1 D e r R i t t e r

Der schwarze Ritter verhielt im Gehölz – gleich ihm, wie aus Stahl gegossen, stand das gepanzerte Roß. Die eiserne Hand lockerte Schwert und Scheide, wie er sich im Bügel hob und durchs Geäst spähte.

Morgennebel zog in zergehenden Schwaden über die herbstliche Heide – eine rötliche, aber noch kraftvolle Sonne warf schräge Strahlen durch die kahlen Äste. War dies der Tag?

Noch war der andere Reiter zu weit entfernt – trug er die silberblinkende Rüstung und warf nur das goldene Morgenlicht zurück, oder war es einer der kupferroten Edlen von AMCO? Mit denen hatte er nichts zu schaffen – er war der Ritter des schwarzen Stahls, und seine Fehde galt dem weißen Metall …

Nein – er hatte sich nicht getäuscht. Das war der weiße Helmbusch, und das war der silberne Kristall im Schild!

Die Sporen – und der schwarze Ritter sprengte aus dem Schutz der Bäume hervor; sein Pferd schien trotz des schweren Panzers über die Heide zu fliegen. Dies war der Tag!

Wie ein berauschender Trank überkam ihn die Freude am Kampf – am langersehnten, seltenen, köstlichen Kampf! Das war kein Turnier mit stumpfen Lanzen, mit Richtern und plaudernden Frauen auf dem Altan – kein Possenspiel, das Streit und Gefahr nur nachäffte – dies war der Tag des Kampfes auf Leben und Tod.

Jetzt hatte der Silberglänzende ihn gesehen. Sein weißer Hengst bäumte sich, daß die schimmernden Schildplatten das rote Sonnenlicht spiegelten – wie blutübergossen sahen sie aus – und dann sprengte er dem Schwarzen entgegen.
Auf Mannesbreite nur stürmten die Rosse aneinander vorbei – Schwerthiebe ließen Funken von Helm und Schild sprühen – dann zügelten sie die Pferde wendend und verhielten.

„Steh – Norbert von UNAL! Dies ist der Tag!” rief der schwarze Ritter.

Der Silberne lachte halblaut auf „Welcher Tag, Rodrick von Newsteel? Dein letzter Tag?”

„Solls gelten, Norbert – mein letzter Tag, oder Deiner!“

Und wieder schossen die Rosse aufeinander zu – klirrten die Schwerter – stob die braune Erde unter den Rufen. Dies war der Kampf seines Lebens – das wußte Rodrick. Alles andere – Fehden und Turniere, Jahre des Kampfes im Sattel und zu Fuß, Jahre der Übung mit Marschalk und Schwertmeister – alles war nur Vorspiel gewesen, Vorbereitung auf dieses Treffen mit Norbert von UNAL.

Wie zwei Sterne im Weltraum über Tausende von Lichtjahren hinweg einander anziehen, Äonen hindurch aufeinander zujagen, bis sie sich finden und zum kreisenden Doppelgestirn vereinen – so waren Rodrick und Norbert am Himmel der Ritterschaft aufgegangen, alle anderen überstrahlend – so hatten sie sich gesucht und Jahre hindurch verfolgt – bis zu diesem Tag, da sie sich fanden und umkreisten im tödlichen Wirbel des Kampfes.

Die Schilde zerspellten und fielen – Hufe traten sie in den Boden – kaum daß die beiden es merkten: es gab nichts mehr auf der Welt außer ihnen und ihrem Kampf.
Immer enger wurden die Kreise, die die beiden umeinander zogen – und dann spürte Rodrick, wie ein Zittern durch den Leib seines Rosses lief. Noch einmal riß er es hoch – wie eine stählerne Schwinge sauste sein Schwert – aber es war den letzte Hieb, den er vom Sattel aus geschlagen hatte: dumpf krachte das Tier in seinem schweren Panzer zu Boden – kaum daß er sich frei von dem stürzenden Leib machen konnte, ehe es zu spät war. “Dein letzter Tag, Rodrick?”

Höhnisch blinkte die rote Sonne auf dem silberweißen Panzer von Norberts Roß – rote Sonne – oder rotes Blut? Hatte der letzte Hieb – ? Da schwang sich auch Norbert aus dem Sattel – ohne einen Blick auf sein verwundetes Roß drang er auf Rodrick ein. Sie standen wieder gleich.

Standen sie gleich ?

Langsam – mit jedem Hieb, mit dem sie die Schwerter umsangen, sicherer werdend – legte sich ein hartes Lächeln um Rodricks Lippen. Mochte Norbert zu Pferde der Bessere sein – er war der Meister des Fußkampfes. Das wußte er – das wußte auch Norbert: und dieses Wissen allein schon kämpfte wie ein unsichtbarer Geharnischter auf Rodricks Seite.

Hier lähmte es einen Muskel und ließ Norberts Fuß straucheln – dort hemmte es einen kühnen Hieb – da zwang es den Gegner in verderbliches Zögern. Und dort beschwingte es einen Arm – stählte eine geschiente Wade – durchströmte alle Fibern mit dem Rausch, der herben Süße der Siegesgewißheit!

Und dann kam der Augenblick, wo das Schwert des Feindes schwieg – wo die silberschimmernde Gestalt zwei taumelnde Schritte rückwärts tat – niedersank – und ihm todwund das Schwertkreuz entgegenreichte.

„Dies ist – mein – letzter – Tag – “ drang matt die Stimme hinter dem silbernen Visier hervor. „Dein – ist – – der – – – Sieg – – – -„

Schwer atmend schob Rodrick sein schwarzes Visier in die Stirn. Mit geneigtem Haupt wandte er sein Schwert und streckte den Griff dem Sterbenden entgegen.
“Dein war der Kampf, Norbert!” sagte er leise. «Nimm mein Schwert für Deines – ich ergebe mich Dir, wie Du Dich mir ergabst – “

Ein letztes Lächeln glitt um die Lippen Norberts, und seine Hand schloß sich um den fremden Schwertgriff:
„Ein – guter – Kampf – “ flüsterte er. „Für U – N – A – – L – – „

Noch einmal suchte sein Auge den weißen Kristall auf dem zerspellten Schild – und brach.

Rodrick drückte ihm die Lider zu und richtete sich langsam auf. Die Sonne stand jetzt schon hoch über der Heide – lang war der Nebel verflogen. Mit tastender Gebärde nahm er den Helm ab.

