man so sehr unzufrieden ist mit all dem, was man bisher geleistet hat und gewesen ist, wo man aufbrechen müßte in ein unbekanntes Abenteuer, in eine selbstgewählte Gefahr – wo sich die vielen unterdrückten und verborgenen Seiten unseres Wesens hervorwagen und ihr Recht fordern, wo sie genau so gelebt sein wollen wie das, was wir bei Tageslicht unsere Persönlichkeit nennen und wohl auch ein wenig lieben…

Ich hatte – halb unbewußt – den Rand der Stadt erreicht, auf einem jener ziellosen Spaziergänge, mit denen ich diesen Stimmungen nachgebe – vielleicht getrieben von der unbestimmten Hoffnung, jenem fremden Etwas, dessen Fehlen mir so in der Seele brannte, näher zu kommen, wenn ich mein Zimmer mit den Büchern und dem Zigarettenrauch verließ. Nun hielt ich einen Moment inne, ungewiß, ob ich nicht doch umkehren und versuchen sollte, bei einem meiner Freunde in der Stadt vorzusprechen. Aber ich kam davon bald ab – weder Jacques‘ philosophische Weltverachtung, die ihre Nahrung vor allem aus komplizierten Liebeserlebnissen bezog, noch die wagnerhafte Selbstzufriedenheit Waldemars mit seinen ägyptologischen Forschungen paßten zu meiner Stimmung. Der Gedanke an den Diskussionszirkel, den ich in der vorigen Woche auf ihr Drängen besucht hatte, erregte in mir fast einen körperlichen Abscheu, und Jeanette – Jeanette war ja nicht in der Stadt.

Ich suchte in der Tasche nach dem Zettel, auf den sie mir vor ihrer Abreise einen jener kleinen Abschiedsgrüße geschrieben hatte, mit denen eine liebende Frau dem Mann noch einen Hauch ihrer Persönlichkeit zurückläßt, wie den leisen Duft ihres Parfüms auf den Kissen. Es war ein Kalenderblatt, und wie ich es im Schein der Laterne genauer betrachtete, fand ich unten rechts in der Ecke ein paar gedruckte Worte. »Cum deus calculat, fit mundus«, entzifferte ich. Jetzt erinnerte ich mich, daß jedes dieser Blätter einen Spruch trug, der wohl eine Art Tageslosung bedeuten sollte.

Ich versuchte, mit meinen schon recht bröckeligen Lateinkenntnissen den Sinn des Satzes zu erraten: »Weil – oder während Gott rechnet, wird die Welt gemacht«? Das stimmte ersichtlich nicht – und als Losung des heutigen Tages erschienen mir überhaupt alle Aussagen über die Berechnungen Gottes wenig geeignet! Ich barg den Zettel, noch einmal die lieben Worte in der zarten Handschrift Jeanettes überlesend, wieder in der Brieftasche und ging weiter.
Aber während ich mechanisch die Straße verfolgte, entlang der die Häuser immer seltener wurden, beschäftigte sich mein Geist, froh, eine Ablenkung zu haben, weiter mit dem lateinischen Spruch.

»fit. . . fieri . . . fio . . . gemacht werden, entstehen«: »Wenn Gott rechnet, entsteht die Welt«?

Das habe ich mir eigentlich immer anders vorgestellt, dachte ich lächelnd und sah dabei vor meinem geistigen Auge einen weißhaarigen Alten über die Zahlenkolonnen eines riesigen Kontobuchs gebeugt.

»Zu Anfang berechnete Gott Himmel und Erde …«? Nun, in der Tat, am Himmel konnte man ja manches berechnen, Sonnenfinsternisse und so weiter. Vielleicht mußte Gott den Himmel auch erst berechnen, bevor er ihn schuf, wie ein Ingenieur eine Brücke?

Ein kühler Windstoß ließ mich ein wenig frösteln und störte meine Gedankenkette. Ich sah auf und bemerkte, daß ich allein auf der Landstraße stand. Die Sonne war versunken, und ein paar Sterne blinkten schon am dunkelblauen Himmel auf. Wieder hielt ich inne. Die Spannung in mir schien sich ein wenig gelegt zu haben, und mein Alltagsverstand sagte mir, es sei nicht zweckmäßig, sich bei der kühleren Abendluft unnötig auf einer unbekannten Landstraße herumzutreiben. Ich brauchte ja nicht gleich nach Hause zu gehen, sondern könnte in der Stadt ein Lokal oder vielleicht doch Jacques aufsuchen. Schon war ich halb entschlossen, diesen Überlegungen Gehör zu geben, als ich am Horizont ein Licht sah. Schärfer hinsehend, bemerkte ich eine Anzahl langgestreckter Gebäude mitten im freien Feld; eines schien eine Kuppel zu tragen, die mich an ein astronomisches Observatorium erinnerte. Wohnhäuser konnten so einsam nicht gelegen sein, wären wohl auch zu dieser Stunde hell erleuchtet gewesen. Aber was sonst? Ein wissenschaftliches Institut?

Ich weiß heute, daß es eine Täuschung war, als ich mich zu erinnern glaubte, Waldemar habe von einem solchen Institut vor der Stadt gesprochen – er meinte ein in einem Privathaus untergebrachtes Archiv. Aber damals bewog mich diese Erinnerung, zusammen mit einer gewissen Unternehmungslust, die Ausfluß meiner Stimmung war, dem mahnenden Alltagsverstand zum Trotz querfeldein den Weg auf diese Gebäude einzuschlagen.

Dieser Weg war länger, als ich gedacht hatte. Langsam, sehr langsam nur rückten die Gebäude näher. Ich konnte nun schon Einzelheiten unterscheiden. Das mittlere Gebäude, auf dessen Fassade eine im Wind schwankende Laterne unruhige Kurven zeichnete, trug die Observatoriumskuppel, in der ich jetzt deutlich einen Spalt erkennen konnte. Auf das große, bronzene Portal, zu dem viele Stufen emporführten, steuerte ich los. War ich bis jetzt über Wiesen und Heideland gewandert, so ging ich die letzten Minuten über ein planiertes Gelände; doch umgab kein Zaun den Komplex. Einen Augenblick verhielt ich, um nach den letzten Schritten, die ich rasch, fast laufend, gegangen war, wieder Atem zu schöpfen; dann stieg ich die in einer Art Marmor ausgeführte Freitreppe empor.

Das Portal lag ungewöhnlich hoch, fast im ersten Stock, und erschien mir jetzt, da ich vor ihm stand, ungeheuer groß. Mein suchender Blick fiel auf einen Klopfer, den ich betätigte. Lang verhallte der Ton. Dann hörte ich schlurfende Schritte, und der eine Flügel öffnete sich langsam. Ein weißhaariger Alter, in einem langen, weißen hemdartigen Kittel mit einem gewaltigen Schlüsselbund am Gürtel, blickte mich gütig lächelnd an und sagte:
»Gesegneten Abend, Herr Sartorius. Treten Sie ein – der Herr Professor erwartet Sie schon!«

Meine erste Reaktion war maßloses Erstaunen. Woher kannte dieser Pedell oder Nachtwächter mit den buschigen Brauen und dem weißen Apostelbart, den ich gewiß noch nie gesehen hatte, meinen Namen? Und wieso erwartete man mich hier? Eine Verwechslung, überlegte ich rasch.

»Treten Sie nur unbesorgt ein, Herr Sartorius«, forderte mich der Alte auf, der mein Zögern bemerkt haben mochte. So günstig die Gelegenheit war – etwas hielt mich zurück, unter diesen blauen Augen zu lügen.

