As you like it

oder die Sache mit Rosalind

„If I were a woman I would kiss as many of you
as had beards that pleased me,
complexions that liked me,
and breaths that I defied not … „

„Wie es Euch gefällt“, Epilog des Darstellers der Rosalind

Die meisten Sachen sind ganz anders, wenn sie einem selbst passieren.

Wir lagen nach dem Baden wohlig faul in den Liegestühlen auf der Terrasse, und ohne mir viel dabei zu denken sagte ich, mich in der Sonne räkelnd:
„Wie schon wäre doch das Leben ohne die lila Pappel!“

„Ohne wen – ?!“ erkundigte sich Martin befremdet.

„Ohne die lila Pappel – “ wiederholte ich träumerisch, “ – oder wenn Du so willst, die Rosalinde – „

„Liegt die Dir noch immer so im Magen?“ meinte Martin nun mit verständnisvollem Lachen.

„Ach, das Weib geht mir auf den Geist!“ sagte ich grimmig. „Ich sehe ja noch ein, daß sie sich auf der Flucht als Knabe verkleidet – vielleicht fühlt sie sich sicherer so; obwohl – wenn’s so gefährlich ist, als Mädel rumzulaufen: warum läßt sie dann ihre Busenfreundin Celia ruhig weiter in Röcken gehen?“

„Weil die Rosalind ‚more than common tall’ ist – aber die Celia nicht: und gleich zwei so süße Knaben, wo der eine davon noch nicht mal richtig ausgewachsen ist – “ gab Martin zu bedenken.

„Also schön – “ räumte ich ein, „ich bin ja großzügig: laß sie in Hosen rumlaufen, bis sie im Ardenner Wald ist. Aber statt sich da nun, wie ein vernünftiger Mensch, zu freuen, daß sie endlich sicher bei Pappi angekommen ist – und das muß ja das Tagesgespräch bei den Ardenner Schäfern gewesen sein, wenn da ein ausgewachsener Herzog mit seinen Mannen bei ihnen im Wald rumhopst: hatte sich ja sogar schon bis zum Hof rumgesprochen! – also statt hinzugehen und zu sagen: guck Pappi da bin ich – und mein Cousinchen hab ich auch mitgebracht – nee, was macht se: kooft sich ’ne Schäferei!“

„Na ja – is doch ‘ne solide Kapitalanlage – “ wandte Martin realistisch ein, „mit’m abgesagten Herzog als Vater muß das Mädchen ja nu was für ihre Mitgift tun: denn ihr Orlando hat, wie Du Dich bitte erinnern willst, ja ooch nischt außer’m Hemd am Leib!“

„Verteidige die Zicke nich immer!“ ereiferte ich mich – wenn auch nur im Rahmen meiner Ferienstimmung, „das isses ja: nu kommt ihr edler Jüngling auch prompt, hängt schon die Bäume voll Gedichte und geht fast ein vor Liebe – aber sagt das Biest jetzt etwa: na Gottseidank, daß ich wenigstens den schon mal habe – nee, jetzt muß die natürlich erstmal ’ne Schau abziehen, was sie für’n kaltschnauziges Ganymedchen wäre und wie gut sie Verliebte kurieren könnte! Und der Orlando, der Trottel, hält se natürlich ooch brav für ’nen Mann – sogar der Pappi nachher sagt zwar ‚an diesen Hirtenknaben fallen mir – viele verwandte Züge meiner Tochter auf’: aber daß se’s wirklich is, merkt der ooch nich – !“

„Je nuuun – “ hob Martin, wie es seine Art war, zu dozieren an, „gesetzt, Du müßtest jetzt plötzlich nach – na sagen wir, nach Luxemburg fliehen – „

„Warum sollte ich nach Luxemburg fliehen?“ erkundigte ich mich befremdet.

„Meinethalben weil Du Deine Ferienarbeit über die Rosalinde nicht fertighast! Ist doch auch egal – aber: angenommen, in Luxemburg triffst Du jetzt meine Mutter, die auch dorthin emigriert ist – „

“Weil sie auch ihre Arbeit über Rosalinde nich fertiggekriegt hat?“

“ – und dort sitzt ihr also beide in der Bahnhofswirtschaft -“ fuhr er, meinen Einwurf souverän überhörend, fort, „und wie Ihr da so sitzt, betritt eine einheimische Maid in luxemburgischer Landestracht den Wartesaal – „

„Wie ist die luxemburgische Landestracht?“ warf ich ein.

