Forenpostings zu Jungs Anima]

Auf die Gefahr hin, als alte Schulmeisterin zu erscheinen, muß ich hier mal noch etwas richtigstellen: bei diesem Thema und verwandten höre ich öfter, „Anima“ und „Animus“ seien die weibliche und männliche Komponenten einer menschlichen Psyche o. ä.

Das war aber nicht das, was der Urheber dieser Fachworte, der Tiefenpsychologe C.G. Jung, damit meinte – sondern sein Konzept war weitaus komplexer und aufschlußreicher:

Ausgangspunkt war für ihn die „PERSONA“
(von „per sonare“=“hindurchtönen“, nämlich der Maske des antiken Schauspielers, durch die seine Stimme erklang)

  • also die „Maske“ oder „Front“, die jeder von uns den anderen zeigt.
    Jung: Persona
    Manche Menschen glauben ihr Leben lang, daß dies natürlich auch ihr echtes Wesen, ihre „Persönlichkeit“ sei. Aber die meisten von uns spüren, daß sie in Wirklichkeit auch Wesenszüge und Eigenschaften haben, die zu diesem Bild gar nicht recht passen wollen – und verbannen sie in einen dunklen Gegenbereich, den „SCHATTEN“
    Jung: Schatten

Oft sind es Züge ihres eigenen „SCHATTEN“s, die sie öffentlich und bei anderen am meisten ablehnen oder sogar bekämpfen (eine beliebte Lustspielfigur war die sittenstrenge alte Jungfer, die überall „Sünde“ wittert) – aber der Vorwurf der „Heuchelei“ wäre oft ungerecht: denn den meisten sind die Gründe solcher Reaktionen – und die Inhalte ihres eigenen „Schattenbereichs“ – gar nicht bewußt.

Das gilt natürlich auch – und erst recht – von allem im eigenen Wesen, das z.B. ein Mann als „nicht-männlich“ (=“weibisch“) empfinden würde; nur erhebt sich da nun ein arges Dilemma: ohne gewisse „Resonanz-Kreise“ für Weibliches würde er jeder Frau im Grunde so fremd und verständnislos gegenüberstehen wie einem „Alien“ – er könnte sie allenfalls (wie Feministinnen gern sagen) „als bloßes Lustobjekt gebrauchen“, aber nie zu einer echten seelischen Partnerschaft mit ihr gelangen.

Also könnte er ohne diese Teile seines Wesens nicht leben – aber mit ihnen auch nicht!

Dieser „unlösbare Widerspruch“ treibt nun zwangsläufig seltsame Blüten: in den nicht bewußt kontrollierten „Schattenbereich“ abgedrängt und dort nochmal speziell „abgekapselt“, formieren sich diese Elemente zu einem „autonomen Komplex“, einer Art eigenständiger „Seelen-Frau“ oder „Frauen-Seele“: der „ANIMA“ !
Jung: Anima
In ihr sammelt sich alles, was – auch nur entfernt – als „weiblich“ erscheint: von (positiven oder negativen) „Frauen- und Mutter-Bildern“ über Lust-Auslöse-Reize bis zu mythologischen Figuren und Funktionen (die sogar aus uralten – „archetypischen“ – Inhalten eines „kollektiven Unbewußten“ stammen könnten) – und entwickelt, als unbewußte Gegenspielerin der bewußten „männlichen PERSONA“, oft geradezu poltergeisthafte Aktivitäten: wenn z.B. „starke Männer“ in Wirtschaft, Sport oder Politik ab und zu mal reagieren wie beleidigte Primadonnen oder keifende Fischweiber – dann sind unbewältigte „ANIMA“s im Spiel …

Ganz analog hat auch jede Frau ihre – gleichsam „offizielle“ – weibliche „PERSONA“, deren negativierten „SCHATTEN“ – und darin oder dahinter ihren „ANIMUS“: mit all den „männlichen“ Zügen, die sie oft bei Männern sucht und bei sich selbst meist nicht wahrhaben will.
Jung: Animus
Ein typischer „Partnerkrach“ entsteht z.B., wenn sich ein rechthaberischer „ANIMUS“ der Frau über irgendwas mit einer überempfindlichen „ANIMA“ des Manns in die Haare gerät…

Offenbar kann aber diese Konzeption auch neues Licht auf verschiedene in diesem thread aufgezeigte „Transgender“-Probleme werfen – doch das schreib ich besser in ein Extra-Posting

Die ach so gern dozierende HEKATE

@all:
Jung hat einmal gesagt, auf dem Weg zur Selbstfindung eines Mannes sei die Integration des eigenen „SCHATTEN“s das Gesellenstück (wie etwa zu lernen, daß „Mut“ nicht ist, „keine Angst zu kennen“ – sondern zu entscheiden, was man trotz eigener Angst tut) – das Meisterstück aber sei der richtige Umgang mit der eigenen „ANIMA“.