»Ich heiße zwar Sartorius, aber ich werde bestimmt nicht hier erwartet – das ist unmöglich und sicher ein Irrtum!«

»Die Menschen sind mit dem Wort unmöglich rasch bei der Hand – und was sie nicht begreifen, braucht nicht immer ein Irrtum von uns zu sein!« sagte der Alte mit mildem Verweis. »Treten Sie ein, Herr Sartorius – und all Ihre Sorgen besprechen Sie mit dem Professor selbst. Das ist immer das beste!«

Immer noch im unklaren, wie ich mich weiter verhalten sollte, folgte ich seiner Aufforderung. Durch eine hohe Vorhalle geleitete er mich in ein kleineres Zimmer, wo er mir fürsorglich einen großen Sessel zurechtrückte und mit der Versicherung verschwand, er wolle mir etwas zur Stärkung nach dem langen Fußmarsch holen.
Verwirrt ließ ich mich nieder. Die an Allwissenheit grenzende Genauigkeit, mit der man hier über mich und meinen Besuch unterrichtet schien, bestürzte mich. Woher wußte der Pförtner, daß ich zu Fuß gekommen war?

Ich hatte nicht lange so gesessen, als sich eine Tür im Hintergrund des Raumes öffnete und der Professor eintrat. Ich wußte sofort, daß er es sein mußte: eine hohe, schlanke Gestalt, ein kluges, fast weises Antlitz unter schlohweißem, aber noch vollem Haar. Einen Herzschlag lang überkam mich ein wunderliches Gefühl, das ich seit Kindertagen nur selten mehr gespürt hatte – ich glaube fast, es war Ehrfurcht. Doch dann erhob ich mich und versuchte, mich mit einigen Worten vorzustellen und mein spätes Eindringen zu entschuldigen.

»Aber lieber Herr Sartorius – Sie stören mich ja keineswegs. Ich wußte doch, daß Sie kommen würden!« unterbrach er mein Stammeln. »Doch folgen Sie mir jetzt – Sie können gerade an einer recht interessanten astronomischen Beobachtung teilnehmen!«

Sich noch einmal freundlich nach mir umsehend, ging er durch die Tür voran, und ich beeilte mich, ihm zu folgen. Der Raum, den wir betraten, war fast völlig dunkel, doch ich schloß aus dem Hall unserer Schritte, daß er sehr groß sein mußte.

Einen Augenblick – ich will meinen Assistenten nur für Licht sorgen lassen. Herr Doktor, bringen Sie doch das Licht hierher!«

Ich nutzte die lange Pause, um den Professor zu fragen: »Sie werden die Dringlichkeit entschuldigen, mit der ich immer wieder auf diesen Punkt zurückkomme: Jeder versichert mir hier, mein Kommen sei längst erwartet – und dabei war es ein plötzlicher, ja zufälliger Entschluß, der mich den Weg zu Ihrem Institut einschlagen ließ!«

Früher oder später«, antwortete es aus dem Dunkel, »steht jeder einmal vor mir – und das Wörtchen Zufall hat in unserem Institut keinen guten Klang.«

Er hätte vielleicht noch weitergesprochen, wenn nicht aus dem verdämmernden Dunkel jetzt ein schwankender Lichtpunkt aufgetaucht wäre, der sich, bei uns angekommen, als eine Lampe entpuppte, die der Ankömmling in der Hand trug.

»Mein erster Mitarbeiter!« stellte ihn der Professor vor. »Sie werden sich oben im Observatorium noch näher kennenlernen können. Aber nun rasch hinauf – es ist gleich Zeit!«

Mit einigen Schritten erreichten wir die Kabine eines Aufzuges, der uns rasch in die große Kuppel führte, die ich von außen bemerkt hatte. Es stärkte mein durch so viel Unerwartetes arg beeinträchtigtes Selbstgefühl, daß ich wenigstens mit dieser Vermutung recht behalten hatte, und so musterte ich mit etwas mehr Muße die glitzernden Instrumente, an denen der Assistent hantierte.

Er schien mir jünger als der Professor, hatte noch schwarzes, volles Haar, und sein Gesicht zeigte mehr von jenem wissenschaftlichen Fanatismus als das abgeklärte Gesicht des Professors. Ein wenig eigenartig berührte es mich, daß er nicht wie jener einen weißen Arbeitskittel trug, sondern einen tiefschwarzen, der an einen mittelalterlichen Talar gemahnte.

Um so seltsamer kontrastierte damit ein schmaler Papierstreifen, der mich an die Hellschreiber der Pressebüros erinnerte und den er mir jetzt in die Hand drückte mit den Worten:
»Hier, Herr Sartorius, können Sie sich über das Ereignis unterrichten, das uns jetzt bevorsteht.«

Ich hatte mich nachgerade daran gewöhnt, daß es zum Stil dieses Institutes zu gehören schien, mich sofort mit Namen anzureden, wie einen alten Bekannten, ohne sich jedoch mir vorzustellen. So wandte ich meine Aufmerksamkeit sogleich dem Streifen zu. Unter einem Wust von mir unverständlichen Zahlenangaben entdeckte ich die Worte:
»…Oh 23m 56s Weltzeit Greenwich Auftauchen einer rötlichen Feuerkugel, die Oh 25m 03 Weltzeit Greenwich unter Lichterscheinungen zerplatzt…«

Ich warf einen Blick auf das große Zifferblatt, das an der Kuppelwandung angebracht war: Es zeigte 0 Uhr 23.

Ich fühlte mich auf den Beobachtungsschemel gesetzt und preßte mein Auge an das Okular. Wahrhaftig – da tauchte ein rotes Scheibchen auf. Ich hielt es einige Zeit im Gesichtsfeld, um es dann zerspringen zu sehen. Ich wandte mich zur Uhr – eben passierte der große, silberne Sekundenzeiger den dritten Teilstrich.
»Das ist wirklich eine der erstaunlichsten Leistungen des menschlichen Geistes, die ich bis jetzt miterleben durfte!« sagte ich endlich. Täuschte ich mich, oder spielte bei dem Wort menschlich ein kleines, spöttisches Lächeln um die Lippen des Professors?

»Die Beobachtung war freilich nicht astronomisch präzise«, meinte der Assistent, »aber dafür um so eindrucksvoller für Sie!“

»Ja – hätten Sie dann nicht lieber selbst die Beobachtung sachgemäß ausgeführt?« fragte ich bestürzt. “Gewiß sind mir viele wichtige Einzelheiten entgangen!«

»Es wäre unnötig gewesen, Einzelheiten erst noch zu beobachten, die uns alle bereits vorher bekannt waren«, schaltete sich der Professor ein.

»Aber woher wollen Sie diese Einzelheiten kennen?« fragte ich eindringlich. »In das Auftauchen dieses Meteors gehen doch so viele unkontrollierbare Faktoren ein, daß ich mir kaum vorstellen kann – «

»Ich will Ihnen das gern erklären«, sagte der Professor freundlich. »Aber wir wollen dabei gleich hinunterfahren !«

»Sehen Sie«, fuhr er fort, als wir wieder in der Kabine des Aufzugs standen, »die ganze Welt ist von großen, durchgängig gültigen Gesetzen beherrscht, die ihren Ausdruck in gewissen Formeln finden. Die Formeln erlauben, den zukünftigen Verlauf der Ereignisse vorauszuberechnen, wenn man die zu einem bestimmten Zeitpunkt herrschenden Voraussetzungen, die sogenannten Anfangsbedingungen, in sie einsetzt. Für eine Sonnenfinsternis braucht man wenige, einfache Gesetze und Voraussetzungen – für die Erscheinung, die Sie eben sahen, viele und komplizierte.