Martin schlug die Augen gen Himmel: „Blau-weiß-rot-gestreift mit Schleifen im Haar – aber läßt Du mich jetzt mein exemplum zuendeführen ohne dauernde unziemliche Unterbrechungen: selbst wenn Euch an dieser Maid nun eine entfernte Ähnlichkeit mit mir auffiele -würdet Ihr deshalb gleich aufspringen und sagen: ach, das ist ja der Martin und hat sich nur verkleidet?!“

„Nein – also das kann man natürlich als Emigrant einer ehrbaren luxemburgischen Maid nicht antun!“ räumte ich ein. „Aber wenn diese Maid sich jetzt an uns ranmacht und große Bogen spuckt, ihr Onkel wäre Zauberer und sie hätte ’ne prima Idee, uns die schlechte Laune zu vertreiben: wir sollten sie mal unseren Martin nennen und ihr ‘ne Liebeserklärung – also vielmehr, ’ne Freundschafts- beziehungsweise Kindschaftserklärung wäre es ja in dem Fall – machen – ?“

„Also das kannst Du nun der Rosalinde wieder nicht übelnehmen: wenn sie ihren Orlando nun schon gerade da hat und zu gern mal was Nettes von ihm hören würde – “ verteidigte Martin die Herzogstochter wieder.

„Aber das konnte sie doch verdammt einfacher haben, wenn sie einfach sagen würde: guck-guck – ich bin ja wirklich die Rosi!“

„Jetzt – “ sagte Martin weise, „kommen wir zum Kern der Sache: was würde Dein guter Orlando, den Du eben schon weislich einen Trottel genannt hast, dann wirklich sagen? Am Herzogshof jedenfalls hat er vor lauter Erschütterung das Maul schonmal überhaupt nicht aufgebracht – jetzt hockt er da ohne Erbteil und Aussichten mit dem verkrachten Herzog im Wald – schwärmt natürlich von seiner Rosalinde, solange sie nicht da ist: aber wenn se jetzt plötzlich leibhaftig vor ihm steht?! Wird er da nich vor lauter Bescheidenheit und Edelmut – siehe Major von Tellheim – auch wieder kein gescheites Wort rausbringen?!“

Ich nickte nachdenklich: „Hm – da ist was dran: Du meinst also, die Rosi kriegt ihre Liebeserklärung überhaupt nur zu hören, weil er sie eben nicht für seine Rosalinde hält – sondern für einen verständnisvollen, aber wildfremden Hirtenknaben, bei dem er sich mal so richtig ausquasseln kann?“ Die Überlegung schien reizvoll – konnte sogar aus dem blöden Rosalinden-Thema noch was werden lassen – „aber: wenn das die allgemeine Regel sein soll, dann müßten sich ja alle Mädchen erstmal als Hirtenknaben verkleiden, damit sie einen Heiratsantrag bekommen – !“

„Na ja – zumindest bekämen sie ihn dann vielleicht oft schneller!“ meinte Martin philosophisch. „Wieder zum exemplum: wenn Du Dich jetzt verliebt hättest – sagen wir, zum Beispiel, in meine Schwester – „

„Was ich aber – ohne was gegen Deine Familie sagen zu wollen – nicht getan habe!“
“ – verliebt hättest, sagte ich: mit wem würdest Du dann eher darüber reden – mit ihr selbst oder einem vertrauten Freund wie mir zum Beispiel?“

„Exemplum appliziert nicht – “ winkte ich ab, „weil Du erstens kein wildfremder Hirtenknabe bist, sondern in dem Fall sogar ihr Bruder – und zweitens ja auch nicht gerade sagen würdest: hasch mich, ich spiel jetzt Deine Rosalinde – oder wie heißt sie, Marion – und werd Dich so von ihr kurieren!“ Ich schüttelte den Kopf. „Aber mal ohne Deine berüchtigten exempla: irgendwas ist da natürlich schon dran … „

Ich lehnte mich in den Liegestuhl zurück und blinzelte in den sommerblauen Himmel:
„Wenn also der Orlando kein Renaissancejüngling wäre und seine Rosi ein Mädel von heute – dann könnte ich den schon verstehen, wenn er nicht richtig wüßte, was er machen soll:
gibt er ihr ’nen Kuß, dann ist sie entrüstet und klebt ihm eine – gibt er ihr k e i n e n Kuß, ist sie beleidigt und nennt ihn ’nen Schlappschwanz – gibt er ihr ’nen Kuß und sie klebt ihm keine: dann kann er entweder weitermachen – und sie sagt, hach sie wäre aber doch nicht s o o eine und klebt ihm dann doch eine, oder sie i s t so eine und sauer, wenn er sich nicht traut: oder sie ist so eine und er traut sich und dann kriegt sie ’n Kind!“

„Kompliziert – !“ räumte Martin ein.