Ein guter Kampf – “ wiederholte er nachdenklich. „Und – was kommt nun?“
Er spürte, wie ihn der Rausch des Gefechts verließ, und die graue Öde des Nachher aufzusteigen begann. Norbert tot – UNAL geschlagen – und nun ? Er machte ein paar schwerfällige Schritte und ließ sich auf dem Panzer seines toten Rosses nieder.

Den Hubschrauber hörte er erst, als er wenige Meter über ihm war.
Ein sommersprossiger junger Mann streckte den Kopf aus dem Kabinenfenster und gestikulierte mit den Armen.
“- oo – aa – ii – !“ Der schwirrende Lärm des Rotors verschluckte seine Stimme. „Groß – ar – tig! Meinen Glückwunsch, Boss! Seit Jesse James von Coca Cola es mit dem Sheriff von Pepsi ausschoß, hat es keinen solchen Kampf in den USA gegeben!“

Rodrick hob den Kopf. Da drüben kam der silberglänzende Helikopter der UNITED ALUMINIUM heran – aber NEWSTEEL war schneller gewesen. Schon sank der massige Rumpf neben ihm auf die hufdurchpflügte Heide nieder; der junge Mann – im kurzen Wams eines Schildknappen – sprang heraus, ehe er noch richtig gelandet war.

„Wir hatten sie von Anfang an im Video, Boss! Verdammt, was habe ich geflucht, als Ihr Pferd zu Boden ging – und ich hatte Zehntausend auf Sie gewettet!“ Er fuhr sich grinsend durch das langfallende kupferrote Haar.

Rodricks Lippen verzogen sich zu einem bitteren Grinsen.
„Welche Odds ?“ fragte er.

„Eins zu eins Punkt eins – mehr wollten sie Norbert nicht gegen sie geben, die Pfeffersäcke!“ (Pfeffersäcke war eine jener Vokabeln des mittelalterlichen Wortschatzes, die Johnnies Wohlgefallen gefunden hatten).

Aber jetzt drängten sich die anderen aus dem Helikopter.
„Rodrick – eine große Sache!” Der dicke Mann wischte sich den Schweiß von der Stirn, als habe er den Kampf hinter sich.“ Jetzt ist die UNITED ALUMINIUM fertig – fertig, sage ich Ihnen! Norbert war – „

Rodrick hob die Hand.
„Norbert war der fairste Gegner, den ich je traf. Kein Wort gegen sein Haus, für das er starb!“ Er wandte sich unwillig ab und ging auf die Männer aus dem anderen Helikopter zu, der inzwischen gelandet war.

„Zu spät, Doktor – “ sagte er zu dem Mann im weißen Kittel, der sich über Norberts reglose Gestalt beugte. „Es ging auf Leben und Tod – so war es beschworen!“ Er trat zu den anderen und schüttelte ihnen die Hand.

„UNAL verlor heute seinen besten Mann – und Amerika einen der besten. Wären die Pferde nicht gestürzt – dann stünde ich nicht hier!“

Der Dicke hatte sich gefaßt und kam auf die kleine Gruppe zu. Er trat vor den Toten hin und machte eine ehrfurchtsvolle Reverenz.

„Hier ruht ein großer Held – “ sagte er sanft.

Rodrick warf ihm einen langen Blick zu – dann warf er den Kopf in den Nacken und drängte sich durch die eigenen Leute, die ihn umringten und seine Hände schüttelten.

„Ich möchte jetzt ein paar Minuten allein sein – “ murmelte er der weißgekleideten Gestalt zu, die in der Tür des Helikopters stand. Mit einem unmerklichen Lächeln schloß sie die Tür hinter ihm.

Der dicke Mann kam zurück.
„Eine große Sache! “ sagte er, vor Anstrengung keuchend. „Und diese letzten Worte der beiden – ritterlich, ritterlich! Das gibt Public Relations!” Er unterbrach sich und warf der weißgekleideten Gestalt einen schlauen Blick zu. „Ihre Idee, Kleo, was?“

Die dunklen, mandelförmigen Augen wurden eisig.
“Seine Idee, McCollar!“ Und dann, mit einem spöttischen Lächeln: „Sie sollten den ritterlichen Ehrenkodex endlich mal durchlesen, wenn Ihr Chef schon seit fünf Jahren in dieser Masche macht! Das glänzendste Beispiel aus der Historie ist die Sporenschlacht bei Guinegate, wo Bajard von Burgund mit dem letzten Lord Gloster kämpfte, ihn besiegte und ihm trotzdem sein Schwert gab … „

„Also Kleo – woher Sie das alles so wissen!” McCollar schüttelte bewundernd den Kopf. „Ich hab es schon lang aufgegeben: Gestern waren es die Cowboys, heute sind es die Ritter, morgen spielen sie vielleicht Caesar und Antonius – “ Er unterbrach sich. “Übrigens – wie sind Sie an die Option für Kleopatra gekommen? Ich dachte – „

„Hört, Ihr Mannen – McCollar dachte!“ Johnnies grinsendes Gesicht tauchte neben seiner Schulter auf. „Wollen Sie das in Zukunft öfter tun?“

Der Dicke lachte gutgelaunt. „Nur mit Denkern baut man kein Unternehmen, Johnnie – es muß auch noch ein paar geben, die was tun! Aber nun schießen Sie los, Kleo!“

Die üppigen dunkelroten Lippen verzogen sich zu einem Lächeln.
„Es war einfach, McCollar. Die Rechte an der historischen Gestalt der Kleopatra hat die Muslimische Union – genau wie auch an Nofretete und den übrigen alten Pharaonen – weil sie ja in Ägypten lebten; aber natürlich war den Herren dabei nie ganz wohl, weil ja die alten Ägypter nicht an Allah glaubten. Deshalb waren diese Rollen bis vor kurzem gesperrt.

Aber nachdem all dieses Geschrei über den neuen Kreuzzug losgegangen ist, machte die Union eine große Geste – und die Muftis und Hadschis von der Gesandtschaft haben mir die Kleopatra geradezu aufgedrängt. Wahrscheinlich hoffen sie, eine gute Dosis altes Ägypten direkt auf Rodricks Burg sei eine Art stumme Demonstration, daß sich die amerikanische Ritterschaft nicht in die Kreuzzugspläne verwickeln läßt. Steht mir ganz gut, was?“ Kleo drehte sich einmal um die eigene Achse, daß die langen Locken der schwarzen Wollperücke flogen.