Doch da wir diese Gesetze ja selbst…« er verbesserte sich auf ein Räuspern des Assistenten hin: “… diese Gesetze alle kennen und auch noch den Zustand der gesamten Welt zu einem bestimmten Augenblick – dem ihrer Erschaffung übrigens – kennen, so ist es uns auch möglich, alle Ereignisse in der Welt vorauszuberechnen.«

Die Tür der Kabine öffnete sich, und ich sah nun die Halle, die wir vorhin durchquert hatten, in heller Beleuchtung vor mir liegen. Sie war, wie ich vermutet hatte, sehr groß. Was ich aber vorhin nicht hatte sehen können, war eine ungeheure Apparatur, die sie bis zur Decke ausfüllte.

»Die Vorausberechnung” hub der Professor wieder an, “wäre sehr zeitraubend und mühsam für menschliche Hirne. Aber wir haben hier in unserem Institut für diese Zwecke eine große Rechenmaschine, die in sehr kurzer Zeit jedes Ergebnis liefert, das wir benötigen.«

Er wies auf die Apparatur. Ihre glatte, wie eine Hauswand aufragende Vorderfront war in regelmäßige Felder geteilt, in deren jedem sich Myriaden von Buchsen, Schaltern und Signallampen befanden. Dazwischen ragte manchmal ein Spulenkörper hervor, und die weißen Skalen der Meßinstrumente und runde, mit ständig wechselnden Kurvenzügen bedeckte Leuchtschirme blickten mich wie seltsame Augen an. Überall aber an dem Koloß bewegte und veränderte es sich:
Lämpchen verloschen und blitzten auf, Schalter klickten, und wie Eichhörnchen am Baum kletterten bewegliche Schaltaggregate an ihm auf und ab. Ich hätte diesem eigenartigen, geschäftigen Treiben lange zusehen können, aber der Professor berührte meinen Arm und forderte mich auf, mit ihm und dem Assistenten eine Plattform zu betreten, die fest mit der Rechenmaschine verbunden schien.

»Ich kann Ihnen so die Maschine besser erklären«, sagte er erläuternd, »denn diese Plattform ist beweglich und kann vor jeden Teil der Maschine gefahren werden.«

»Sehen Sie zum Beispiel hier«, fuhr er fort, während wir langsam in die Höhe glitten, »die Bahnberechnung des Meteors außerhalb der Erdatmosphäre. Sie geht aus von seiner Entstehung – das liegt etwa zwei Milliarden Jahre zurück. Als sich damals einige Millionen kosmischer Staubteilchen zusammenschlossen – das war ja aus ihren Bahnen vorauszuberechnen -, legten sich drüben, im Archivaggregat im Nebengebäude, Ort und Geschwindigkeit des entstandenen Brockens fest, und regelmäßig wurden alle weiteren Wirkungen, die kosmische Ereignisse auf den Brocken hatten, dort registriert. Nun, als er in die Nähe dieses Planeten kam, schaltete das Zentralsteuerwerk automatisch vom Archivaggregat hier herüber, und in diesem Schaltschrank, an dem wir gerade vorbeikommen, wurde seine Bahn endgültig ausgerechnet. Das Ergebnis wurde dann weitergeleitet und mit den zu erwartenden atmosphärischen Verhältnissen, Luftströmungen und Temperaturen kombiniert, bis es dann mein erster Mitarbeiter dort drüben« – wir hatten uns mit einer schraubenden Wendung um die Ecke geschwungen und fuhren nun waagrecht an der Längsseite der Maschine entlang – »entnahm und mit ins Observatorium brachte.«

Ich hatte nur mit halber Aufmerksamkeit zugehört. Wenn mich auch die nüchterne Realität der Lampen, Spulen und Schalter nach den Worten des Professors in der dunklen Halle, die einen anderen, schwer verständlichen Sinn zu bergen schienen, beruhigte, so drängte doch eine Beklemmung aus der Tiefe meiner Seele herauf. Es war mir, als habe diese Rechenmaschine eine unheimliche Beziehung zu mir selbst, meinem eigenen Ich, und als führe mich die gleitende Plattform immer tiefer in diese Verstrickung hinein. Ich hatte den immer stärker werdenden Wunsch, sie möge stillstehen oder – besser noch – zurückfahren und mich aus dem Bann entlassen, der sich immer fühlbarer um mich zog.

Und sie stand still. Plötzlich machte sie vor einem der Felder halt. Es trug in einem Metallrahmen ein weißes Schildchen, das in sauberen Buchstaben die Aufschrift trug:
SARTORIUS

Ich sah den Professor an. Wieder lächelte er fast unmerklich. »Jetzt, nachdem Sie an einem Beispiel gesehen haben, wie unsere Maschine arbeitet, werden Sie sich leichter erklären können, warum uns Ihr Kommen kein Geheimnis war.«

Mir war es, als hätte ich einen Schlag vor den Kopf bekommen. »Sie wollen doch nicht sagen, Sie konnten mein Kommen genauso vorausberechnen wie den Fall des Meteors!«

»Eben das will ich sagen. Schon am Morgen des Tages hatten wir die Berechnung in der Hand, und daraufhin erst suchten wir nach einem einführenden Beispiel, das wir in dem Meteor entdeckten – «

»Aber – Sie können wohl das Fallen eines Steins in Formeln einfangen, nicht aber meine Gedanken!«

»Das ist nur ein – nun, sagen wir, gradueller Unterschied. Auch Ihr Charakter ist – wenn auch viel komplizierter als ein Planetensystem – eine feste, unveränderliche Einheit aus wohlbestimmten Voraussetzungen und Gesetzen. Sie erinnern sich, daß in Ihnen verschiedene Motive um die Oberhand stritten – der Wunsch umzukehren, Abneigung gegen die Gesellschaft ihrer Freunde, der Drang nach einem ungewöhnlichen Erlebnis … daß verschiedene äußere Anstöße: der kühle Wind, die Lichter unseres Instituts, Ihre Erinnerung an Waldemars Worte, mit in die Bildung Ihres Entschlusses eingriffen. Auch die Motive des menschlichen Geistes und ihr Widerstreit unterliegen Gesetzen, und da unsere Maschine alle « – er sah mich voll an – »alle Gesetze berücksichtigt, auch die von Menschen noch nicht entdeckten, so berechnete sie den Entschluß voraus mit der gleichen Sicherheit wie die Bewegung irgendeines Himmelskörpers. Alle Ihre Handlungen lagen schon im Augenblick Ihrer Geburt fest – denn sie folgen gesetzmäßig aus Ihrer Persönlichkeit und den Anrufen der Außenwelt.”

Etwas in mir begehrte auf.
»Aber – es gibt doch noch einen freien Willen!«

Der Professor – oder wie sollte ich ihn nennen? – lächelte wieder, ein wenig nachsichtig diesmal.