„Ach – das wäre überhaupt nicht kompliziert, wenn die bloß ehrlich sagen würden, was sie eigentlich wollen oder nicht wollen! Aber dieses verdammte ‚hach ich will nicht’ wenn sie eigentlich wollen und „huch ich wollte schon“ wenn sie in Wirklichkeit über- haupt nicht wollen: und sowas soll man dann heiraten? Damit ihr hinterher vielleicht einfallt, daß sie das genau genommen auch gar nicht richtig wollte – möglichst, wenn sie schon ein Kind kriegt?“

„Na ja – vielleicht w i s s e n sie aber tatsachlich nicht, was sie selber wirklich wollen: und erwarten, daß D u das eben für sie weißt ?“

„Na prima – “ ich wurde jetzt richtig sarkastisch, „Giacomo Hempelmeier-Casanova, der Frauenkenner in der Westentasche! Und bei wem – mit Verlaub gesagt – soll ich das erst mal l e r n e n, damit ich’s dann bei den Mädchen weiß ? Bei ’ner Nutte für 5 Mark an der Straßenecke die weibliche Seele studieren ?“

„Oder bei ’nem Hirtenknaben in den Ardennen – “ warf Martin sachlich ein, „der kriegt wenigstens mit Sicherheit kein Kind davon!“

Ich richtete mich halb auf:
„Moment – meinst Du jetzt, der Orlando ist in Wirklichkeit schwul?!”

„Schwul – fool – “ machte Martin geringschätzig. „Was ich meine, ist: da kann er doch endlich mal ü b e n – wie Du das so schön sagst – da hat er ’nen netten Jungen, sieht sogar seiner Rosi ’n bißchen ähnlich, ist aber gottseidank kein Mädchen, wo alles so kompliziert ist (denkt der Orlando wenigstens): und damit er sich dabei nun auch nicht etwa im Traum für schwul h a 1 t e n konnte, hat ihm der Bubi ja die schönste Entschuldigung geliefert: er s p i e I t ja bloß die Rosalinde – beide wissen ja, daß er keine ist – und dies auch noch zu dem ausdrücklichen Behufe, ihm die Liebe zur Rosi abzugewöhnen- „

“ – was natürlich bloß gerade nicht stimmt: denn sie i s t es ja – und den Teufel will sie ihm seine Verliebtheit abgewöhnen!“

„Das – “ winkte Martin ab, „ist die Story von der Rosi – aber wir sind jetzt beim Orlando: und der ist doch in d e r Situation (wie sagt man?) na also endlich mal so richtig enthemmt: hier kann er mal endlich nix verkehrt machen – und selbst wenn er was verkehrt macht, schadets auch nichts, weil er ja bloß so t u t als ob – aber natürlich genau das, was er gern alles wirklich täte – – – „

„Hm – “ nickte ich nachdenklich, „s o gesehen ist so’n Hirtenknabe natürlich wirklich ganz praktisch – !“

“ – während nun wieder die Rosi, um auf die zurückzukommen, nach Herzenslust das alte Spiel „ich wollte schon – aber ich will gar nicht“ spielen kann, das die Mädchen nun mal so gern haben: aber ohne Gefahr, daß sie ihren Orlando damit wirklich durcheinanderbringt – denn das tut ja gar nicht sie, sondern bloß ein Hirtenknabe, der die Rosalinde nachmachen will!“ stellte er befriedigt fest. „Große praktische Psychologin, die Rosi!“

Er lehnte sich jetzt seinerseits in seinem Liegestuhl zurück und schaute in die Luft.
„He – das ist übrigens auch der Grund !“ sagte er plötzlich.

„Welcher Grund nun schon wieder ?“ fragte ich mißtrauisch.

„Der Grund, daß Du auf die Rosi so sauer bist!“

„Wieso – weil sie eine große Psychologin ist ?“

„Weil sie – “ sagte Martin langsam, ohne den Blick vom blauen Himmel zu wenden, „Deine Probleme im Umgang mit Mädchen erstklassig lösen würde – aber leider bloß eine Figur bei Shakespeare ist und kein wirkliches Mädchen! Und das ist nun wahrscheinlich auch der Grund – „

“ – noch’n Grund – ?!“ sagte ich resigniert.