Aber jetzt muß ich zu Rodrick!“

Der Dicke sah der Gestalt kopfschüttelnd nach, als sie durch die Kabinentür ver-schwand. Johnnie tippte ihn auf die Schulter.

„McCollar – warum besorgen Sie sich eigentlich nicht die Rolle von Sancho Pansa? Dann kann der Boss den edlen Ritter Don Quixote machen – und Sie reiten als Knappe auf dem Esel hinterher!“

„Gute Idee – und Du übernimmst die Rolle des Esels, was?“ feixte McCollar.

„Ich kann sie nicht mehr sehen – diese ganzen Kreaturen!“ sagte Rodrick im gleichen Augenblick in der Kabine. “Eben – im Kampf – da war ich glücklich, Kleo; ein paar Stunden lang. Und dann kamen sie – diese weichen, klebrigen, dummen Knechte – „

„Denen Du immerhin verdankst, daß NEWSTEEL mit Profit arbeitet!“ Kleo lächelte. „Rodrick – ich kann verstehen, wie Dir zumute ist; aber wir müssen jetzt die Richtlinien für die Publicity besprechen!“

Rodrick nickte. „Hast recht, Kleo!“ Er schenkte sich einen Whisky ein und stürzte ihn herunter. „Hatten die alten Ritter eigentlich auch schon Whisky?“ fragte er und wischte sich den Mund.

Kleo schüttelte den Kopf. „Branntwein und Schießpulver wurden etwa gleichzeitig populär – und das Pulver war das Ende der Ritterschaft.“

“Also wieder mal nicht stilecht!“ Rodrick grinste bitter. „Übrigens – stilecht: Kleopatra paßt gut zu Dir!“

„Danke für das Kompliment. Ich hatte den Chevalier d‘ Eon wirklich satt – diese albernen Duelle! Ich hab die letzten 5 Forderungen einfach nicht mehr beantwortet -„

„Aber Kleopatra hat sich selbst umgebracht – stört Dich das nicht?”

Wieder ein Lächeln: „Ich werde früh genug wechseln, Rodrick! Es gibt noch eine Menge interessanter Frauenrollen in der Weltgeschichte – „

„Weltgeschichte!“ Rodrick sprang auf. „Zeig her – was hast Du vorbereitet?“

Hier!“ Kleo schwenkte ein Manuskript. „Wir stellen alles auf den Slogan ab: Ein fairer Kampf – ein fairer Sieg!
Das paßt einerseits auf Dich und Norbert – zum anderen aufs Newsteel und Aluminium: Erst waren die Leichtmetalle dem Stahl überlegen – dann kam die Superstrukturtheorie und Feinkristallkontrolle – und so wurde der Stahl dem Leichtmetall nach dem Gewichts-Festigkeits-Verhältnis wieder gleichwertig – und am Ende überlegen. Alles zum Besten des Verbrauchers, der amerikanischen Wirtschaft, der Menschheit und so weiter. Okeh? „

„Nicht schlecht!“ Rodrick rieb sich die Wange.

„In der ersten Woche legen wir den Schwerpunkt ganz auf Aluminium – wo es dem Stahl überlegen ist. Große Geste – und Analogie zu Deinen letzten Worten im Kampf. Aber davon sprechen wir nicht – das soll sich die Öffentlichkeit selbst zusammenreimen.
In der zweiten Woche kommen wir zu den Gebieten, wo die neuen Stähle dem Leichtmetall gleichwertig sind – dann zu denen, wo sie überlegen sind – und am Ende nehmen wir die Gebiete der ersten Woche und beweisen, daß inzwischen auch da der Stahl das Aluminium überrundet hat. Das kommt genau zu der Zeit, wo man sich von Eurem ganzen Kampf nur noch an Deinen Sieg erinnert. – “

“Kleo!“ Rodrick schlug mit der Faust auf den Tisch. „Das ist – niederträchtig! „

„Aber wirkungsvoll. Wir können natürlich auch darauf verzichten, wenn inzwischen bereits eine Fusion der UNITED ALUMINIUM mit NEWSTEEL – „
„Fusion ?!“

„Es wäre eine Idee – wenn man sich überlegt, daß die Kleinaktionare jetzt nach Norberts Tod ihre Aktien abstoßen werden und eine Majorität leicht zusammenzukaufen wäre. Die UNITED steht sowieso wacklig, und wenn man dem Vorstand im richtigen Augenblick – “

„Langsam, Kleo! Ich habe diese Seite noch überhaupt nicht durchdacht!“

Kleo nickte verständnisvoll. „Du hattest anderes zu tun. Aber wir könnten die Überschüße der NEWSTEEL gegen die Verluste der UNITED aufrechnen – sehr gut für die Steuer – und die Wirkung auf die Öffentlichkeit wäre bestimmt positiv. Übrigens würdest Du damit achtundfünfzig Prozent der Metallproduktion in den USA kontrollieren. McCollar könnte – „

Wie auf ein Stichwort erschien der Dicke in der Tür.
„Entschuldige, Rodrick – aber die Barden! Ich kann sie nicht länger warten lassen!“

Drei Männer in wallenden Gewändern traten ein und verneigten sich.
„Ritter Rodrick von Newsteel – wir entbieten Dir unseren Gruß. Widerhallen sollen Video und Radio vom Ruhm Deines Kampfes … „

„Ja, ja!“ Rodrick nickte geistesabwesend. „Achtundfünfzig Prozent – McCollar – ich möchte, daß sie einmal prüfen … “

„Ritter Rodrick?“ wiederholte der Barde.

„Sprecht mit Kleo!“ Der Chef von NEWSTEEL zog McCollar in den Nebenraum.

„Vieledle Fraue – “ begann der Barde von neuem.

„Danke, danke – nehmt mir’s nicht übel, Jungens, aber macht schnell. Ihr habt doch die Gesänge schon vorbereitet?“

„Wir hatten – “ begann der zweite Barde feierlich, „ein Epos für den Fall des Sieges und eines für den der Niederlage vorbereitet – „

„Werden beide honoriert. Die Details des Kampfes müßt Ihr natürlich nach den Video-Aufnahmen noch ausfüllen – und jetzt zeigt mal den Schluß!” Kleo runzelte die Stirn. „Also – das geht so noch nicht! Paßt auf, Jungens: Norbert ist in keinem Falle negativ zu schildern – noch nicht mal sein Schwert blinkt ‚tückisch’ – und kein Wort von einem ‘Triumph’ Rodricks! Er ist – wartet mal – er trifft den ebenbürtigen Gegner – den, der ihm hätte Freund sein können, wenn er nicht Feind gewesen wäre – und in der letzten Sekunde sind sie wie Freunde – irgendwas mit – entschuldigt mal -„

Kleo öffnete die Tür zur Nebenkabine halb. „Rodrick – können wir in die Epen was von ‘Vermächtnis’ nehmen? Wie? Ja, natürlich ganz unbestimmt – aber es bereitet den Boden vor!”