Einer der schlimmsten Fehler mancher „normaler Männer“ kann es z.B. sein, das ganze Idealbild ihrer eigenen ANIMA auf eine bedauernswerte Partnerin zu „projizieren“, die vielleicht das eine oder andere Merkmal dieses Idealbilds aufweist – sich deshalb „auf den ersten Blick“ in sie (in Wahrheit aber nur in die eigene ANIMA!) zu verlieben – und ihr später ständig bitter zu verübeln, wenn sie ihr nicht total entspricht, sondern sich als eigenständige Persönlichkeit „entpuppt“!

Der alternative (und eigentlich weitaus harmlosere) Lösungsversuch des TV wäre nach diesem Modell, seiner eigenen ANIMA ein „Eigenleben“ zu gönnen, indem er sie mehr oder minder oft als „Teilzeitfrau“ an und aus sich selbst kreiert! Im härtesten Falle verliebt er sich selbst dann derart in diese fleisch- (und silikon-)gewordene ANIMA, daß er gar keine andere Partnerin mehr braucht („Autogynephilie“); in anderen Fällen „vertritt“ er so für einen Partner dessen eigene „ANIMA“ (die ja auch nur das „Hirnprodukt eines Mannes“ ist); ja selbst der Buhmann so mancher einschlägigen Diskussion, der berüchtigte „fetischistische Transvestit“, könnte vielleicht bloß seine ANIMA so eng mit bestimmten „Symbolen“ identifiziert haben, daß diese allein schon genügen, sie „heraufzubeschwören“ ?
Im Normalfall des ganz „heterosexuell“ orientierten TV dagegen sollten ihm ja eigentlich all seine Partnerinnen dankbar sein, daß er es nicht ihnen zumutet, seine ANIMA „darzustellen“ – sondern sich dieser harten Strapaze selbst unterzieht (und auch nur mit sich selbst hadert, wenn ihm das nicht voll gelingen sollte); in der Tat finden es manche Partnerinnen von TVs wunderbar, so zu einem „Liebhaber“ auch noch eine „Freundin“ zu gewinnen – andere dagegen stürzt es (verständlicherweise, wenn sie die Zusammenhänge nicht durchschauen) in die ärgsten Probleme.

Die eigentliche TS aber, die ja im Grunde nur endlich „als Frau leben“ möchte, muß nach diesem Konzept (zu allen anderen medizinischen, amtlichen und sozialen Problemen) auch noch das gesamte vorherige Schema völlig umkehren: jetzt will sie der Welt (und sich selbst) ja eine völlig weibliche PERSONA präsentieren – müssen da nicht alle dafür unpassenden Elemente, insbesondere alles „männliche“, zum verachtet-abgelehnten SCHATTEN werden – und speziell die einstige „männliche PERSONA“, die sie lange Zeit gezwungenermaßen zeigen mußte, jetzt zu einem unheimlichen Gegenstück des „ANIMUS“?

Verständlich, daß vielen TS angesichts der Notwendigkeit dieser totalen und strapaziösen Umkehrung das lockere Jonglieren eines wohladaptierten
TV mit seiner PERSONA und ANIMA als leichtfertige Spielerei erscheinen muß – gegen die sie mit der ganzen „ehrlichen Entrüstung“ jedes „Schatten-Leugners“ und der vollen Rechthaberei eines weiblichen ANIMUS zu Felde ziehen: nicht zuletzt gegen die Zumutung eines anbiederischen „wir sitzen doch alle im gleichen Boot“ !