“ – daß der Alte ausgerechnet Dir ausgerechnet dieses Thema aufgehängt hat !“ fuhr er, noch immer ins Blaue starrend, fort. Und nach einer kleinen Pause: „Bei dem hat nämlich das meiste, was er tut, noch ’nen doppelten Boden – „

Ich schwieg und war ganz zufrieden, daß Martin noch immer voll mit dem blauen Sommerhimmel beschäftigt schien: es ist immer ein bißchen ein komisches Gefühl, wenn man mitten in einer scheinbar ganz harmlosen Diskussion über was völlig entlegenes feststellt, daß man in Wirklichkeit seine ganz persönlichen Probleme diskutiert hat …

Nicht, daß ich Martin übelnahm, wenn er das plötzlich zutage gebracht hatte: ich hatte schon öfter das Gefühl gehabt, daß er mich eigentlich besser kannte, als ich mich selber. Aber seine letzte Vermutung, daß sogar der „Alte“ – der scheinbar ohne jede Ahnung von uns durch die Welt der Literatur wandelte – diese meine Probleme durchschaut haben sollte: und sich deswegen eigens ein spezielles Ferienthema für mich einfallen lassen hätte ?

„Was hat er D i r denn für’n Thema gegeben ?“ fragte ich Martin leichthin.

„Mir ?“ Er zögerte einen Moment fast unmerklich. „Der Widerspenstigen Zähmung!“ sagte er dann.

„Na das läßt dann aber auch tief blicken: hast Du so ’nen verdrängten Wunsch, Kätchens zu quälen ?“ gab ich mit etwas unsicherem Spott zurück; irgendwie hatte ich das Gefühl, daß wir uns auf zu dünnem Eis bewegten – – –

„Kätchen – Schnädchen !“ sagte er wegwerfend. „Nicht das Stück – sondern das Vorspiel!“

„Das mit dem besoffenen Kesselflicker und dem Lord ?“

„Eben dieses !“ Wieder schwiegen wir eine ganze Weile, bis Martin schließlich anfing, wie in die Luft zu sprechen:
„Und wenn es Dich beruhigt – mir ist mein Thema genauso auf die Nerven gegangen wie Dir Deine Rosalinde!

Das ist nämlich – wenn Du Dir’s genau betrachtest – eigentlich eine echte Horrorstory,

Stell Dir vor: Du hast also irgendwo einen zuviel gehoben und Dich irgendwohin verdrückt, um Deinen Rausch auszuschlafen. Aber wie Du wach wirst, liegst Du nicht etwa in Deiner stillen Ecke – sondern in einem Prunkbett in einem stinkvornehmen Schloß, und ein Haufen Leute steht um Dich herum und begrüßt Dich als „Eure Lordschaft’. Natürlich sagst Du , was soll der Quatsch, ich bin der Franz Hempelmeier und will nach Hause – aber die sagen alle bloß betroffen ‚ach Himmel, jetzt fangen seine Wahnvorstellungen wieder an!‘ und reden mit Engelszungen auf Dich ein, Du wärst doch der Lord von Dingsendale, und Weib und Troß und Englands ganzer Adel wären tieferschüttert, daß Du Dich für den simplen Hempelmeier hieltest – jahrelang nun schon – wo doch in Wirklichkeit die ganze Herrlichkeit der Welt auf Dich wartete: vom Rolls Royce bis zum Aufsichtsratsposten und vom Privatflugzeug bis zum Oberhaussitz – ganz zu schweigen von Deiner schönen Frau, die sich seit Jahren die Augen ausheulte wegen Deiner Erkrankung!

Natürlich protestierst Du immer noch, das müsse ja ein Irrtum sein, Du wärst der Hempelmeier – aber nein, sagen sie, und holen drei Psychiater und ein Dutzend Anwälte, die Dir bestätigen, natürlich hättest Du während Deiner Krankheit immer tolles Zeug ge redet, von Ferienaufsätzen über Rosalind und ’nem Freund namens Martin und der Zwischenprüfung im Herbst: aber Du wärst ja nun eben der Lord Dingsendale, wie jeder bestätigen könne – solche Fälle kämen eben schon vor, aber jetzt wärst Du ja endlich wieder normal – und da kommt zu allem Überfluß auch noch Dein bildschönes Weib und fällt Dir schluchzend vor Glück um den Hals – na und da glaubst Du’s nun schließlich endlich, nicht wahr?