Strahlend wandte sich die Königin beider Ägypten den Barden wieder zu. „Also – mit dem letzten brechenden Blick auf das UNAL- Firmenzeichen auf seinem Schild hat Norbert von UNAL Rodrick eine Art Vermächtnis hinterlassen – versteht ihr, Vermächtnis – aber diesen Gedanken nicht zu sehr herausstreichen – nur so zwischen den Zeilen, nicht wahr?!“

„Okeh – “ nickten die Barden. „Wir schicken die Entwürfe noch einmal vorbei, wenn sie fertig sind!“ Sie verneigten sich und verschwanden, um das Video-Band des Kampfes zu studieren.

cCollar kam wieder zum Vorschein, rot und schwitzend.
„Ihre Idee, Kleo? Große Sache das – wir sacken die UNITED ein! Das wird ein Coup! Johnnie – Jooohnnie – !“

Kleo sah ihm mit nachdenklichem Lächeln nach.
“Und was kommt nun?“

Die Frage stand im Raum, als habe keiner sie gesprochen.

Kleo wandte sich halb zu Rodrick um.
„Eine neue Fehde, Rodrick? Wenn Du mich fragst – es steckt nichts mehr drin. Weder ideell, noch wirtschaftlich. Norbert war der letzte Ritter von Format. Natürlich könntest Du noch Titanium Consolidated nehmen – soviel ich weiß, haben sie eine Wikinger-Siedlung an der Westküste – oder American Copper – die sind schon im Zeitalter des Schießpulvers: Musketen und Feuerschlangen – es gäbe vielleicht eine nette Belagerung der Burg – sehr eindrucksvoll im Video – und mit einem Newsteel-Panzer wärst Du praktisch kugelfest – „

„Kugelfest!!!“ Rodrick schüttelte den Kopf. „Verstehst Du mich denn auch nicht, Kleo? Mir geht es nicht um den Sieg – mir geht es um den Kampf! Mit einem kugelfesten Panzer würde mir das genau so wenig Freude machen wie eine Jagd auf Stubenfliegen – „

„Und Rodrick von NEWSTEEL ohne Newsteel-Panzer ist doch werblich eine Unmöglichkeit!“ Kleo lächelte. „Ich sage Dir ja, Rodrick – es ist nichts mehr drin … „

„Und – die Kreuzzüge?“ sagte Rodrick nachdenklich.

Kleos Antlitz wurde hart. „Wenn Du etwas auf meine Meinung gibst – dann laß die Finger davon, Rodrick. Willst Du den ganzen Export nach Afrika gefährden? Diese Kreuzzüge sind eine ganz gefährliche Kateridee der Pfaffen in Südamerika, die sich um ihre eigenen Dinge kümmern sollten – man spricht schon davon, daß es in Mexiko wieder Menschenopfer gibt: als Ketzerverbrennungen getarnt natürlich, aber auf den alten Tempelpyramiden!
Und außerdem – wie willst Du das Heilige Grab denn befreien? Mit Schwert und Lanze gegen Maschinenpistolen? Und ohne Luftaufklärung ?“

Rodrick holte tief Atem und schlug mit der Faust auf den Tisch. Seine Rüstung klirrte.
„Das wäre noch etwas, Kleo – ein Landungsunternehmen wie vor hundert Jahren im Pazifik oder in Frankreich – Landungsboote, Fallschirmtruppen, Sturzkampfbomber, Raketen – und ich mitten drin – ach, Kleo, das wäre herrlich – „

Er brach ab und lachte bitter auf.
„Aber was würde PAX dazu sagen?!“

2 D i e H e l d i n

Das spinnwebstaubige Dunkel des Mngon-kang war erfüllt vom Aashauch verwesender Tierleiber und dem scharfen Geruch ranziger Butter. Als formlose Klumpen, deren verrottetes Fleisch in Stücken zu Boden fiel, hingen die Kadaver der glückbringenden Tiere – mit Stroh ausgestopft – von der Decke nieder; die schmierigglänzende Butter aber war – gefärbt und filigranfein zu phantastischen Pyramiden modelliert – als Opfergabe vor den Bildern der Schutzgötter aufgetürmt, die totenkopfbekränzt und starräugig auf sie niedergrinsten.
Helene Werner fuhr sich mit der Hand über die Augen, als könne sie so das Bild ihrer Umgebung auslöschen; dann glitt die Hand nach unten und zerrte den grauen Stoff der Uniformbluse durch das Koppel, daß sich das Tuch mit den roten Ordensbändern über der Brust straffte.

„Ich hatte erwartet, Genosse Tsongpon,“ sagte sie scharf, „hier eine Versuchsstation vor-zufinden; anstattdessen finde ich ein Kloster voll schmutziger, abergläubischer Mönche! Ich hatte erwartet, daß unsere Freiwilligen hier die Kältekontrolle erlernen würden – „

Der Lama hob unterbrechend die knochige Hand. “Und beherrschen sie diese Fähigkeit jetzt nicht, Genossin Kommissarin?“

Helene Werner stampfte unwillig mit dem Fuß auf.
„Die Genossen, die ideologisch zuverlässig sind, haben nicht die geringsten Fortschritte gemacht – und die anderen, bei denen Euer Training Erfolg hatte, haben alle Grundsätze des Kombinats vergessen, murmeln idiotische Zauberformeln – ‘om mani padme hum’ – und stieren stundenlang auf widerliche Götzenbilder!“

Das Antlitz des Tibetaners blieb unbewegt.
“Es mag sein, Genossin Kommissarin, daß Ihre Gelehrten in den Schriften des großen Mi-la-ras-pa nur jene Stelle gelesen haben, in der er davon berichtet, wie er die Fähigkeit gewann, Wärme in seinem eigenen Körper zu erzeugen und – nur mit dünnem Baumwolltuch bekleidet – durch die Gletscher unserer Berge zu wandern; es mag sein, daß sie übersehen haben, was er dabei sang:
Vaterland, Heim, die Felder des Vaters
sind Dinge aus der Welt des Trugs –
nehme sie hin, wer da will:
Ich, der Einsiedler, bin auf der Suche
nach der Befreiung … „