»Nun, vielleicht ist Ihnen eine andere Deutung faßlicher. Vor mir sitzt hier – zweifelsohne – Ihr Körper. Dieser Körper besteht aus Molekülen und Atomen, und wenn er hierher gekommen ist, so ist das eine Folge der zweckvoll zusammenspielenden Bewegungen dieser Atome und Moleküle. Daß diese Bewegungen den Naturgesetzen folgen müssen, geben Sie zu, ja? Daß diese Naturgesetze nur eine ganz bestimmte, zwingende Art zulassen, wie sich eben diese Moleküle in ihrer – Sartorius genannten – Konstellation bewegen können, geben Sie auch zu…ja? Glauben Sie, daß Ihr Wille auch nur ein Atom zwingen könnte, sich diesen Gesetzen zu entziehen? Nein? Gut, und daß die Anfangsbedingungen festlagen, als diese Konstellation Sartorius vor zweieinhalb Jahrzehnten entstand, geben Sie weiter zu? Ja? Dann werden Sie endlich auch zugeben, daß sich die Bewegungen der Atome und Moleküle, also – in summa – Ihres Körpers, vorausberechnen lassen. Im übrigen – ich kann Sie leichter überzeugen. Tun Sie in den nächsten Minuten irgend etwas, was Ihnen gerade einfällt. Die Maschine ist eingestellt. Schalten Sie, bitte, die Schreibvorrichtung an die Abnahmebuchsen!«« wandte er sich an den Assistenten, und wieder zu mir: »In kurzer Zeit werden wir dann die Berechnung in Händen haben, Sie können Ihre Absicht ausführen – und wir vergleichen.«

Mir schwamm es vor den Augen; ich war kaum fähig, einen klaren Gedanken zu fassen. War ich denn tatsächlich nur ein Molekülkomplex, dessen Reaktionen dieser Maschinenkoloß hier mit elektrischen Impulsen und Oszillographen voraussah? Alles in mir bäumte sich gegen diese Vorstellung auf. Hier stand ich, Sartorius, ein Mensch mit all seinen Wünschen, Regungen und Geheimnissen – vielleicht kein Meisterstück, aber doch ein volles, ganzes Individuum mit eigenen Entschlüssen und Gedanken! Ich setzte dieses Individuum gegen die Maschine, gegen Draht und Eisen! Ich wurde ruhiger. Es mußte mißlingen, mir den noch gar nicht gefaßten Entschluß mit Formeln und Anfangsbedingungen schon im voraus aus dem Gehirn zu präparieren.

Aber was sollte ich tun? Nichts Alltägliches, Vorhersehbares – etwas ganz Willkürliches, gar nicht aus der Situation Erklärbares! Der Zettel Jeanettes fiel mir wieder ein und seine Tageslosung. Aber nicht diese Losung selbst wollte ich nennen, sondern ihre vielleicht falsche Übersetzung, die gewiß mein eigener, niemandem sonst bekannter Gedanke war.

Der Assistent hatte einige Schaltungen vorgenommen; aus einem Blechkasten ringelte sich das weiße Band. Der Professor ergriff es, las und betrachtete mich mit der spannungslosen Aufmerksamkeit dessen, der einen seit langem gewohnten Vorgang wieder einmal abrollen sieht.

»Wenn Gott rechnet, entsteht die Welt!«« sagte ich entschlossen. Nicht einmal die Spur eines Triumphes war in seinem milden Blick zu lesen, als er mir den Streifen gab.

»Vp Sartorius sagt 1h 15m 2s Weltzeit Greenwich Wenn Gott rechnet entsteht die Welt«, stand darauf.

Vp – »Versuchsperson« Sartorius. Ja – eine Versuchsperson. Ach, noch weniger, eine überflüssige Molekülansammlung war ich, deren Bewegungen, Worte, Gedanken, deren Freud und Leid, Liebe und Haß viel genauer, als ich selbst sie kannte – mit Angabe der Greenwicher Zeit -, dort in der Maschine festlagen und zum eventuellen Gebrauch auf weißes Papier gedruckt aus den Abnahmebuchsen strömten. Was war ich denn? Wozu gab es mich denn dann überhaupt noch? Wozu gab es denn die ganze Welt noch, wenn man sie doch mit all ihren Meteorstürzen, Besuchen, Kriegen, guten und bösen Taten aus der Maschine dort entnehmen konnte!

Und wozu gab es denn die Maschine selbst, wenn sie nur die zwingenden Folgen ein paar Minuten früher ausrechnete, als sie dann wirklich eintraten?!

»Nein, ich habe mich geirrt!« rief ich plötzlich. »Es müßte heißen: Damit Gott rechnen kann, gibt es die Welt! Denn diese Maschine ist nur ein Spielzeug für Gott – für die Menschen aber ist sie schlimmer als eine Guillotine: Die zerstört nur das Leben – aber diese Rechenmaschine« – ich sah an dem skalenbedeckten Koloß empor – »diese Maschine saugt uns ja bei lebendigem Leibe die Seele aus dem Körper!«

»Freund, Sie sind erregt!« sagte der Professor begütigend. »Ich will deshalb nicht darauf hören, was Sie sprechen. Nur eines: Sie sagten, diese Maschine sei nur für Gott – und Sie sagten das so anklagend. Glauben Sie mir – sie ist wirklich nur für Gott …«

Schmeichelt er sich, so erniedrige ich ihn,
erniedrigt er sich, so schmeichle ich ihm;
und immer widerspreche ich ihm, bis
er begreift, daß er ein unbegreifbares Wesen ist.

PASCAL

Ich kann mich heute nicht mehr erinnern, was ich in jener Stunde alles gedacht habe. Nur soviel weiß ich, daß alle Gedankenketten sich in dem unheimlichen Bewußtsein verloren, daß ja jede Überlegung, jede kleinste Regung meiner Seele gleichsam nicht mehr mein war, sondern vorbestimmt, vorweggenommen und schon gedacht, gefühlt sein mußte in jener unheimlichen Maschine. Aber es war ja nicht mehr die Maschine, mit der ich mich auseinanderzusetzen suchte – sondern dieser Gedanke des unerbittlichen, strengen Determinismus, dessen gewaltiges Symbol sie nur war. Ob sich die Vorherbestimmtheit allen menschlichen Denkens und Trachtens nun in der Prophezeiung eines indischen Yogis offenbarte oder in den Speichern und Schaltaggregaten dieser Apparatur, war ja einerlei; nur daß sie hier, in ihrer aller mystischen Verhüllung entrückten, wissenschaftlich exakten Ausprägung um so unentrinnbarer schien!

Ich weiß nicht, wie lange ich so gesessen habe. Endlich blickte ich auf und sah in das Gesicht des Assistenten, der mich mit einem spöttischen Lächeln – aber, wie mir schien, nicht ohne Anteilnahme – betrachtet hatte.

»Das scheint Sie ja mächtig mitgenommen zu haben«, sagte er. »Nehmen Sie sich erst einmal eine Zigarette – so – und als Fidibus verwenden wir diesen Zettel, der Sie so beunruhigt!«

Damit löste er das Schildchen »Sartorius« aus der Klammer, entzündete es an einem verborgenen Glühdraht seiner Schalttafel und reichte es mir hin.
Mit einem wohligen Gefühl saugte ich den Rauch ein – es war so erlösend, wieder einmal etwas tun zu können, wobei man nicht gleich auf ein neues, unlösbares Problem stieß!