Aber in Wirklichkeit steht die ganze Zeit der echte Lord Dingsendale dabei und biegt sich innerlich vor Lachen, weil Du natürlich in Wirklichkeit doch bloß der Hempelmeier bist – und Dein bildschönes Weib, mit dem Du da so zärtlich rumknutschst, bloß sein Page Barthol’mew, den sie als Lady aufgeputzt haben mit ’ner Zwiebel im Taschentuch, damit er auch schön echt heulen kann!“

Er hieb mit der Faust auf die Lehne des Liegestuhls;
„Wenn das nicht die verdammteste und niederträchtigste und entwürdigendste Sauerei ist, die man mit einem Menschen aufstellen kann – und warum ? Weil der Herr Lord sich mal amüsieren will, der Gentleman! Und da kommt ihm natürlich so ’n niederes Wesen wie der Hempelmeier gerade recht – der hat ja keine Gefühle, auf die man Rücksicht nehmen müßte, der hat ja keinen Anspruch auf ’n bißchen ‚Fairneß’ (die ist nur für Lords und weiter aufwärts reserviert), der ist nur ’n ‚monstrous beast – how like a swine he lies!“ und natürlich Freiwild für ’nen Lord – ‚to p r a c t i s e on this drunken man’ ! Und das gibt mir der Alte als Ferienthema – süß , nich ?“

Er hatte sich einigermaßen in Feuer geredet – aber dann lehnte er sich wieder zurück und fuhr leiser fort:
„Aber das schlimmste ist – natürlich hat das Ganze irgendwo seine Faszination; vielleicht gerade weil es so schäbig und so unwürdig und so – “ er zuckte die Achseln , „wwrrä ist: genau wie ’ne Gruselgeschichte ja auch erst dann richtig gut ist, wenn man eigentlich möchte, daß sie endlich aufhören sollte – und doch immer weiter zuhört, trotzdem ja höchstens noch was Schlimmeres kommen kann – „

Er räkelte sich im Liegestuhl zurecht:
„Da haste natürlich erstmal das Problem – was ist ‚Realität‘ ? Wenn alle Leute Dir sagen, Du wärst gar nicht der Hempelmeier – sondern, ach ich weiß nicht, der Sohn vom Dalai Lama: wie lang hältst Du dann durch? Ich meine: schließlich b i s t Du ja ‚der Hempelmeier’ nicht nach irgendeinem Naturgesetz – sondern bloß, weil alle Leute Dich so nennen; und wenn sie damit ebenso einstimmig plötzlich aufhören und Dich jetzt Lord Dingsendale oder Dalai Lama junior nennen – mußt Du da nicht mitmachen ?

B i s t Du es dann nicht vielleicht sogar wirklich – wen sollst Du denn fragen, wer Du wirklich bist, wenn sich alle verschworen haben, Dir was anderes zu sagen ? Und das gilt natürlich nicht bloß für den Hempelmeier – sondern genau so für alles andere: weißt Du, ob es den Mount Everest wirklich gibt ? Du warst noch nicht da – und ich war noch nicht da – wir glaubens doch beide bloß, weil alle Leute uns das erzählen – „

„Hm – consensus omnium – “ murmelte ich weise.

„Ja – damit geht’s aber weiter: wenn Du noch nicht mal weißt, ob es den Mount Everest gibt – woher weißt Du dann, daß es sowas wie ‚Menschenwürde‘ gibt? Die ist doch bestimmt erst recht ein consensus omnium – und wenn sich nun, wie bei unserem Lord, alle darüber einig zu sein scheinen, daß der Kesselflicker gar kein Anrecht auf Menschenwürde hat: wo bist Du denn dann mit Deinen edlen Gefühlen? Vielleicht auch bloß auf einen Jux von seiner Lordschaft reingefallen, der da ein paar Phrasen als Ideale aufgeputzt hat – nebst Zwiebel für Rührungstränen im Spitzentaschentuch ?!“

„Oh Mann – gehst Du aber ran !“ sagte ich erschüttert. „Aber der olle Shakespeare hat doch bestimmt keine solche Generalattacke auf Realität und Menschenwürde im Sinn gehabt, als er dieses Vorspiel schrieb ?!“

„W a s der Gute – “ erwiderte Martin resigniert, „dabei wirklich im Sinn gehabt hat, weiß der Himmel – ich weiß es jedenfalls nicht: einen gescheiten Sinn als Auftakt für das wirkliche Stück hat das Ganze kaum – natürlich, da kommen Schauspieler, und da der Page aus naheliegenden Gründen mit seinem ‚Gatten‘ nicht ins Bett gehen kann, schauen sie sich erstmal ’n Theaterstück an: aber schließlich macht der olle Shakespeare sonst nie so’n Umtrieb, bloß damit er mit’m Stück anfangen kann – das kannste ja wahrhaftig auch spielen, indem Du gleich aufm Platz in Padua beginnst – und am Schluß sind der Lord und Kesselflicker und Page sowieso alle abhanden gekommen und kein Mensch erfährt mehr, was mit ihnen passiert ist! Halt dagegen mal die Schauspieler und ihre Aufführung im ‚Hamlet‘ – was er da alles aus dem Doppelspiel rausholt! – und Du wirst regelrecht melancholisch … „

„Das ist doch überhaupt das einzige Vorspiel – also so als Rahmenhandlung – das es bei Shakespeare gibt, wenn ich mich recht entsinne ?“ fragte ich.