“Befreiung!“ wiederholte die Kommissarin aufgebracht. „Nennt Ihr es Befreiung, Sklaven des Aberglaubens und alberner Götzen zu werden? “

Wieder hob der Lama die Hand „Es ist gefährlich, Genossin Kommissarin, unsere Götter in ihrem Tempel zu lästern – es könnte uns allen Unglück bringen!“

„Aberglaube und Unsinn! Die Menschen des Kombinats arbeiten nicht für Götter und Phantasmen, sondern für diese Welt und eine bessere Zukunft – für sie sind Vaterland, Heim und die Felder des Vaters kein Trug, sondern der Inhalt ihres Lebens!“

„Sie sagen es, Genossin!“ nickte der Lama gleichmütig. „So denkt jeder zuverlässige Genosse – und deshalb erlernt er auch die Kältekontrolle nicht.“

Helene Werner trat einen Schritt auf den Tibetaner zu. „Es ist ein Versagen Ihrer Trainingsmethoden, Genosse Tsongpon! Sie verstehen es einfach nicht, aus den alten Meditationen nur die Teile auszuwählen, die sich auf die psychophysische Kontrolle des Organismus beziehen – sondern Sie schleppen in Ihrer Unfähigkeit den ganzen alten Unrat des Aberglaubens mit!“ Sie wandte sich aufgebracht ab. „Ich werde diese Texte einer genauen semantischen Analyse unterziehen lassen! Es muß möglich sein, ein kennzeichnendes Merkmal zu finden, das die wirklich sinnvollen Teile der Meditationen – die, die sich auf den menschlichen Körper beziehen – von den sinnlosen übernatürlichen Faseleien unterscheidet!“

Der Lama wiegte den Kopf.
„Genossin – Meditation ist mehr, als nur das Lesen und Sprechen eines Textes: Es ist Versenkung – Eindringen – in Dinge, die jenseits des Wortes liegen. Es würde mich schmerzen, wenn Sie durch diesen Irrtum einen Mißerfolg erlitten … „

Helene Werner wandte ihm noch immer den Rücken zu – doch ihr Kopf war nicht mehr herrisch zurückgeworfen, sondern gebeugt. Mit veränderter Stimme sagte sie nach einer Weile:
„Ich darf keinen Mißerfolg haben, Tsongpon. Ich muß immer recht behalten. Es ist meine einzige Waffe.
Ich bin eine Frau, Tsongpon – in der Theorie macht das zwar nicht den geringsten Unterschied, aber in der Wirklichkeit – einen sehr großen.
Ich bin eine häßliche Frau, Tsongpon – und deshalb habe ich noch nicht einmal die Möglichkeit, diesen Unterschied auf eine – “ sie zögerte ein wenig, “ eine andere Weise auszugleichen.
Wenn ich heute trotzdem Kommissarin und Heldin des Kombinats heiße – dann nur, weil ich immer recht gehabt habe, als die anderen unrecht hatten, und ich muß auch diesmal recht behalten – ich muß auch diesmal Erfolg haben.
Alle anderen Versuche sind fehlgeschlagen: Die Zuchtversuche der biologischen Sektion haben nichts geliefert, als Mißgeburten – die Experimente mit künstlicher Ernährung haben nur ein paar neue Mangelkrankheiten gezeitigt – die Physiologen und Chirurgen haben genau so wenig erreicht: Die einzige Möglichkeit, unsere Siedler für die Temperaturen der Antarktis unempfindlich zu machen, ist das Geheimnis Mi-la-ras-pas.
Ihr müßt mir helfen, Tsongpon!“

Das Antlitz des Lamas war milder geworden.
„Ich will Dir helfen, Helene – “ sagte er leise und legte ihr die Hand auf die Schulter. „Du weißt, daß ich Dir helfen will – nicht wahr? Nützen diese Meditationen über den Fünfjahresplan ein wenig?“

Helene Werner nickte – verlegen, wie ein Schulmädchen. „Sie helfen – ein wenig! Aber es ist so schwer, die Bilder hinter den nüchternen Zahlen zu sehen – wirklich zu sehen, verstehst Du? Es geht mir oft dabei, wie früher als Kind, wenn ich vor dem Einschlafen Schafe zählen wollte – ich sah alles mögliche, nur keine Schafe!“ Sie lächelte traurig. „Eure alten Gebete sind voller Bilder, Tsongpon – das macht es sicher leichter!“

“Versuch es weiter, Helene. Wir werden es hier auch weiter versuchen. Vielleicht kann ich es verantworten, auf einen Teil der alten Übungen zu verzichten – vielleicht hilft auch Hypnose ein wenig – „

Die Kommissarin nickte wieder. „Danke, Tsongpon! Und – “ sie wurde ein wenig rot, „vergiß, was ich vorhin sagte – ich weiß, Ihr tut Euer bestes!“

Der Lama lächelte.
„Ich hatte es längst vergessen, Helene. Ihr Abendländer habt es so schwer – für Euch gibt es nur diese Welt und nicht jenseits davon; woher sollt Ihr da die Kraft nehmen für Eure vielen Taten und Pläne? Wir dummen abergläubischen Tibetaner haben es leichter – so viel Kraft aus dem Unsichtbaren, und so wenig Pläne!“ Er nahm ihr Gesicht zwischen die knochigen Hände und sah sie scharf an. „Und nun vergiß dieses Gespräch! Du hast den Genossen Tsongpon zurechtgewiesen – er war zerknirscht und wird sich in Zukunft mehr anstrengen!“

„Sie werden sich mehr anstrengen, Genosse Tsongpon! “ rief die Kommissarin. „Verstanden?! “

„Ich verstehe Sie sehr gut, Genossin Kommissarin!“
Der Lama verneigte sich und wandte sich in das Dunkel der Kapelle. Nur die starren Augen der unzähligen Götter sahen das unmerkliche Lächeln, das um seine dünnen Lippen spielte.