Dabei stimmt nun gerade das, wenn es um die Reaktionen der sogenannten „Normalmenschen“ geht, nach dem PERSONA/SCHATTEN-Konzept exakt: wer nämlich Zustandekommen und Funktion von SCHATTEN oder gar ANIMA/ANIMUS nicht durchschaut, packt alles, was nicht ins geläufige PERSONA-Schema „Mann ist Mann – und Frau ist Frau!“ zu passen scheint, ohne viel Überlegen in die globale SCHATTEN-Kategorie „Lauter Perverse!“ (oder zumindest „alles schräge Vögel!“) – und kommt noch nicht mal auf die Idee, dabei etwa Homosexuelle, Transvestiten, Transsexuelle oder andere Gruppen auseinanderzuhalten – denn zum „Ablehnen“ genügt eine „negative Gemeinsamkeit“ wie z.B. „Entspricht nicht (wie ich) dem gängigen Leitbild ‚Mann‘!“ bereits vollkommen.

[Daß im Gegensatz dazu jemand, den einer schon seit langem in die Kategorie „mir sympathisch“ oder „guter Kumpel“ eingeordnet hatte, bei ihm oft auch nach einem „Outing“ darin bleibt, steht dazu nicht im Widerspruch: „Ich kann Menschen beurteilen!“ gehört nämlich auch zu jenen Eigenschaften der eigenen PERSONA, die die meisten Menschen nicht in Zweifel ziehen wollen. Selbst Hitler konstatierte mal in einer Rede mit ironischer Verzweiflung „jeder Deutsche kennt wenigstens einen anständigen Juden!“ – nur hat das den deutschen Juden als Gruppe nicht viel genützt (wenn auch so manchem einzelnen davon!).]

Was nützen aber nun all solche Betrachtungen eigentlich?!

Ich persönlich behaupte: sehr viel. Denn beeinflussen kann man etwas erst dann, wenn man versteht, wie es zustandekommt – denn sonst versucht man gar zu leicht, wie es ein erfahrener Praktiker mal bei der Fehlersuche am Computer sagte, „das falsche Schwein zu schlachten“…

Eure optimistische Problem-Schlachtermeisterin HEKATE

Nun zur Sache:
Wenn mein 45-Zeilen-Feuilleton („Jung for Dummies“) Jungs PERSONA-SCHATTEN-ANIMA-Modell dennoch halbwegs richtig dargestellt haben sollte, beruhigt mich das – schließlich hab ich nur mal theoretische Physik studiert und nicht etwa Psychologie.
Als ich es Mitte des vorigen Jahrhunderts – wo man sich Wissen zu TG-Phänomenen noch mühselig selber zusammensuchen mußte – in seinen Werken entdeckte, habe ich es (arg unwissenschaftlich) nicht zuvor erst kritisch hinterfragt, sondern als eine Art „Überlebens-Konzept“ benutzt: bei der Frage, ob man einen Teil seines Wesens amputieren muß oder integrieren kann, greift man erst mal nach allem, was helfen könnte!

Hier sollte das ursprünglich bloß die Korrektur eines irrigen Sprachgebrauchs werden (so wie „Widerspruch“ <> „Wiederspruch“ ) – dann kamen ein paar Bildchen dazu – und endlich als Illustration, wie das denn z.B. auf die TG-Problematik angewendet aussehen würde.

Ich hab mich zwar redlich bemüht, stets einschränkend „nach diesem Modell“ o.ä. dazuzusagen – aber dennoch steh ich nun mit dem Odium des oberflächlichen „terrible simplificateurs“ da.

Vollig zu Recht – denn genau das ist die Methode des theoretischen Physikers: wenn es bei einem bestimmten Problem ausreicht, Planeten wie „Massenpunkte“ zu behandeln, tut er’s – ohne zu noch fragen, ob es auf ihnen auch Ozeane, Papageien oder politische Parteien gibt.

Vielleicht gerade deshalb hat mich an Jungs PERSONA- SCHATTEN-ANIMA-Modell fasziniert, daß es auch eine erstaunliche Robustheit gegenüber individualgenetischen, neurobiologischen oder ontologischen Spezialfragen aufweist – es setzt eigentlich nur dreierlei voraus:

1) Es gibt in einer Gesellschaft gewisse Leitbilder, nach denen sie jedes Individuum durch Erziehung, Anerkennung/Tadel usw. auszurichten sucht
2) Indivuelle Züge, die zu seinem Leitbild nicht passen, will das Individuum meist nicht wahrhaben („verdrängt“ sie in seinen „Schatten“)
3) Die Gesellschaft umfaßt 2 interagierende „Geschlechter“, deren Eigenschaften sich in ihren Leitbilder weitaus krasser unterscheiden als bei vielen realen Individuen.