»Und nun wollen wir auch weg von hier«, fuhr der andere fort und drückte, ohne hinzusehen, ein paar Steuerknöpfe nieder. »Mal sehen, wo der Karren hinfährt.«
»Lassen Sie nur«, sagte ich bitter, »wenn wir ankommen, empfängt uns doch ein Papierstreifen mit der genauen Vorhersage unserer Ankunft!«

»Na, Sie hat der Alte ja vollkommen überzeugt«, meinte der Assistent kopfschüttelnd. »Schade, Sie hatten doch vorhin ganz vernünftige Gedanken. Die Maschine ist ein Spielzeug für Gott, sagten Sie doch? Nun ja, alte Männer haben Spaß an Spielzeugen – und so habe ich ihm eben diese Maschine gebaut, was ist weiter dabei?«

»Die Idee zu diesem Apparat stammt also von Ihnen?«

»Die Idee …« wiederholte er gedehnt, »die Idee stammt, glaube ich, von dem alten französischen Astronomen Laplace. ‘Ein Geist, der für einen gegebenen Augenblick alle Kräfte kennt, welche die Natur beleben, und der diese Angaben der mathematischen Analyse unterwirft,’ so sagte er wohl, ‘könnte in derselben Formel die Bewegung des größten Himmelskörpers und des leichtesten Atoms einbegreifen. Zukunft und Vergangenheit wären einem Blick gegenwärtig’ Und vor ihm hat Leibniz etwas ganz Ähnliches behauptet.

Es ist überhaupt so eine Eigenart des Experiments ‘Menschheit’, daß sie immer auf Ideen verfällt, die ihr so sehr zusagen, daß sie sie bis zur letzten Konsequenz durchführt – und diese letzte Konsequenz hält sie eben nicht aus. Alles vorausberechnen – herrlicher Gedanke! Aber wenn dann das liebe Ich – konsequenterweise – auch vorausberechnet werden kann, dann gerät man in große Not!«

Unter diesen Reden war die Plattform in seltsamen Wendungen weitergerückt und hielt nun an einer Stelle, die ringsum von den skalenbedeckten Fronten der Maschine umgeben war.

»Fühlen Sie sich denn nun schon etwas wohler? Ja? Dann will ich Ihnen mal zeigen, daß unsere alte Maschine auch ganz lustig sein kann. Sehen Sie mal dort hinüber!«
Er hantierte am Schaltbrett. An der uns gerade gegenüberliegenden Wand hielten die beweglichen Schaltaggregate, die in ruheloser Geschäftigkeit umhergeklettert waren, plötzlich inne und formierten sich zu einer Reihe.

»Na, nun zeigt mal, was ihr könnt!« rief der Assistent.»Tatata — dam — data
Tatata — da — deram — data
Tatata — dam — data — «
sang er vor sich hin – es war die Melodie eines Schlagers, den alle Welt jetzt gerade sang.

Und im Rhythmus der Melodie begannen sich nun die Aggregate zu bewegen, zwei Schritte hinauf, einen herab, und schwenkten dazu ihre Schaltarme wie eine Truppe Tiller-Girls die Beine.

Der Anblick war so unwiderstehlich komisch, daß ich in lautes Gelächter ausbrach – wenn es auch ein wenig gezwungen klang nach all dem Vorausgegangenen.

»Na sehen Sie – es läßt sich doch leben auf unserer Maschine!« rief der Assistent lachend.

»Wissen Sie«, fuhr er halblaut fort, »diese Maschine ist nämlich gar kein so erhabenes Meisterwerk, wie Sie denken. Der Alte legt ja großen Wert auf das Erhabene – aber wenn etwas wirklich erhaben ist, dann vertragen es die Menschen nicht gut, und wenn es nur erhaben scheint, dann wird es so furchtbar leicht lächerlich. Sehen Sie her…«

Er löste mit einigen raschen Handgriffen ein Stück der Verschalung – ein Gewirr von Drähten, Spulen und Kondensatoren kam zum Vorschein. »Nun nehmen Sie einmal die großmächtige Apparatur unter die Lupe«, fuhr er fort und drückte mir ein Vergrößerungsglas in die Hand, das er aus der Tasche seines schwarzen Kittels gezogen hatte. Und seltsam – wie ich jetzt die Leitungen näher betrachtete, bemerkte ich eine eigenartige Unordnung: Hier liefen einige Leitungen in sich selbst zurück, andere endeten gar frei in der Luft, manche Spulen waren gar nicht angeschlossen, und ein Teil der anderen Geräte war offenbar auch gar nicht in Funktion!

»Na, jetzt wird sich ja Ihr Wunderglaube an die Unfehlbarkeit der Maschine bald geben«, sagte der Assistent spöttisch. »Das und das und das« – er griff in die Drähte und pflückte einige schimmernde Geräte heraus wie Beeren aus den Zweigen eines Busches – »können wir ruhig herausnehmen, das ist doch zu nichts gut – deshalb läuft sie nicht besser und nicht schlechter als vorher.«

»Aber«, sagte ich bestürzt, »die Maschine hat doch vorhin so erschreckend sicher gearbeitet!«

»Nun schon – manchmal, wenn man nicht genau hinsieht, klappt schon alles. Aber das sind doch Zauberkunststückchen!

Übrigens«, sagte er, plötzlich ernst werdend, und mir schien es fast, als sei er dem Professor in diesem Augenblick seltsam ähnlich, »was Sie da vorhin sagten, ‘wenn Gott rechnet, entsteht die Welt’ – das war gar nicht so zufällig, wie Sie glaubten; das war ein sehr, sehr kluges und tiefes Wort, und es paßte gut zu Ihren ganzen Erlebnissen. Aber«, fuhr er nun, ganz in seiner alten Art, fort, »deshalb war auch gar keine Maschine nötig, um das zu prophezeien.

Doch nun kommen Sie, das Beste steht Ihnen noch bevor: Ich will Ihnen das Innere der Maschine zeigen. Oder, da Sie ja sagten, diese Maschine stehe eigentlich an Stelle der ganzen Welt – ich will Ihnen das Innere der Welt zeigen.« Wieder griff er in die Verschalung, und diesmal schwang sich ein ganzes Feld heraus wie eine Tür.
»Treten Sie näher – ins Innere der Welt. Warum zögern Sie?«

»Ich weiß nicht – verzeihen Sie, Sie geben sich gewiß große Mühe, den Eindruck der vorangegangenen Ereignisse auf mich zu verwischen; aber – wenn auch diese Maschine hier, und das müssen Sie, als Ihr Erbauer, ja wissen, verwirrende und unverständliche Mängel aufweist, und – wie Sie mir wohl zeigen wollten – gar nicht fähig ist, das zu leisten, was der Professor behauptete – damit ist doch noch nicht die Idee dieser Maschine widerlegt, die er mir so eindringlich und mit so zwingenden Schlüssen schilderte!«

»Sie kennen mich«, lachte der Assistent, »noch zu wenig, um zu wissen, daß ich mich mit halben Sachen nicht begnüge:
Sie sollen auch von der Idee der Maschine, von der Idee des Laplaceschen Geistes also, erlöst werden, und zwar nachhaltig! Aber eben dazu ist es nötig, daß Sie von der glatten, scheinbar so ordentlichen Außenseite Abschied nehmen und ins Innere der Dinge dringen – also, kommen Sie.«

Ich folgte ihm, als er gebückt durch die niedrige Öffnung verschwand, wieder mit jenem schwachen Abglanz des Gefühls, das mich – wie lange war das her? – bewegt hatte, als ich die Lichter des Instituts am Horizont entdeckte. Wir traten in ein warmes Dunkel, eine Atmosphäre, die etwas Chaotisches hatte, etwas von der Ahnung Tausender noch unerfüllter Möglichkeiten.

»Nehmen Sie meine Hand – ich bin hier zu Hause«, drang die Stimme des anderen aus der Dunkelheit. Wir gingen – doch ich konnte nicht erkennen wohin, und fast hatte ich das Gefühl, wir verließen gar nicht den Fleck, auf dem wir gestanden hatten.