Helene Werner holte tief Atem. Es war sicher gut, diesen Tibetaner schärfer anzufassen! Aber man durfte nicht unklug sein. Dieses Kloster mit all seinem Hokuspokus aufzulösen und das Kältekontroll-Training in wissenschaftlich geleiteten Versuchslagern des Kombinats durchzuführen – dazu war die Zeit erst gekommen, wenn man die Methode beherrschte. Heute war man noch auf diese Mönche angewiesen …

Allerdings – man durfte nicht zulassen, daß ihr mystischer Unsinn überhandnahm. Vor allem ging es darum, die Freiwilligen wieder zur Vernunft zu bringen, und konnte das schwer sein? Sich freiwillig für diese Versuche zu melden – das hieß doch, begeistert für die Ziele und Projekte des Kombinats zu sein! Wenn in dieser Atmosphäre von Gebeten, Götzen und Geistern, unter dem Einfluß von Entbehrungen und Übungen mancher auf absonderliche Schrullen verfiel – die Erinnerung an die Grundsätze des Kombinats, an das Bekenntnis jedes zuverlässigen Genossen würde diese Träumereien wegfegen, wie ein erfrischender Wind den muffigen Butter- und Aasgeruch des Mngon-kang!

Wieder straffte sie mit beiden Händen das Tuch ihrer Uniformbluse. Sie würde mit diesen Männern reden!

Eine rote, goldbeschlagene Tür – mit weißen Totenköpfen besetzt – führte vom Mngon-kang, der Kapelle der Schutzgötter, in das große Versammlungshaus des Klosters. Totenköpfe – Totenbeine – Kadaver – Gerippe: Dieses ganze Kloster war wie ein Totenhaus! Und dennoch schienen die Mönche den Tod so ganz anders zu sehen als die Menschen des Kombinats: Nicht als ein Ende, sondern als einen Anfang … hatte sie nicht sogar Bilder zweier Skelette in lüsterner Umarmung gesehen ?

Die Kommissarin schüttelte den Kopf, als müsse sie sich von Spinnweben freimachen – oder von unwillkommenen Gedanken? Dumpf fiel die Tür des Mngon-kang hinter ihr zu.

Sie stand zwischen den roten Säulen des ‚ Du-kang – des Versammlungshauses. Grobgezimmerte Holzbänke zogen sich an den Längsseiten des Mittelschiffes entlang – überragt von vergoldeten, staubigen Statuen lamaistischer Heiliger und Äbte. Jetzt öffnete sich eine Tür an der anderen Stirnseite – ein Trapa, ein niederer Mönch, erschien mit einem dampfenden Teekessel. Als er Helene erblickte, machte er einen grotesken Versuch, nach der Art des Kombinats zu grüßen.
„Genossin Kommissarin – die Freiwilligen kommen jetzt hierher: Es gibt Tee und Tsampa!“ meldete er eifrig.

„Das ist ausgezeichnet!“ Helene Werner rückte ihr Koppel zurecht. „Meditieren sie dabei?“

Der Trapa schüttelte den Kopf. „Sie essen und trinken!“ erläuterte er nocheinmal.

„Gut – dann werde ich während dieser Zeit eine neue Art der Meditation abhalten: Eine Meditation über die Grundsätze des Kombinats!“

Sie sah sich um. Rechts und links von ihr schlurften die Männer herein und hockten sich auf den Bänken nieder, kleine Holznäpfe in der Hand, die der umhergehende Trapa mit dampfendem Tee füllte; aber sie schienen es kaum zu bemerken. Ihre Gestalten waren ausgemergelt, die Gesichter knochig und eingefallen – aber in ihren Augen war ein fremdartiges Licht; ihre Uniformen waren die schlichten, stumpfgrauen des Kombinats – aber sie sahen nicht mehr aus wie Männer des Kombinats …

„Genossen!“ begann Helene Werner mit erhobener Stimme.
„Genossen! Ihr alle wißt, welch große Aufgabe wir im Rahmen des Planes zu erfüllen haben. Ihr alle habt Euch freiwillig gemeldet, um an dieser großen Aufgabe mitzuarbeiten, und ich freue mich, daß Ihr als Erste einen Erfolg auf diesem Wege erringen konntet!“

Der Kessel klapperte, die Näpfe dampften – ab und zu langte einer der Männer in seinen Beutel und holte einen Brocken Tsampa hervor; der Trapa ging jetzt auf die andere Seite des Raumes hinüber, um die dort Sitzenden zu bedienen; aber sonst blieb alles still. Warum sagten sie denn nichts?

Genossen!“ begann sie wieder. „Ihr habt große Opfer bringen müssen, um diesen Erfolg zu erringen. Ich sehe, daß Ihr Entbehrungen erlitten habt – ich weiß, daß Ihr ein hartes Training auf Euch nehmen mußtet; aber es ist der Mühe wert gewesen. Ihr habt als erste das Geheimnis der Kältekontrolle zu beherrschen gelernt!“

Stille. Der Trapa schien mit dem Einschenken fertig zu sein und verschwand durch eine Nebentür – ab und zu hob einer der Männer seinen Napf und schlürfte den heißen Tee. Ich hätte mir auch eine Tasse geben lassen sollen, dachte Helene Werner – es ist kalt hier. Sie fröstelte.
„Genossen! Wißt Ihr, was das für unser Kombinat bedeutet?“

Einer der Männer wandte ihr das Gesicht zu. Er lächelte ein wenig. Seine Lippen bewegten sich.
„Om – mani – padme – hum – “ murmelte er.

Helene Werner warf ihm einen scharfen Blick zu.
„Wißt Ihr, was das für die Zukunft bedeutet? Wißt Ihr, wieviel neues Land die Kältekontrolle unseren Siedlern erschließen wird?
Drei Millionen Quadratkilometer! „

Der Mann lächelte noch immer. „Om – mani – padme – hum – “ Man konnte die Worte kaum verstehen – nur die Lippen bewegten sich in gleichförmigem, endlosem Rhythmus.

„Genossen! Drei Millionen Quadratkilometer habt Ihr unseren Siedlern neu erschlossen – Ihr und Eure Genossen, die ihr Leben für dieses Ziel opferten! Macht Euch das nicht stolz? Fühlt Ihr nicht, was das bedeutet?”

„Om – “ murmelten die Lippen – “ – hum – “ — “ – om – “ — “ – hum – “

„Drei Millionen Quadratkilometer- “ rief Helene Werner,”bedeuten bei einer Besiedlungsdichte von dreißig Einwohnern pro Quadratkilometer – das ist der Durchschnitt im Gebiet der Union – neunzig Millionen Menschen, Genossen! Neunzig Millionen habt Ihr den Weg geöffnet – den Weg in die Antarktis – den Weg zu neuen Städten, neuen Siedlungen, neuen Dörfern!”