Martin nickte. „Und übrigens auch die einzige Stelle, wo er mit ’nem Knaben in Damenkleidung operiert – wenn Du mal das bißchen Feenspielen in den „Lustigen Weibern‘ wegläßt, wo die Freier statt der Anne ’n paar Jungens erwischen – während er Mädchen in Knabentracht mit allen Komplikationen verwendet – ob Du nun Deine Rosi hernimmst oder die Viola; denen passiert so beinahe alles, was an dramatischen Verwicklungen einem Mädchen in Hosen überhaupt passieren kann! – jetzt hat er hier mal das umgekehrte: und was macht er damit – nischt!“

„Na ja – “ gab ich zu bedenken, „nun war das ja zu Shakespeares Zeiten auch nicht der große Gag wie meinetwegen in ‚Charleys Tante’ später oder so: wenn sowieso alle Frauenrollen von Männern gespielt wurden – „

„Woll, woll – “ machte Martin, „aber in dem Vorspiel wühlen ja nun alle richtig mit Begeisterung in dem Thema: wie traurig die Lady wäre und wie schön die Lady wäre und wie er der Lady im Bett gefehlt hätte und daß der Arzt leider geraten hätte, sie solle noch nicht gleich bei ihm schlafen – während der gute Lord ja nun extra angeordnet hat, man soll all seine „wanton pictures“ rund um den armen Sly aufhängen, um ihn recht aufzugeilen, und sich schon vorher freut, wie der Page mit „kind embracements“ und mit „tempting kisses“ auf ihn losgehen soll und wie prima er ‚grace, voice, gait and action of a gentlewoman’ markieren wird, wenn der gute Lord ihm zu.verstehen gibt, das müsse er ‚as he will win my love‘ – wirft übrigens ganz lustige Seitenlichter auf die Funktion von Pagen bei ollen Lords, was ? – aber nachdem sich alle da so regelrecht besoffen drüber geredet haben: da passiert am Ende garnischt – nee, se gucken Fernsehen zusammen, oder vielmehr Theater, weils damals ja noch kein Fernsehn gab ! “ Er zuckte die Achseln.
„Hm – vielleicht überläßt der olle Avonschwan den Rest der schmutzigen Phantasie des Zuschauers ?“ vermutete ich. „Weil der sich vielleicht Sachen ausmalt, die man auf der Bühne garnich zeigen kann ?“

„Na das war aber ’ne prima Methode: spiel’n wir den Hamlet bloß, bis der Geist kommt – und dann darf sich jeder ausmalen, wie’s weitergeht – auf der Bühne führ’n wir inzwischen lieber ’n bißchen Othello auf, oder Richard III. ?“ protestierte Martin. „Aus- serdem hat er’s ja mit der Rosi oder der Viola ooch geschafft, ohne nun gleich ’ne Lesbenshow vorzuführ’n – also warum sollte er nu bei dem kleenen Pagen auf einmal keene salonfähige Idee mehr gehabt haben – ?!“

„Schön – also was hättst’n Du zum Beispiel an Shakespeares Stelle weiter passieren lassen ?!“ fragte ich – und als Martin nicht antwortete, fuhr ich auf einmal inspiriert fort: „Das isses ja vielleicht gerade, weshalb der Alte Dir das Thema aufgehängt hat!“

„Wieso – ?“ fragte diesmal Martin mit spürbarer Zurückhaltung.

„Nun – “ erklärte ich befriedigt, „Du hast mir vorhin so schön auseinandergesetzt, warum ich mit der Rosalinde nicht klargekommen wäre – und welch profunde Menschenkenntnis das beim Alten bewiese: jetzt hast aber D u auch ’n Thema, mit dem Du vorn und hinten nicht klarkommst – also, schließe ich, wollte der Alte damit eben auch ’n psychologisches Problem von Dir ansprechen!“

„‚Du sprichst klüger, als Du es selbst gewähr wirst – ‚“ zitierte Martin, noch immer seltsam zurückhaltend. „Aber weiter – ?“

Hm – weiter ? Das wurde mir ein bißchen unheimlich – so detailliert war meine Inspiration ja nun gar nicht gewesen! – aber nun konnte ich mich ja der Verpflichtung, sie weiter auszuspinnen, schlecht entziehen:
„Wenn wir mal von der Hypothese ausgehen – “ tastete ich mich vorsichtig weiter, „daß mich also die Rosalinde/Orlando-Geschichte nervös gemacht hat, weil sie etwas widerspiegelt, was ich eigentlich gern erleben würde, weil dabei ein Problem ausgeräumt wäre, das mich sonst im Umgang mit Mädchen hemmt – so war das doch, nicht wahr? – dann müßte Dich also dieses Vorspiel nervös machen, weil es etwas widerspiegelt, das D u eigentlich gern erleben würdest – “ Ich stockte.