»Mit zwei Gedankengängen«, sagte der Assistent, »wollte Ihnen der Professor den Beweis führen, daß alle Ihre Handlungen vorbestimmt seien. Sie folgten gesetzmäßig aus Ihrer Persönlichkeit, Ihrem Charakter, der so und nur so auf die Anrufe der Außenwelt antworten kann – sagte er nicht so? Nehmen wir die Persönlichkeit unter die Lupe! Nicht gerade Ihre eigene – die können wir schwer objektiv betrachten – sondern die irgendeines Menschen, den Sie gut zu kennen glauben.«

Ich überlegte. Jacques? Lieber nicht! Oder Waldemar – aber der war keine Persönlichkeit, nur eine lebendige ägyptische Mumie. Doch jemand, den ich gut zu kennen glaubte? Wen kannte ich besser als Jeanette, mit der ich doch die geheimsten Stunden geteilt hatte?

»Eine Frau?« sagte der Assistent, und ich spürte im Dunkeln sein spöttisches Lächeln. »Aber wie Sie wollen – haben Sie die Lupe noch, die ich Ihnen vorhin gab? Ja? Dann sehen sie hindurch.«

Ich hob das Rund der Fassung ans Auge. Undeutlich erst in weiter Ferne, dann immer größer werdend, tauchte aus dem Dunkel – in dem dunkelgrünen Kleid, das ich so liebte, mit den hochhackigen Krokodillederschuhen, die ich ihr vor langem einst geschenkt hatte – Jeanettes Gestalt auf. Auch sie schien mich zu sehen, denn über ihr schönes Gesicht glitt ein Schimmer freudiger Überraschung, sie winkte und eilte mir entgegen – da drehte sich plötzlich das Glas in meinen Händen, ein Reigen dunkler, unklarer Gestalten huschte vorüber, und als ich wieder durch die Lupe sah, erblickte ich – mich selbst. Ich kam auf mich zu, in meinem braunen Anzug, ein Lachen auf dem Gesicht, und »Jeanette!« rief mein Doppelbild mir zu. Aber – war ich denn noch ich selbst? Trug ich nicht Jeanettes Kleid, fühlte ich nicht die Seide ihrer Wäsche auf dem Körper, steckten nicht meine Füße in zarten Strümpfen und in den kleinen Schuhen – lief nicht diese seltsam verwandelte Person meinem Spiegelbild entgegen, um es zu umarmen?!

»Was heißt das? Ich bitte Sie, ich beschwöre Sie, was war das eben für ein Spuk?!« schrie ich den Assistenten an und packte ihn am Arm.

»Eine kleine Lektion über das Kapitel Persönlichkeit«, erwiderte er lächelnd. »Haben Sie an der Jeanette, die Sie eben sahen, irgend etwas vermißt? War es nicht ganz die Frau, die Sie zu kennen glauben und eben darum lieben? Und doch waren Sie selbst es – oder vielmehr Ihr eigenes Ich, das sich nur in Jeanette spiegelte. Die ganze Jeanette, die Sie kennen, mit der Sie täglich sprechen, ist eigentlich gar nicht Jeanette – sondern nur das Bild Jeanettes, das sich Herr Sartorius macht. Aber nicht doch – das ist kein Vorwurf! Das ist ganz in der Ord-nung – genau so ist der Sartorius, den Jeanette kennt, eigentlich nur Jeanette, und der, den Ihr Freund Jacques kennt, ist eigentlich Jacques, und Waldemar kennt nur Waldemar!«

»Ich glaube, ich verstehe Sie. Niemand kennt den anderen wirklich, weil er ihn doch nur mit seinem eigenen Maß mißt?«

»So ungefähr – nur müssen Sie noch einen Schritt weitergehen. Es gibt gar keine Jeanette an und für sich, sondern nur eine Jeanette für Sartorius, für ihre Schwester, für ihre Modistin, für ihren Arzt – jedes Mal ist sie eine andere, eine neue und mit allen übrigen unvergleichbare Jeanette – aber niemals die wirkliche -«

Einen Augenblick blitzte aus dem Dunkel ein Bild auf, das ich in seiner Vielfarbigkeit kaum mit einem Blick umfassen konnte: Hunderte, Tausende von Gestalten – und jede von ihnen Jeanette, und war es doch wieder nicht, diese eine nicht, die ich kannte und liebte.

»Und – wenn sie schläft? Wenn sie mit niemandem zusammen ist, der ihr Bild verfälschen könnte?«

»Sie mißverstehen mich noch immer. Es gibt gar keine wahre Jeanette, die man verfälschen könnte – es gibt nur diese tausend verschiedenen Bilder, die in jeder neuen Situation neu und widersprechend hervortreten. Und im Schlaf – kennen Sie die Träume Jeanettes? Glauben Sie nicht, daß sich ihre Persönlichkeit im Traum noch viel nachhaltiger verwandelt, daß noch unbekanntere Seiten hervortreten?«

»Doch, Sie haben recht – aber was soll das alles? Sie wollten mich von meiner Verwirrung erlösen, aber Sie haben mich nur in eine neue gestürzt!«

»Aber, Herr Sartorius, sehen Sie denn das nicht ein? Wenn es gar keine feste, eindeutige Persönlichkeit gibt, dann kann in ihr auch nicht die Zukunft vorbestimmt liegen! Was der Professor Persönlichkeit nannte, ist in Wahrheit nur ein loses Bündel von Möglichkeiten, die nach ihrem Ermessen ins Licht treten.«

Ich antwortete ihm nicht. Aber hatte er nicht recht – war es nicht das, was ich in so vielen Stunden meines bisherigen Lebens empfunden hatte, diese verwirrenden Widersprüche in meiner eigenen Seele und denen der anderen, dieses Gefühl manchmal der engsten Verbundenheit, manchmal tiefsten Verschiedenheit? Gab es nicht Stunden, in denen ich Waldemar verstehen konnte und andere, in denen er mir fremder war als der Bewohner eines anderen Planeten? War ich vielleicht einmal Waldemars Sartorius, das andere Mal ein Fremder, der mit ihm nichts gemein hatte?

»Aber ich – ich selbst bin doch eine feste Persönlichkeit – ich ändere mich doch nicht mit jeder Person, die mir gegenübersteht!« begehrte ich noch einmal auf.
»So – wirklich? Nun, wir werden sehen. Von Ihrem unveränderlichen Charakter, der alle Ihre Handlungen vorausbestimmt, hätte ich Sie jedenfalls erlöst. Nun kommt das andere Gespenst an die Reihe – Ihr mechanisch-kausal funktionierender Körper!

Doch gehen wir erst ein paar Schritte weiter— Ihnen wird ein wenig Ruhe gut tun.«
Aus dem Dunkel schimmerte jetzt irgendwo ein Licht. Wir gingen darauf zu – es kam von einer Lampe, die auf einem einfachen Holztisch stand.

»Setzen Sie sich hierher«, ordnete der Assistent an, als bereite er irgendeinen Versuch vor. »Haben Sie die Lupe noch?«

Ich gab sie ihm. Er nahm sie mit spitzen Fingern, und wie Bälle in den Händen eines Zauberkünstlers vervielfältigte sie sich – zwei, drei, vier Lupen entstanden, die er klirrend auf den Tisch fallen ließ. Es befremdete mich nicht mehr. Alle Gesetze und vertrauten Vorstellungen waren in dieser Nacht aufgehoben, und ich konnte nichts tun, als ihren Zauber hinnehmen.