Sie holte Atem. ‘Vaterland, Heim, die Felder des Vaters – sind Dinge aus der Welt des Trugs – ‚ schien eine Stimme in ihrem Kopf zu sprechen; sie machte eine unwillige Bewegung.
„Der Plan sieht vor, daß wir bis zum Ende des laufenden Jahrfünfts bereits drei Städte errichtet und besiedelt haben werden – drei Städte mit zusammen einer Million Einwohnern. Ihr werdet zu den ersten gehören, die ihren Fuß in diese Städte setzen -„

‘ – nehme sie hin, wer da will – ‚ Das war alles falsch, was sie da sprach – das war nicht der Weg, diese Männer aus ihrer Lethargie aufzurütteln!
„Aber – “ begann sie von neuem, „Eure Aufgabe ist noch nicht beendet damit, daß Ihr für Euch selbst die Kältekontrolle beherrschen gelernt habt – nun tritt erst die zweite, die größere Aufgabe an Euch heran: Euren Genossen, die ins neue Land, in die neuen Städte hinausziehen werden, Euer Wissen zu übermitteln – ihnen zu helfen -„

War das Murmeln jetzt verstummt? Horchte der Mann jetzt? Seine Lippen bewegten sich nicht mehr …
“Freiwillig habt Ihr Euch gemeldet, Genossen – und damit bewiesen, daß Ihr selbst Euer Leben im Dienst unseres Plans einsetzen wollt, wenn es nötig ist. Was Ihr jetzt tun müßt, ist viel leichter – leichter sogar als das, was Ihr hinter Euch habt: Schwer war es, einen gestählten Willen brauchte es, Euren Körper unter die Gewalt des Geistes zu zwingen, damit er die Kälte ertragen lernte – was jetzt folgt, dazu braucht Ihr nichts Neues zu lernen, Euch nicht zu überwinden: Das sind die alten Grundsätze des Kombinats – der Gehorsam, die Pflichterfüllung, der Dienst am Genossen neben Euch!
Von Euch hängt es jetzt ab, ob wir unser Soll erfüllen werden – von Euch hängt es jetzt ab, ob der große Plan Wirklichkeit wird – von Euch hängt es ab, ob Eure Genossen eine bessere Zukunft erleben werden!“

Stille. Kein Murmeln mehr? Kein “ – om – – hum – „? Wieder holte Helene Werner tief Atem.
„Genossen – denkt an die Zukunft. Denkt an die Männer und Frauen, die ihre Zukunft dort in den Eiswüsten der Antarktis suchen – die dort leben werden, die dort ein Haus bauen, die dort heiraten werden – denkt an die Kinder, die dort zur Welt kommen werden, die heranwachsen und die nichts anderes kennen werden als Eis und Schnee und Kälte – die lernen müssen, dort zu leben. Denkt an die Kinder, Genossen, und ihr werdet verstehen, daß sie Euch brauchen – daß Ihr sie lehren müßt, ihre kleinen Körper so zu stählen gegen die tödliche Kälte, wie ihr es jetzt könnt – daß Ihr uns helfen müßt, ihnen den Weg zu ebnen – daß sie es leichter lernen sollen, als Ihr – und Ihr werdet verstehen, daß Ihr jetzt sprechen müßt, daß Ihr nicht mehr schweigen könnt, wie bisher, daß Ihr mir helfen müßt, Genossen – “

Ein Napf klapperte zu Boden. Eine hockende Gestalt sackte in sich zusammen, glitt mit verrenkten Gliedern von der gezimmerten Bank und schlug mit dumpfem Laut auf die Bretter.

Helene Werner machte einen hilflosen Schritt auf die Gestalt zu – und blieb dann reglos stehen. Von den Bänken starrten sie glasigglänzende Augen an – aber das Licht in ihnen war erloschen.

Und Helene Werner – Heldin des Kombinats, Koordinatorin des Siedlungsprojektes Antarktis, korrespondierendes Mitglied der Sozialistischen Akademie der Wissenschaften, Trägerin des Ordens „Rotes Uran“ und der Lenin-Medaille für fortschrittliche Organisation – Helene Werner war wieder ein kleines Mädchen, das ein Kamel aus braunen Kastanien gemacht hatte. Das Kamel war so lustig – es hatte ein grosses Maul, das Weiß im glänzenden Braun der Frucht klaffte – sein Schwanz war ein weißer Bindfaden, der hin und her baumelte: Sie mußte es doch Mutti und Vati zeigen – vielleicht lachten sie dann auch? Sie lachten so selten …

Und dann war sie in das Zimmer gekommen – ganz leise, und mit hochroter Backen vom Eifer des Spiels – und da hatten sie gesessen: Ganz still – nebeneinander – und hatten sie angeschaut und doch nicht angeschaut – und nicht geantwortet – und sie hatte Mutti am Arm gefaßt – und der Arm war so steif und kalt – so kalt –

Sie schrie. Schrie wie ein Tier – wie sie damals geschrien hatte. Und die Männer auf den Bänken starrten sie mit glasigen Augen an – von den Wänden und Türen grinsten die Totenschädel –
„Tsongpon!“ schrie sie. Und dann stürzte sie aus dem Raum – unendlich lang war er – rechts und links saßen die stummen Männer mit den starren Augen – und sie mußte hindurch – rechts und links – vor ihr die Tür mit den weißen Schädeln – und rechts und links die Toten – „T s o n g p o n !“

Die Türflügel öffneten sich – ein Luftzug ließ die Flammen der Butterlampen flackern – und dort stand er: Zwischen den zehntausend grinsenden Dämonen und den wachsbleichen Gesichtern der Toten – ruhig und lächelnd wie der Buddha Amitabha inmitten der fratzenhaften Gestalten des Totenreichs –
“Tsongpon!“ stöhnte Helene Werner und klammerte sich an seine hohe, hagere Gestalt – „Tsongpon – sie sind alle – t o t !“

Eine knochige Hand legte sich auf ihren Kopf – und das Grauen der letzten Minuten löste sich in einem wilden, hemmungslosen Schluchzen.
Unermeßlich lange Zeit schien vergangen, da hob der Lama an, halblaut zu sprechen.
„Ausgeschieden – “ tönte seine Stimme durch den totenstillen Raum, „sind ihre Seelen aus dem Strudel des Lebens.