“ – weil dabei ein Problem ausgeräumt wäre ‚- ?“ fuhr Martin für mich fort und sah mich forschend an.

“ – das Dich sonst im Umgang mit – Mädchen ?“ Ich stockte wieder, „- nee, es sind ja überhaupt keine Mädchen dabei – es sind ja alles bloß lauter Männer – „

„Also: das mich sonst im Umgang mit Männern hemmt!“ ergänzte Martin sachlich.

Das wäre ja wohl die logische Folgerung!“

„N’ – jaa – “ sagte ich etwas hilflos und guckte ihn an; das war anscheinend keine besonders glückliche Inspiration gewesen, die ich da gehabt hatte – ?

„Aber bitte weiter, Herr Analytiker !“ sagte Martin scheinbar leichthin – aber doch seltsam unerbittlich. „Im Falle Rosalind wurde das Problem offenbar dadurch ausgeräumt, daß sich ein Mädchen als Mann verkleidet hatte und dadurch nicht mehr an seine konventionelle Rolle gebunden war – „

“ – während sich hier ein Kesselflicker für einen Lord hält und dadurch – “
versuchte ich, nun schon einigermaßen krampfhaft, die Situation zu retten.

„Komm schon – sooo blöd bist Du doch in Wirklichkeit gar nicht!“ unterbrach mich Martin unwillig.

„N-nein“- “ sagte ich langsam und hatte auf einmal wieder sehr viel Lust, in den blauen Himmel zu gucken. Aber zugleich hatte ich auch das Gefühl, daß das jetzt nicht das Richtige wäre…

„Aber – das ist doch alles höherer Blödsinn!“ sagte ich und sprang aus dem Liegestuhl auf. „Wenn Du den geheimen Wunsch hast, als schöne Lady Männer zu umgarnen – und ich den geheimen Wunsch, mit ’nem Hirtenknaben rumzuturteln, der ’ne schöne Lady ist – “ ich suchte etwas hilflos nach Worten, um auszudrücken, wie absurd das sei – aber was ich wirklich sagte, war merkwürdigerweise: “ – dann können wir uns ja gleich zusammentun – !“

„Vielleicht – “ sagte Martin leise, „sollten wir genau das tun.“

Ich fuhr herum und starrte ihn an – aber jetzt schaute er seinerseits wieder in den Sommerhimmel und fuhr wie beiläufig fort:
„Psychodrama – kennst Du doch: Moreno ? – ist eine Methode, innere Konflikte abzubauen, indem man sie mit verteilten Rollen ausspielt; ausspielt im vollen Bewußtsein, daß man sie nur spielt und daß man sie deshalb dabei überhaupt nicht so tierisch ernst nehmen muß, wie man das sonst immer tut Da geht die Welt nicht unter, wenn man was ‚verkehrt’ macht – sondern man sagt bloß ‚halt, zurück, Szene nocheinmal‘ – na ja, wir haben den ganzen Kram ja vorhin schon bei Deiner Rosi lang und breit durchgekaut … „

Hmmm – das war alles so unfaßbar, daß es irgendwo schon wieder einleuchtend war – – –

Aber jedenfalls, hatte ich das Gefühl, mußte ich jetzt etwas sagen.
„Also schön: Theorie – klar“, meinte ich mit gemachter Forschheit, „aber wie soll das jetzt praktisch vor sich gehen ? Ich meine, hängen wir jetzt ein Schild auf ‚dies ist der Ardenner Wald’ – „

“ – um Mitternacht – ein Pionier steht auf der Wacht – “ setzte Martin, zwar nicht ganz korrekt, aber offenbar nicht unglücklich über die komische Wendung, fort.

“ – und denket an sein fernes Lieb – ob’s ihm auch treu und hold verblieb – “ fiel ich ein.

“ – nur daß das Lieb in diesem Fall gar nicht fern ist – “ korrigierte Martin.

“ – sondern zumindest vertretungsweise erscheint – nickte ich.

“ – in all suits dressed like a lady – “ ergänzte er.

„W a s ?!“ sagte ich einigermaßen entgeistert.