»Ich will mich mit dieser Sache nicht selbst aufhalten», sagte er, sich zum Gehen wendend. «Diese Fiktion haben schon andere beseitigt. Gehaben Sie sich wohl, bis ich zurück bin.«

Nun war ich doch etwas verblüfft. Sollte ich dieses Problem selbst lösen? Ich versuchte spielend die Lupen, aber meine Hände schienen keine Gewalt über sie zu haben.

»Guten Abend, Mr. Sartorius!« klang plötzlich eine Stimme. Aufblickend gewahrte ich eine Gestalt, die ich bisher im Institut noch nicht gesehen hatte: Ein hagerer, intelligent aussehender Herr in einem grauen Sportanzug, mit einem langen, von lustigen Fältchen durchzogenen Gesicht, in dem ich den Angelsachsen auch vermutet hätte, wenn der leichte Akzent nicht gewesen wäre. Unter dem Arm trug er einen sehr großen, mit Packpapier umhüllten Gegenstand, eine Art Kiste oder Gestell.

»Ich wurde gebeten, Ihnen eine kleine Lektion über Moleküle und Atome zu halten«, fuhr er fort. »Ich habe dazu einen sehr interessanten Gegenstand mitgebracht.« Er deutete auf die Last, die er abgesetzt hatte. »Er besteht aus sehr wenig Materie, weniger als ein Stecknadelkopf groß ist. Aber sie ist in sehr kleine Portionen aufgeteilt, die in sehr großen Entfernungen voneinander im Raum schweben. Sie schweben, weil sehr starke elektrische Kräfte zwischen ihnen wirken und sie in einem gewissen Abstand voneinander halten – aber sie sind dennoch immerfort in sehr heftiger Bewegung. Legt man etwas auf diesen Gegenstand, dann trommeln sie so heftig unten dagegen, daß er in der Schwebe gehalten wird – obgleich er eigentlich auf lauter Nichts liegt. Ein seltsamer Gegenstand, nicht wahr?«

Ein paar Fältchen zuckten um seine Augenwinkel.
»Sie sitzen da vor einem Holztisch, soviel ich sehe. Ein solcher Tisch ist Ihnen von Jugend auf vertraut. Er ist fest, massiv und unproblematisch – er gehört jener wunderlichen Welt an, die man die Realität nennt. Wollen Sie nicht lieber meinen« – er räusperte sich – »meinen Gegenstand dort verwenden? Er würde genau das gleiche leisten wie der Tisch hier. Sie glauben es nicht?«

Er entfernte mit ein paar Griffen das Papier.
»Aber – das ist ja auch ein Tisch! Ich sehe doch genau die Maserung des Holzes!«
»Das«, sagte er gemächlich, »liegt nun wieder an gewissen Verschiedenheiten in der Art, wie meine kleinen Materieportionen auf ankommende elektromagnetische Wellen reagieren. Hier entsteht eine kräftigere, dort eine schwächere Resonanz, diese entstehende Sekundärwelle wird unterwegs mehr geschwächt, jene weniger – und so sehen Sie allerlei Unterschiede in der Lichtstärke, die Ihr Auge und Gehirn sehr phantasievoll zu einer Holzmaserung zusammensetzt. Doch ich langweile Sie.«

Er ergriff die Lupen und hob die erste.
»Das ist eine gewöhnliche Lupe. Sehen Sie hindurch, auf Ihren Tisch, auf meinen Gegenstand. Sie werden keinen Unterschied bemerken. Die Lupe ist eben viel zu schwach.

Die zweite ist eine – nun, sagen wir – magische Lupe. Sie zeigt Ihnen schon die Struktur meines Gegenstandes, und ich bin gespannt, was Sie an Ihrem massiven, realen Alltagstisch erleben werden. Bitte!«

Er gab mir die Lupe. In der Tat – ich erkannte nun die im Leeren schwebenden kleinen Kügelchen seines Gegenstandes, der einem Tisch so ähnlich sah. Sie zitterten unaufhörlich in ruheloser, unregelmäßiger Bewegung hin und her.
Nun wandte ich mich zu meinem Tisch. Aber kaum hatte ich ihn ins Auge gefaßt, als sich seine Konturen verwischten und er wie Nebel zerging.

»Sehen Sie – Ihr Alltagstisch hält diese Lupe eben nicht aus. Unter ihr hat nur mein Gegenstand Bestand – es gibt eben keine durchweg festen, massiven Körper, nur diese losen Gerüste und Netzgewebe aus Molekülen. Das haben Sie doch auf der Schule gelernt – warum verblüfft es Sie so?«

»Ich habe es mir eben nie richtig klargemacht. Es gibt ja auch keine magischen Lupen auf der Schule – «

»Nun – diese magische Lupe ist ja auch nur ein Symbol. Wären wir in meinem Laboratorium, könnte ich Ihnen durch Versuche beweisen, daß es so ist, wie Sie es durch die Lupe sehen – ich könnte andere kleine Körperchen durch den Tisch hindurch¬fliegen lassen, ich könnte – aber lassen wir es bei der Lupe. Nur – merken Sie sich: Jedes Bild, das Sie sehen, ist durch Tausende von Experimenten gestützt und erhärtet. Aber das Bild meines Gegenstandes ist noch zu grob. Nehmen wir doch einmal ein einzelnes Atom heraus.« Er faßte in das wirbelnde Gewirr und griff nach einem Kügelchen. »Was haben wir denn da? Ah, ein Kohlenstoffatom. Nun, die dritte Lupe -«

»Aber – das sieht ja aus wie ein Planetensystem!«

»Allerdings, in jedem Atom kreisen viele Elektronen um einen Kern, wie die Planeten um die Sonne. Aber auch dieses Bild ist noch zu grob.« Er fing eines der kreisenden Kügelchen ein. »Hier ist ein Elektron. Nun passen Sie gut auf.«

Er drückte mir die vierte, letzte Lupe in die Hand. Ich richtete sie auf das Kügelchen — aber, wo war es denn?
»Ich sehe ja gar nichts mehr!«

»Richtig – Sie sind nun auf dem Punkt angekommen, wo man keine Kügelchen mehr sieht. Das Elektron ist gar kein lokalisiertes Teilchen mehr, es hat keinen festen Ort, keine feste Geschwindigkeit – es kann dort sein, oder auch dort – ich weiß es nicht. Ich kann nur noch ausrechnen, daß es vielleicht eher dort ist als da – das heißt, daß ich es in tausend Versuchen eher dort finde und nur hundertmal da. Aber wo ich es in einem bestimmten Versuch finde, kann ich nicht mehr wissen.«
Er verneigte sich lächelnd ein wenig vor mir und ging dann, seinen Gegenstand unter dem Arm, davon, ein Liedchen vor sich hinpfeifend. Es schien ihn gar nicht zu berühren, daß dieser Gegenstand aus Milliarden von Teilchen bestand, die gar nicht da waren oder nur wahrscheinlich da waren, aber nicht sicher – oder die gar keine Teilchen waren. – Mir wirbelte der Kopf.

»Na, an die unerbittlichen Gesetze, denen alle Atome Ihres verehrten Körpers gehorchen, glauben Sie nun wohl auch nicht mehr?« erklang die Stimme des Assistenten.