Siebenmal sieben Tage werden sie verharren im Reich jenseits des Grabes.
Umhüllen wird sie das unendlich klare, farblose Licht – mögen sie es erkennen und austreten aus dem Kreislauf des Werdens, der Täuschung und des Leids – oder sie werden, getäuscht von Schemen und Dämonen, wieder eingehen in die Welt der Gestaltungen.
Wenig genug an Wissen war es, das wir ihnen mitgeben konnten – wenige Schritte nur haben wir sie auf dem Weg der Erkenntnis geleitet – möge der unermeßliche Glanz Buddhas ihnen den rechten Pfad weisen.
Siebenmal sieben Tage jenseits des Grabes – und sie werden in die Welt des Scheins zurückkehren – oder eingehen in das Nirvana jenseits der Täuschungen. Was erschreckt Dich daran, Helene?“

Sie umfing mit einem Blick die entrückten Gesichter der Toten und das lächelnde Antlitz des Tibetaners.
„Es – “ sie zögerte und erwiderte unsicher sein Lächeln, “ es – erschreckt mich nicht mehr. Nicht so, wie Du es sagst. Es – es klingt fast wie eine Verheißung, nicht wahr?“

Sie fuhr sich mit der Hand über die Augen, als schäme sie sich der Tränen. Doch dann schien sie ein neuer Gedanke zu erfassen:
“Aber – weshalb sind sie – “ wieder zögerte sie, “ – gestorben?“

Das Antlitz Tsongpons wurde ernst.
„Ich habe Dich gewarnt, Helene. Es ist gefährlich, die Schutzgötter zu beleidigen – auch wenn es in Verblendung geschieht. Ich ahnte, daß Unglück über uns kommen würde – Dich hat es verschont, aber jene … „

Helenes Hände krampften sich um den Arm des Lamas.
„Die – Götter?“ fragte sie mit schreckhaft geweiteten Augen. „Eure Götter haben sie getötet?!“

Starr blickten die Statuen und Bilder der Schutzgötter aus dem Düster des Mngon-kang. Der Lama Tsongpon legte den Arm um Helenes Schulter; wieder stahl sich ein unmerkliches Lächeln um seine Lippen.

„Nicht die Götter, Helene – der Tee. Nicht Zauber – sondern Gift. Aber vielleicht hätte ich es verhindern können, wenn die Götter mir zur Seite gestanden hätten … „
Helene machte sich abrupt aus Tsonpons Arm frei.
„Sabotage?!” fragte sie scharf.

Tsongpons Lächeln wurde um eine Spur stärker.
“Diese Versuche sind sehr wichtig für das Kombinat, nicht wahr? Entscheidend wichtig für Eure Siedlungsprojekte in der Antarktis, wenn ich Dich recht verstanden habe?
Und diese Männer waren schon ein ganzes Stück weit auf dem Weg zu Eurem Ziel, nicht wahr? So weit, daß es manchen beunruhigen konnte, der diesem Siedlungsprojekt keinen Erfolg gönnte – ja?
Und gibt es nicht irgendwo auf der Welt Menschen, die so denken?”

Helene Werner richtete sich auf. Ihre Hände fuhren zum Saum der Uniformbluse und zerrten daran.
„Amerika!“ sagte sie mehr zu sich selbst. „Die Kapitalisten in den USA – und ihre Agenten!“ Sie trat auf Tsongpon zu. „Was weißt Du davon?“

Der Lama hob die Hand.
„Wenig genug, Helene. Aber ich weiß, daß die Gedanken eines unserer niederen Mönche in den letzten Monaten seltsame Wege gegangen sind – daß er seltsame Wanderungen machte – und seltsame Menschen traf. Wenn es Dir nützt, werde ich seine Gedanken gründlicher erforschen … „

Helene Werner starrte die Bilder an.
„Amerikanische Sabotage!“ Ihre Fäuste ballten sich. „Bezahlte, bestochene Agenten! Gift und Meuchelmord – nur um uns aufzuhalten, nur um uns dieses karge bißchen Land am Südpol nicht zu gönnen, während sie im Überfluß ersticken! Oh, ich möchte – – – „

Der Mngon-kang versank. Helene Werner sah schlanke, silberne Raketen – feurige Säulen, die sie in den Himmel emporstemmten – sah feingefügte, unerbittliche Me-chanismen und Schaltungen – stumpfgraue Uranhalbkugeln, die sich zusammenschoben – sah die Paläste und Städte des Feindes tief unten liegen – sah plötzlich Glut und violettes Feuer aufblühen – und die langsam, feierlich in die Stratosphäre aufsteigenden Pilzwolken – die Mahnmale der Vergeltung und der Gerechtigkeit …

Wie sangen die Mönche in ihren alten Kulttänzen?
„Oh Vernichter der Feinde, die schuldig sind der zehn Arten von Sünden! Oh Fürst der Wächter dieses edlen Landes! Schützer des Glaubens, oh Mngon-po! Erfülle Dein Versprechen!
Hügel von Toten wirst Du verschlingen, Meere von Blut trinken. Wem sein Leben etwas gilt, der halte sich fern – wer sterben will, trete Dir entgegen: Du wirst den roten Quell seines Lebens versiegen lassen, wirst es darbringen als Opfergeschenk.
Du bist der Rächer, der sich an Blut berauscht! Ruhm und Preis Dir, oh Schützer des Glaubens, Ruhm und Preis dem Mngon-po!“

Ihre Hände verkrampften sich – und lösten sich wieder. Bitter lachte sie auf.
Wo waren die Raketen des Kombinats? Papierene Pläne in verstaubten Archiven! Wo waren die Abschußbasen am Polarkreis? Verwitterte Fundamente gesprengten Betons! Wo war die Rote Armee – wo war der mächtige starke Arm, der die Genossen schützte, vor dem die Feinde zitterten?!

“PAX!“ sagte sie in eiskaltem Zorn. „PAX – Schützer des Friedens, Hoffnung der Welt! Schützt Du uns? Hilfst Du uns?
Oder hast Du uns nur die Waffen aus der Hand geschlagen, damit wir hilflos und machtlos sind?
PAX – verflucht, dreimal verflucht sollst du sein!”

Und dann – sie wußte selbst nicht, weshalb – verzogen sich ihre Lippen zu einem triumphierenden Lächeln.
„Don!“ murmelte sie. „Don! D – o – n !!!”

Der Lama Tsongpon lächelte nicht mehr, als er ihre ohnmächtig zusammensinkende Gestalt auffing. Seine Augen forschten in ihrem Gesicht
„Don?“ wiederholte er nachdenklich.