Ich möchte das an einem „Gedankenexperiment“ (auch seit Galilei eine Erbsünde der theoretischen Physiker) demonstrieren:
Das fragliche Individuum sei ein völlig normales Mädchen (mit Eierstöcken, Gebärmutter, weiblichen Hormonen und „Instinkten“ usf.) – nur sei es (wie Prinzessin Ozma in Frank L. Baums „Land of Oz“) bei seiner Geburt von einer Hexe mit dem Fluch belegt worden, jedermann äußerlich wie ein Junge zu erscheinen. Denoch würde es sich anfänglich in vielem „wie ein Mädchen“ verhalten – aber da es ja alle für einen Jungen halten, der natürlich auch zu einem solchen „erzogen“ werden müsse, würde es dafür jedesmal scharf getadelt werden: solange, bis es sich all das „abgewöhnt“ (=verdrängt) hat und es, zusammen mit sonstigen „negativen“ Eigenschaften, im abzulehnenden „Schatten“ ablegt. Nun muß es aber auch mit anderen Kindern interagieren: naturgemäß „läge“ ihm das bei Mädchen besser – vieles, was sie tun, gefiele ihm selbst auch: aber das ist ja alles (für Jungen) „verboten“ – sondern „nur was für Mädchen“. Wie lange würde es dauern, bis sich all das spezifisch in einem erst recht als „unjungenhaft“ zu verdrängenden „Mädchen-Bild“ (einer „Anima“) kristallisiert ? Und welchen Grund hätte sie, ein analog verdrängtes „Jungen-Bild“ (einen „Animus“) zu entwickeln? „Junge“ ist sie doch bereits laut der ihr eingebläuten „Persona“!
Ich verzichte darauf, jetzt auch nochmal durchzuturnen, wie sich all das nach einer „Erlösung“ (oder bei der ersten Menstruation!) konvulsivisch umkehren müßte: dies soll ja keine TG-Fantasystory werden – sondern nur eine Demonstration, daß der Jungsche PERSONA-SCHATTEN-ANIMA-Mechanismus ganz unabhängig von Anatomie oder Neurobiologie abläuft, sondern primär von der Diskrepanz zwischen gesellschaftlichen Leitbildern und individuellen Eigenschaften abhängt (und vom einem „Verdrängungs“-Mechanismus bewußt schwer erträglicher Vorstellungen – aber daß es den gibt, scheint doch wohl allgemein akzeptiert?)

Wieso sich (real) kontinuierlich verteilte Eigenschaften wahrnehmungsmäßig zu bimodalen Extremen verdichten, dafür hat 1976 ZEEMAN Modelle nach der – noch abstrakt-universelleren – THOMschen „Katastrophentheorie“ der Singularitäten angegeben;
aus einem erweiterten solchen Modell („Schmetterlings-Katastrophe“ mit 4 Kontrollfaktoren) hatte er sogar zusammen mit Psychotherapeuten HEVESI ein neue Methodik zur Behandlung der anorexia nervosa entwickelt. Sie soll gute Erfolge erzielt haben. Mit ähnlichen Methoden hat er aber ebenso gesellschaftliche Probleme wie Gefängnisrevolten untersucht.

Vielleicht sollten auch wir, statt über die Therapie von TVs zu diskutieren, Methoden zum Therapieren der Gesellschaft suchen.

Die alles katastrophal vereinfachende HEKATE

An diesem gedankenreichen Thread wurde vielleicht als Einziges zuweilen bemängelt, daß manche Postings zu lang und/oder zu akademisch geworden seien. Um diesem Trend entgegenzusteuern, möchte ich deshalb hier zitieren, was ich vor über 30 Jahren mal als Extrakt der damals verfügbaren Theorien gedichtet hatte:

Tiefenpsychologie des Transvestitismus in Schüttelreimen

Wer die penislose Frau scheut,
liebt die Transvestitenschau (Freud)

Minderwertigkeitsvorwürfe alter Tadler
überkompensiert in Frau’ngestalt er (Adler)

Archetyp’sche Anima-Bejahung
fühlt er in Perücke und BH (Jung)