»Nein, ich glaube nicht mehr an die Persönlichkeit, nicht mehr an die Gesetze, nicht mehr an die Atome – ich glaube höchstens noch, daß ich selbst ich selbst bin!«

»Oh, glauben Sie das? Ich habe hier einen Spiegel und eine meiner Lupen. Wollen Sie nicht auch noch sich selbst – «

»Nein, ich halte das nicht mehr aus, wie mir alles unter den Fingern zerrinnt! Sie haben mich« – ich sah ihn an – »vom Determinismus erlöst, Sie haben alle Gesetze zerstört, alle Formen, aber – Sie haben mich nicht glücklicher gemacht, als ich es vorhin war, als der Professor mich verließ. Ich will heraus aus diesem Dunkel. Ich will nicht auch noch mich selbst verlieren!«

»Bitte«, sagte er spöttisch und öffnete irgendwo im Dunkel eine Tür. Als ich an ihm vorbei hinausstürmte, hörte ich ihn murmeln: »Schade – gerade, wo es interessant wird, geht er. Aber ich sage es ja – die letzte Konsequenz halten sie niemals aus… «

Ich sah mich um. Ich stand auf der Galerie. Das Licht der ersten Dämmerung fiel durch die großen Fenster herein und mischte sich mit den Strahlen der Lampen. Ich lief die Galerie entlang, neben mir die unermeßlichen Fronten der großen Maschine, hinter deren Skalen und Lampen jenes verwirrende Chaos von aufgelösten Persönlichkeiten, schwirrenden Atomen und Elektronen und zerstörten und aufgehobenen Gesetzen lag, dem ich eben entronnen war. Aber war ich ihm entronnen? Konnte ich denn die Erinnerung an die Erlebnisse dieser Nacht loswerden, indem ich entfloh? War denn niemand da, der alle diese Verwirrungen löste?

Da, auf einer breiten, vorgebauten Plattform, im Zentrum seiner Maschine, sah ich den Professor sitzen. Er hielt ein mit Formeln bedecktes Blatt Papier in der Hand, auf dem er eifrig neue, seltsame Zeichen entstehen ließ. Ich hielt inne. Diesem wenigstens wollte ich meine Verzweiflung ins Gesicht schreien, wollte mich rächen für die Qual, die er mir mit seinen unmenschlichen Apparaten bereitet hatte, die mich dem Herrn des Chaos in die Arme trieben.

»Nun, Herr Professor«, rief ich ihn an, »immer eifrig beim Rechnen? Aber schade, daß es gar nicht stimmt, was Sie da rechnen – daß Ihre Maschine gar nicht funktioniert! Was sagen Sie dazu?«

Ich bemerkte plötzlich, daß ich die Lupe noch in der Hand hielt. »Da«, sagte ich, sie erhebend, »schauen Sie sich doch die Maschine an!«

Die Lupe wuchs in meinen Händen, immer größer wurde der Kreis, den ihr Gesichtsfeld umschloß. Und wie ich sie auf die glatte Front der Apparatur richtete, klafften tausend Risse in der skalenbedeckten Wand, die wie ein morscher Verputz zerfiel, die Drähte und Leitungen ballten sich wie ekles Gewürm zusammen und zerstoben, Lampen und Röhren zersprangen wie Raketen und Feuersonnen, und nur ganz im Hintergrund des Raumes wurde eine Gestalt sichtbar, unheimlich groß und triumphierend lachend: der Assistent.

»Und was wird aus Ihnen, Professor, Gott der Maschinen und Formeln, wenn ich Sie durch die Lupe ansehe?!« schrie ich mit überschlagender Stimme und wendete das riesenhafte Rund der Fassung mit letzter Anstrengung auf seine Gestalt.
Das Geländer, an dem er lehnte, zerfiel, die Halle löste sich auf, das Blatt und der Schreibstift verschwanden – aber die Gestalt des Alten blieb unverändert, ja sie wurde größer, strahlender, und ein Leuchten schien von ihr auszugehen.

»Was bedeutet das?« fragte ich tonlos.

»Ich werde es Ihnen erklären – aber Sie müssen zu mir kommen«, sagte er mit milder Stimme.

Wie ohne Willen schwang ich mich durch die Öffnung der Lupe und trat zu ihm.
»Noch einen Augenblick«, fuhr er fort, während ein Gefühl überirdischer Ruhe und Geborgenheit mich überkam, »eines ist noch nötig, aber erschrecken Sie nicht.«
Er entfernte sich von mir; die Gestalt des Assistenten aber kam auf mich zu, immer näher, bis beide zu einer verschmolzen.

»So, nun kann ich mit dir sprechen«, sagte das seltsame Doppelwesen zu mir.
Ich stand starr. Sollten denn die Wunder und Verwirrungen dieser Nacht niemals enden?

»Sei ruhig – es ist die letzte Verwandlung, die du heute nacht erlebst!« fuhr die Gestalt fort. »Und ist es denn nicht das, was du dir wünschtest – einen Ausgleich, eine Synthese aus Gesetz und Freiheit, aus Kosmos und Chaos, aus Professor und Assistent?

Du hast den unerbittlichen Determinismus erlebt – und du konntest ihn nicht ertragen. Du hast die Auflösung des Determinismus, die vollkommen freie, ungeordnete Welt gesehen – und du bist geflohen. Darf ich dir ein drittes Bild vorschlagen? Vielleicht ist es der menschlichen Natur besser angemessen. Bevor du zu uns kamst, lasest du ein altes Wort: Cum deus calculat, fit mundus – Wenn Gott rechnet, entsteht die Welt. Du hieltest es für den Ausdruck des strengen Zwangs, der unausweichlichen Bindung. Aber du kennst die wahre Mathematik nicht, jene wunderbare Wissenschaft, die den Menschen mit Gott verbindet.
Siehst du – jedes mathematische Problem, sobald es gestellt ist, hat eine Lösung – in dem Moment, wo der Mathematiker es hinschreibt, liegt schon fest, was er als Ergebnis erhalten muß.

Das ist das Gesetz. Aber wie er die Lösung findet, welchen Weg er zu ihr einschlägt, das steht ihm frei. Ja, er kann sogar einen ganz neuen Weg gehen, den niemand vor ihm kannte. Er kann natürlich auch die Lösung verfehlen, weil er den falschen Weg wählte. All das kann er tun nach seinem Ermessen. Das ist die Freiheit.

Cum deus calculat, fit mundus – das heißt: Gottes Schöpfung ist wie die Mathematik. In dem Augenblick, wo etwas erschaffen wurde – auch für dich, Sartorius, gilt das wie für alles andere -, liegt bereits fest, was daraus werden, entstehen kann. Das ist das Gesetz.

Aber du könntest den Weg verfehlen, um das, was in dir angelegt ist, wirklich zu werden. Oder du kannst ihn erkennen, du kannst breite, gebahnte Wege zum Ziel gehen oder steile, gefahrvolle; du kannst wenig oder viel erreichen von dem, was dir möglich ist, oder gar nichts. Das ist die Freiheit.

Du – deine Person mit allen ihren Möglichkeiten bist ein Problem, das dir selbst gestellt ist. Mach dich an die Arbeit!

Einmal wirst du wieder vor mir stehen, und wir werden besprechen, ob du es geschickt oder ungeschickt, gut oder schlecht gelöst hast!

Geh nun zurück in die Stadt, in dein altes Leben. Was ich dir hier, unter dem Bild des Instituts mit der Rechenmaschine, sagen konnte, habe ich dir gesagt; aber vergiß nicht, daß dies nur ein Bild unter unendlich vielen ist, in denen du mich findest. Achte darauf – ich begegne dir noch oft, und vielleicht findest du dann Antwort auf die Fragen, die heute ungelöst bleiben. Geh jetzt heim – ich will noch einige neue Probleme ersinnen, die gelöst werden müssen!«

Er wandte sich um und ging langsam davon. Lange sah ich ihm nach.

Dann blickte ich auf zum Himmel über mir, wo eben die ersten Sterne erloschen – Experimente Gottes gleich mir.