„Na ja – “ meinte Martin leichthin, „meine Schwester ist ja verreist – und die Sachen passen mir ja – „

Ich muß wohl noch immer ein ziemlich seltsames Gesicht gemacht haben. Denn als jetzt auch Martin aufstand, sagte er wie beiläufig:
„Vielleicht sollten wir es auch lieber lassen,“

Wieder hatte ich das etwas unheimliche Gefühl, alles verkehrt zu machen.

„Also was nun: rin in die Kartoffeln – raus aus die Kartoffeln – “ knurrte ich betont unwirsch, „vielleicht werfen wir’n Groschen ?“

Martin stutzte und schaute mich einen Moment lang nachdenklich an.

„Das ist vielleicht gar keine schlechte Idee – “ sagte er dann langsam und holte sein Portemonnaie heraus.

„Wir werfen jetzt diesen Groschen – oder vielmehr dieses Fünfzigpfennigstück. Fällt Zahl, dann setzen wir uns hin und lösen dieses finstere Gleichungssystem mit den fünf Unbekannten – und vergessen Shakespeare und alles andere.
Fällt dagegen – “ er drehte die Münze um, “ diese keusche Maid mit dem Eichenboom in der Hand, dann löst Du das System mit den fünf Unbekannten allein, während ich – etwas anderes vorhabe. O.K* ?“

Ich nickte. Martin schnippte das Fünfzigpfennigstück in die Luft. Es landete auf dem Steinboden der Terrasse, hüpfte klirrend noch ein paarmal weiter und kam dann langsam, noch immer sirrend auf der Kante kreisend, zur Ruhe.

Aber wir hatten beide schon gesehen: die Maid lag oben.


Die meisten Sachen sind – wie ich anfangs schon mal sagte – ganz anders, wenn sie einem selbst passieren.

Wahrscheinlich wäre es höchst eindrucksvoll und würde auch den Erwartungen eines Lesers viel mehr entsprechen, wenn ich jetzt berichten könnte, wie ich die nächste Stunde mit Herzklopfen, düsteren Vorahnungen oder Zweifeln, flauem Gefühl in der Magengrube oder sonstwie dramatisch verbracht hätte.

Nur war es überhaupt nicht so. Ein System linearer Gleichungen mit fünf Unbekannten nach dem verketteten Gaußschen Algorithmus zu lösen ist etwas, was man nicht mit Herzklopfen oder düsteren Zweifeln kombinieren kann – selbst wenn man, wie ich, eine elektrische Rechenmaschine zur Verfügung hatte, ist man vollauf mit den ganzen kumulierten Produktsummen beschäftigt: oder wenn man es nicht ist, löst man das Gleichungssystem eben nie.

Da aber die Gleichungen eben bis Montag gelöst werden mußten, verzichtete ich auf Herzklopfen und Zweifel und konzentrierte mich lieber auf die Rechnerei.

Zugegeben: wahrscheinlich gar nicht ungern.

Ich weiß das zwar nicht – aber vermutlich hat jeder in meinem Alter mal über Homosexualität nachgedacht. Mit Abscheu oder mit großzügiger Toleranz oder mit uneingestandener Faszination – aber jedenfalls ist es wohl kein Thema, auf das man nicht irgendwann mal stößt: ob nun via Platos Gastmahl, die Römer der Verfallszeit oder irgendeine aktuelle Tuschelaffaire. Und – das weiß ich zwar wieder nicht, aber ich könnte es mir gut vorstellen – wahrscheinlich hat sich auch jeder schon mal überlegt, was e r eigentlich tun würde, wenn ihm jemand einen homoerotischen Antrag machte?

Ich jedenfalls hatte das alles bestimmt schon einmal getan – nur: alles, was ich mir da vielleicht einmal so überlegt hatte, paßte ja doch überhaupt nicht zu der jetzigen Situation Weder paßte mein Freund Martin in die Rolle eines schwulen Lüstlings oder süßlichen Lustknaben – noch sein nüchtern-sachliches „Vielleicht sollten wir genau das tun“ zu meiner Vorstellung von einem „homoerotischen Antrag“

…[Hach Gott – an der Stelle bricht, wie bei mir üblich, das Fragment natürlich mal wieder ab! Ich weiß noch, daß ich durchaus mit dem nächsten Kapitel begonnen habe: aber ärgerlicherweise mit einem meiner ersten Textverarbeitungs-Systeme auf einem vorsteinzeitichen Computer – noch unter CPM oder sowas – dessen Diskette abhanden gekommen ist, aber heutzutage sowieso nicht mehr gelesen werden könnte … ]